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Auswege aus der deutschen Strategielosigkeit: Ziele, Wege und Mittel

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Author
Joshua Lehmann

Die Abbildungen von Spielbäumen in diesem Essay wurden mit dem Game Theory Explorer erstellt.

Tag
Geopolitics

Deutschland fehlt das Handwerkszeug, um die Krisen und Konflikte der Gegenwart und Zukunft zu bewältigen. Die Prinzipien und Lehren der Spieltheorie wären ein Anfang, unsere Strategielosigkeit zu überwinden, schreibt Joshua Lehmann.

Die Welt schlittert von Konflikt zu Konflikt und Zukunftsvisionen von chinesischem Expansionismus, iranischen Nuklearwaffen oder russischer Aggression gegen das Baltikum zeichnen ein noch düstereres Bild der nächsten Jahrzehnte. Bisher hat die Bundesrepublik im Umgang mit geopolitischen Krisen nicht geglänzt. Von der Früherkennung bis zur Nachsorge ist Deutschland zu spät, macht zu wenig und setzt die falschen Prioritäten. Es mangelt an Voraussicht, an der Formulierung klarer Positionen und an entschiedenem Handeln. Kurzum, Deutschland mangelt es an Strategie.

Doch woran liegt das? Verschiedene Autor*innen haben unter anderem kulturelle, institutionelle oder personelle Begründungen für die deutsche Strategielosigkeit angeführt. Was ihre Thesen verbindet ist das deutsche Unvermögen – oder fahrlässige Versäumnis – Geopolitik als ein wirres Gemenge widerläufiger, teils unvereinbarer Interessenskonflikte zu begreifen, in dem knallharte Fragen der Macht, nicht Wünsche und Werte, das Handeln bestimmen. Um für eine raue Zukunft gewappnet zu sein und krisenfester zu werden, muss Deutschland Auswege aus der Strategielosigkeit finden und sich Werkzeuge aneignen, um seine Rolle in der Welt besser zu verstehen und dieser gerecht zu werden. Ein Instrument, das ermöglicht, die Komplexität zwischenstaatlichen Handelns zu entwirren, Interessenskonflikte darzustellen, Handlungsoptionen abzuwägen und daraus Strategien zu entwickeln, ist die Spieltheorie. Wie sie nutzbar gemacht werden kann, wird im Folgenden anhand einiger Beispiele einführend erläutert.

Ziele, Wege und Mittel

Zunächst muss strategisches Denken von „normalem“ Denken abgegrenzt werden: Anders als gemeinhin angenommen, ist strategisches Denken kein Synonym für langfristiges oder besonders ausgeklügeltes Denken. Im militärischen Bereich (und heutzutage auch in der Unternehmensberatung) wird strategisches Denken zumeist als das in Einklang bringen von Zielen, Wegen und Mitteln (ends, ways and means) begriffen. Ziele stellen dabei ein gewünschtes Endstadium dar, abgeleitet aus den politischen Interessen eines Landes. Mittel sind all die Ressourcen eines Staates, über die dieser zu seinem Vorteil verfügen kann und Wege sind Handlungsoptionen, also wie Mittel zur Erreichung von Zielen eingesetzt werden können.

Dies lässt sich gut an einem Beispiel verdeutlichen: Ein Staat mit dem Ziel, seine Wirtschaftsleistung zu steigern kann dies auf verschiedenen Wegen und unter Einsatz verschiedener Mittel tun – mit verschiedenen Strategien also. Der Staat kann sein Humankapital nutzen, um durch technische Innovationen an wirtschaftlicher Relevanz zu gewinnen, er kann durch clevere Diplomatie vorteilhafte Freihandelsabkommen abschließen oder gar die Industrieregion des Nachbarlandes mit seiner Armee überfallen. Von moralischen und völkerrechtlichen Bedenken mal ganz abgesehen, ist ein Staat in der Wahl seiner Strategie durch die ihm zur Verfügung stehenden Mittel eingeschränkt. Wer keine fortschrittlichen Universitäten hat, wird nicht mit technischer Innovation punkten können und wem Freund*innen auf der internationalen Bühne fehlen, der kann sich nicht durch lukrative Deals behaupten. Ebenfalls ist es ohne signifikant überlegene Armee ein risikoreiches Unterfangen, zu versuchen, sich den Nachbarstaat einzuverleiben.

Strategie bedeutet daher, Ziele und Mittel über geeignete Wege in Einklang zu bringen. Das erfordert eine klare Formulierung von Interessen, aus denen dann konkrete Ziele abgeleitet werden können. Diese müssen mit einer nüchternen Einschätzung der eigenen Ressourcen abgeglichen werden, um Wege zu identifizieren, Mittel und Ziele zu harmonisieren. Reichen die Mittel nicht aus, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, müssen weniger ambitionierte Ziele her. Andersherum können ehrgeizigere Ziele helfen, das Potential eines ressourcenreichen Landes besser ausschöpfen.

Die Harmonisierung von Zielen, Wegen und Mitteln ermöglicht es, Strategien zu entwickeln und legt den Grundstein für jedes strategische Handeln. Jedoch existiert Strategie nie im Vakuum. Jedes Ziel und die ihm zugrundeliegenden Interessen sind Teil eines internationalen Ringens um Macht in Form von Einfluss, Prestige und Ressourcen. Gerungen wird mal offen, mal verdeckt, mal auf dem Schlachtfeld und mal in den sozialen Medien. Aber es bedeutet immer das Aufeinandertreffen mindestens zweier gegenläufiger Strategien, die den beiderseitigen Mitteleinsatz behindern, aufheben, oder eskalieren können. Im englischsprachigen Militär wird dies passend durch den Satz „the enemy gets a vote“ beschrieben (sinngemäß: Der Widersacher hat ein Mitspracherecht).

Die Spieltheorie als Instrument für strategisches Handeln

Wie nun weiter, wenn wir nicht nur wissen müssen, was wir wie wollen und womit wir das erreichen können, sondern dies auch noch im Hinblick auf die Interessen, Ressourcen und daraus resultierenden Handlungsoptionen anderer Staaten entscheiden sollen? Hier kommt die Spieltheorie ins Spiel. Entwickelt im vergangenen Jahrhundert von Denkern wie John von Neumann, Oskar Morgenstern und John Nash (im Film „A Beautiful Mind“ gespielt von Russell Crowe), stellt sie eine Anwendung ökonomischer Prinzipien und mathematischer Methoden auf menschliche Entscheidungsfindung in Konfliktsituationen dar. In der Spieltheorie werden Entscheidungssituationen zwischen mehreren Akteuren als kleine „Spiele“ simuliert. Das ermöglicht, komplexe Konfliktsituationen vereinfacht darzustellen, sie beliebig oft und unter unterschiedlichen Bedingungen zu simulieren und somit strategisches Handeln besser zu verstehen. Wegen ihrer Vielseitigkeit wird die Spieltheorie in verschiedensten akademischen Disziplinen und für eine Vielzahl von Themen angewandt: Bahn-Streiks, Impfungen, Verteilungsfragen oder Klimaverhandlungen. Seit der Arbeit von Nobelpreisträger Thomas C. Schelling hat die Spieltheorie jedoch insbesondere auch in den Strategischen Studien Anwendung für die Analyse von militärischen Konflikten gefunden.

Eines der Modelle, dem sich die Spieltheorie bedient, ist der Game Tree, in dem Akteur*innen nacheinander Entscheidungen treffen, die jeweils von der vorherigen Entscheidung des anderen beeinflusst sind. Die nachfolgende Abbildung zeigt dies beispielhaft an der vieldiskutierten Debatte über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine, die Bundeskanzler Olaf Scholz vehement ablehnt, da er befürchtet, “dass Deutschland dadurch in den Krieg hineingezogen werden könnte.” In diesem vereinfachten spieltheoretischen Modell hat Deutschland zwei Handlungsmöglichkeiten (Taurus liefern oder Taurus nicht liefern), woraufhin Russland zwei Reaktionen zur Verfügung stehen (Krieg eskalieren oder Krieg nicht eskalieren). Diese Handlungsoptionen können zu vier möglichen Ausgängen führen: A, B, C, und D.

Zu identifizieren, welches dieser Szenarien die beiden Akteur*innen präferieren würden, ist wohl der schwerste und gleichzeitig wichtigste Teil der spieltheoretischen Analyse. Natürlich ist die Festlegung dieser Vorlieben aus der Ferne subjektiv und sollte stets kritisch hinterfragt werden. Dennoch ermöglicht die Annahme, dass auch in Moskau Vor- und Nachteile abgewogen und Entscheidungen rational getroffen werden, sich in die russische Regierung hineinzuversetzen und abzuwägen, von welchem der Szenarien das Land den größten Nutzen hätte.

Für die Entscheidungsfindung im Kanzleramt ist in diesem Beispiel eigentlich nur eine Frage entscheidend: Präferiert Wladimir Putin Ausgang A (Taurus → Eskalation) oder Ausgang B (Taurus → Keine Eskalation)? Natürlich ist der Status Quo (Ausgang D) für den Kreml das bestmögliche Szenario: Deutschland liefert keine Marschflugkörper und Russland eskaliert nicht. Doch was, wenn Deutschland Taurus liefern würde? Putin ist (noch) nicht interessiert an einer Ausweitung des Krieges in der Ukraine auf NATO-Staaten und hat in den vergangenen Jahren rote Linie um rote Linie verstreichen lassen, ohne seine nuklearen Drohungen in die Tat umzusetzen. Taurus-Marschflugkörper sind trotz ihrer Effektivität keine Wunderwaffen und würden das Kräfteverhältnis auf den Schlachtfeldern der Ukraine kaum merklich verändern. Woher kommt also der Glaube, dass Putin lieber Russland und sich selbst vollends dem Untergang weiht durch eine Ausweitung des Krieges gegen Deutschland und die NATO (Ausgang A), anstatt hinzunehmen, dass die Ukraine neben Storm Shadow- und SCALP-Marschflugkörpern nun auch noch einige Taurus erhält (Ausgang B)? Wirklich beantworten können diese Frage wohl nur Bundeskanzler Scholz und sein Berater Jens Plötner. Jedoch zeigt diese modellhafte Darstellung und der Vergleich verschiedener Szenarien, dass deutsches Handeln weniger von nüchternen Einschätzungen widerläufiger Interessen und Strategien als vielmehr von gefühlten Wahrheiten und ideologischem Unwohlsein geleitet wird.

Kritiker der Spieltheorie bemängeln, dass sie komplexe Zusammenhänge zu sehr vereinfacht und so vieles ausklammert, was menschliches Handeln ausmacht (zum Beispiel Emotionen und Ideologie). Zudem „ist schwer zu klären, wer die relevanten Spieler sind, welchen Einfluss sie besitzen, was für welchen Spieler auf dem Spiel steht, über welche Optionen sie verfügen, welche Motive sie verfolgen, um welche Zwecke und Ziele durchzusetzen”, erklärt der Spieltheoretiker Volker Bieta in der „Wirtschaftswoche“. Die Spieltheorie kann, soll und darf daher keine fundierten Konfliktanalysen ersetzen. Dennoch ermöglicht sie, ein erstes Bild der Interessen und Handlungsoptionen von Konfliktparteien zu erlangen und dies in Strategiedebatten einfließen zu lassen. Das vorherige Modell des Game Tree lässt sich auch mühelos auf die eingangs genannten Konfliktszenarien anwenden: Wenn Iran sein Nuklearwaffen-Programm weiterführt, sollte Israel dies mit einem Erstschlag beantworten?

Oder wenn China Taiwan überfällt, sollte die USA dann militärisch intervenieren? Und wenn ja, wie soll sich Deutschland positionieren? Neutral, unterstützend oder gar als Kriegspartei?

Von der Planlosigkeit zur Strategie

Diese Abwägungen in Teheran, Jerusalem, Peking, Washington und Berlin werden bestimmen, wie sich die geopolitische Lage in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickelt. Deutschland wäre in all diesen Konflikten zumindest mittelbar involviert und die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen wären immer auch hierzulande spürbar. Daher ist es unbedingt vonnöten, sich sowohl mit den Interessen und Strategien anderer Staaten zu beschäftigen als auch frühzeitig deutsche Positionen und Optionen abzuwägen. Dem liegt eine gesamtgesellschaftliche Debatte zugrunde: Was sind deutsche Interessen, welche politischen Ziele können daraus abgeleitet werden, welche Mittel stehen zur Verfügung, und wie können diese Mittel eingesetzt werden, um die Ziele zu erreichen? Die Verhandlung dieser Themen sollte dabei immer begleitet werden von den „Was wäre, wenn…“-Überlegungen der Spieltheorie: Wie beeinflusst unser Handeln das der anderen – und umgekehrt?

Strategiefähigkeit bedeutet, diese Fragen zu stellen, zu diskutieren und schlussendlich auch zu beantworten. Im Klassenraum, im Bundestag, am Abendbrottisch, an der Wahlurne, ja sogar im Bundeskanzleramt muss diese Debatte geführt werden, damit Deutschland umdenkt, hin zu einem Denken das Interessen formuliert, Ausgänge antizipiert und Machtpolitik nicht ignoriert. So wird aus Reaktion Aktion und aus Planlosigkeit wird Strategie.

 

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Die Abbildungen von Spielbäumen in diesem Essay wurden mit dem Game Theory Explorer erstellt.

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