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Den Krieg denken

Published on
Author
Joshua Lehmann
Tag
Geopolitics

Einer der meistgefragten Experten zum Ukrainekrieg hat ein Buch darüber geschrieben, warum wir aus unserem komfortablen Dornröschenschlaf zum Thema Krieg aufwachen sollten. Joshua Lehman hat „Die Rückkehr des Krieges – Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen“ von Franz-Stefan Gady gelesen.

Die Covid-Pandemie bescherte uns die Viren-Erklärer – Wissenschaftler und Politiker (beinahe ausschließlich Männer), die vorher außerhalb des eigenen Fachbereichs kaum jemand kannte, die jedoch spätestens ab dem ersten Lockdown in sämtlichen Talk-Shows saßen und kurz darauf auch in Bahnhofsbuchhandlungen von den Einbänden blickten. Seit Februar 2022 haben wir nun die Kriegs-Erklärerinnen und -Erklärer, die im Fernsehen, Radio, Podcasts, Zeitungen und Büchern versuchen, uns das Unfaßbare näher zu bringen: Das „Chamäleon“ Krieg, wie schon der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz die Unbestimmtheit und Wandelbarkeit des Krieges beschrieb.

Krieg auf einmal wieder vor der Haustür

Neben Major, Masala und Mölling ist Franz-Stefan Gady, Militäranalyst, Politikberater und Reserveoffizier im österreichischen Bundesheer, einer der meistgefragten Experten zum Krieg in der Ukraine, nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Forschungsreisen an die Frontlinie. Fast drei Jahre nach Rußlands Vollinvasion hat Gady nun seine Gedanken zu Krieg und Kriegsführung in Gegenwart und Zukunft auf 365 Seiten niedergeschrieben. Der Titel des Buches sollte jedoch nicht mißverstanden werden. Gady behauptet nicht, der Krieg sei je weg gewesen. Man hat ihn nur im wohlbehüteten Europa nicht so sehr gespürt wie anderswo. Gadys Buch verfolgt daher eher, was der Untertitel („Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen“) bereits andeutet, nämlich die Beschäftigung mit dem menschlichen Phänomen des Krieges aus den Think Tanks, Ministerien und Kasernen hinaus in die Welt zu tragen.

Die deutsche Bevölkerung hat das 21. Jahrhundert mit einem ausgeprägten Desinteresse und Unbehagen gegenüber allem verbracht, was auch nur annähernd nach Krieg schmeckt, riecht oder aussieht. Durch alle Gesellschaftsbereiche, ja sogar bis hinein ins Kanzleramt, träumte Deutschland den „gerechten Traum von einer Welt ohne Krieg“, wie Gady schreibt. Ein „sicherheitspolitischer Dornröschenschlaf“, aus dem Wladimir Putin ein jähes Erwachen bereitet hat. Auf einmal scheint die Nutzung militärischer Macht für die Durchsetzung nationaler Interessen medial allgegenwärtig, ob über die Ukraine, den Nahen Osten oder das Südchinesische Meer berichtet wird. Das macht eine informierte, sachliche Diskussion von Sicherheits- und Verteidigungspolitik, von Streitkräften und ihrer Einsatzbereitschaft sowie von Bedrohungsszenarien und wie man ihnen begegnen kann, umso wichtiger. Dazu leistet Gady einen wichtigen Beitrag.

Warum Krieg?

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Warum Kriege wahrscheinlicher werden, was die Grundprinzipien von Krieg und Kriegsführung sind und wie sie zukünftig aussehen könnten. Die Gliederung entspricht dabei in etwa dem Gedankenprozeß vor dem heimischen Fernseher: „Warum wird nur noch über Kriege berichtet, was passiert da eigentlich und könnte das irgendwann auch mich betreffen?“

Auf die Frage, warum Menschen Krieg führen und warum dies zukünftig wahrscheinlicher wird, liefert Gady ein ganzes Repertoire an Antworten. So sieht der Autor Fehleinschätzungen von Entscheidungsträgern als eine der häufigsten Kriegsursachen, begründet in der Komplexität zwischenstaatlichen Handelns und dem Unvermögen, sich in potenzielle Gegner hineinzuversetzen. Auch Hybris, Fatalismus, Furcht oder Eigennutz werden von Gady als mögliche Kriegsgründe angeführt, selbst wenn ein bewaffneter Konflikt nach rationaler Betrachtung dem nationalen Interesse widerspricht – siehe Wladimir Putin.

Krieg als bewusste politische Entscheidung

Der zweite Teil des Buches ist eine Abhandlung über die allgemeinen Grundprinzipien des Krieges und die sich ständig wandelnde Kriegsführung. Dabei nimmt Gady den Leser immer wieder mit auf das moderne Schlachtfeld und zeigt, wie sich das Abstrakte dort im Konkreten wiederfindet, wie also das Kriegshandwerk von Geographie, Ressourcen, Technologie und anderen Faktoren bestimmt wird. Der Autor basiert seine generellen Ausführungen wesentlich auf denen von Carl von Clausewitz, dem vielzitierten, oft mißverstandenen Phrasenlieferanten für militärisch Interessierte. Gady erinnert uns zum Beispiel daran, daß Kriege keine Naturphänomene sind, sondern bewusste politische Entscheidungen. Kriege brechen nicht einfach aus, Menschen entscheiden sich für sie. Darum, so Gady, sei kein Krieg unausweichlich. Wenn jedoch die Entscheidung für Krieg gefallen ist, ist er immer ein gewaltvoller und grausamer Akt, um dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen. Der Annahme (oder Hoffnung?), Cyberattacken, Roboter, Sabotage und Desinformationskampagnen könnten Kriege zukünftig unblutiger machen, widerspricht der Autor entschieden. Krieg heißt auch im Zeitalter Künstlicher Intelligenz weiterhin Leid, Tod und Zerstörung.

Zukünftige Kriege

Im dritten Teil bespricht der Autor die für ihn zukünftig wahrscheinlichsten Konflikttypen und Bedrohungsszenarien, allen voran die Möglichkeit eines gleichzeitigen Konflikts zwischen Russland und der NATO in Europa und zwischen China und den Vereinigten Staaten in Ostasien. Gady sieht daher Deutschland in einer besonderen Rolle, das als wirtschaftlich stärkstes europäisches Land einen signifikanten Beitrag zur militärischen Abschreckung leisten müsse, insbesondere wenn die Vereinigten Staaten im Pazifik gebunden wären. Deutschland müsse, so Gady, im Ernstfall gewillt und bereit sein, „mit aller Kraft gegen Rußland ins Feld zu ziehen.“ Das, so weiß der Leser mittlerweile, ginge nur mit einer einsatzbereiten Bundeswehr – die Schwarze Null läßt grüßen.

Krieg in all seinen Facetten

Gady bleibt in seinen Erklärungen betont niedrigschwellig, vermeidet Fachsimpelei und nutzt Sportmetaphern, Filmreferenzen und historische Beispiele vom Peloponnesischen bis hin zum Afghanistankrieg, um die komplexe Thematik des Buches besser verständlich zu machen. Auch berichtet der Autor in kleinen Exkursen von eigenen Erfahrungen aus Afghanistan oder der Ukraine. Diese persönlichen Noten erinnern daran, dass auch der kühle Militäranalyst letztendlich nur ein Mensch ist.

Manchmal ist es aber doch auch etwas zu viel. Konzepte und Prinzipien, Kriege, Schlachten, Feldherren und technische Details wechseln von Seite zu Seite und können insbesondere Leser, die neu in der Thematik sind, überwältigen. Im Mittelteil ist das Buch manchmal zu technisch, im letzten Teil zu detailreich. Während das Zählen und Vergleichen von Panzern für manche sicherlich interessant ist – für Gady gehört es zur Berufsbeschreibung – ist es für die meisten Leser doch unerheblich.

Dennoch gelingt Gadys Rundumschlag. Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Krieges, seine Prinzipien und konkreten Ausprägungen, werden vom Autor in allen Facetten beleuchtet: Politisch, soziologisch, ethisch, kulturell, historisch und militärisch. Gady liefert dabei nicht ein kleines Erklärbuch, sondern ein umfassendes Werk, dass es dem Leser nach eingehender Lektüre erlaubt, Kriege besser zu verstehen und einen Umgang mit ihnen zu finden. Seinen englischen (Mike Martin: „How to Fight a War“, 2023) und französischen (Olivier Schmitt: „Préparer la guerre“, 2024) Pendants steht Gadys Buch dabei in nichts nach.

Deutschland im Dornröschenschlaf

In Deutschland ist auch heute noch ein Trittbrettfahrer-Pazifismus zu beobachten. Ein Pazifismus, wie Gady argumentiert, der nur existieren kann, weil die Drecksarbeit des Krieges und der militärischen Abschreckung von anderen verrichtet wird. Dieses explizit deutsche Phänomen nutzt die Vorzüge der Demokratie, um ebendas zu verteufeln, was Freiheit in Europa erst möglich gemacht hat: Militärische Stärke gegenüber denen, die diese Werte und Errungenschaften zunichte machen wollen. Wenn man jedoch der Überzeugung ist, dass dieses Europa zur Not auch militärisch verteidigt werden sollte, dann ist glaubhafte Abschreckung von potentiellen Aggressoren durch schlagkräftige, einsatzbereite Streitkräfte alternativlos, so Gady. Auch wenn dieser Grundsatz für manche eine Binse sein mag, so scheint der Dornröschenschlaf in einigen Teilen der politischen Landschaft in Deutschland noch nicht vorbei zu sein. Auch darum ist der Untertitel des Buches so passend: Gady möchte Kriege nicht gutheißen oder beschönigen. Ganz im Gegenteil, er fordert die gesellschaftliche Fähigkeit, Kriege als möglich wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, gerade um sie, im besten Falle, nicht führen zu müssen.

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