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Der Preis des Wohlstandes

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Author
Frank Sieren
Tags
Authoritarianism
Geopolitics

Die Reichweite des Westens, seine Vorstellungen von einer wertebasierten Weltordnung zu verankern, sinkt. Die aufsteigenden Länder haben eigene Vorstellungen. Das zeigt sich im Konflikt mit Russland, aber auch mit China deutlich.

Viele Jahrzehnte haben die Europäer gut so gelebt. Doch nun stellen sie erschrocken fest, worauf ihr Wohlstand basiert: Sie kaufen preiswertes Öl und Gas im autoritären Russland oder in autoritären Golfstaaten, stellen damit Autos und andere High-Tech-Produkte für das autoritäre China her, um mit den Gewinnen Flip-Flops oder Smartphones Made in China zu kaufen.

Putins Annexionskrieg macht sichtbar, dass der schöne Wohlstand einen hässlichen Preis hat. Die Europäer sollen keine Menschenrechtsverletzungen mehr tolerieren, um den eigenen Wohlstand zu mehren, versprechen Politiker nunmehr. Europa solle sich entkoppeln, vor allem vom mächtigen China.

Ideal wäre es, so die Vorstellung vieler, China von den Vorzügen der Globalisierung auszuschließen, bis die Pekinger Politiker ein Einsehen haben – oder gar von ihrer Bevölkerung zur Einsicht gezwungen werden. Manche fordern angesichts der jüngsten Xinjiang Papers, den Dialog mit China einzustellen, bis das Land „endlich zur Vernunft“ kommt. Die Skizze der neuen Weltordnung: Demokratien als umweltfreundliche Selbstversorger, bis den unartigen Diktaturen die Luft ausgeht.

Das klingt nach einer besseren Welt. Nur, das Zeitalter, in der die westliche, weiße Minderheit die Spielregeln der Mehrheit der Welt bestimmen konnte, geht zu Ende. Der Westen schrumpft gerade zum dem, was er schon immer war, was er angesichts seiner Machtfülle jedoch verdecken konnte: Eine Minderheit von nicht einmal 15 Prozent der Weltbevölkerung. Europa hat knapp 10 Prozent und die USA knapp 5 Prozent. Inzwischen hat die Mehrheit der Welt eigene Vorstellungen, die sie immer deutlicher durchsetzt.

Das zeigte sich jüngst bei der Taiwanreise der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi auf die Insel Taiwan. Die USA und die allermeisten Länder der Welt erkennen Taiwan nicht als eigenständigen Staat an. Die Amerikaner unterstützen Taiwan allerdings militärisch gegen China. Damit steht Taiwan im Zentrum des Konflikts zwischen der aufsteigenden Weltmacht China und der amtierenden Weltmacht USA.

Die G7 Länder stellen sich geschlossen hinter die Taiwanreise Pelosis, die zwar kein Mitglied der amerikanischen Regierung, aber die dritt-ranghöchste Politikerin der USA ist. Für die G7 ist Pelosis Besuch „normal“ und die Reaktion Pekings „aggressiv“. Sie werfen Peking vor, den „Status quo unilateral zu ändern.“ Doch die Mehrheit der Welt und vor allem Asien teilt die G7 Einschätzung nicht und macht das auch deutlich.

Zum Beispiel Penny Wong, chinesischer Herkunft und Außenministerin Australiens, eigentlich eines der engsten Alliierten der Amerikaner in der Region. Sie zeigt sich besorgt über den unabgestimmten Vorstoß Washingtons: „Alle Parteien sollten ihr Bestes tun, um die Spannungen zu deeskalieren. Wir wollen Frieden und Stabilität in der Taiwan Straße.“

Schon während ihrer Reise muss Pelosi zurückrudern. In Tokio stellt sie auch auf Bitten des neuen japanischen Premierminister Fumio Kishida fest: „Wir wollen den Status Quo in Taiwan und der Region nicht ändern.“ Chinas Außenminister Wang Yi hatte sich zuvor geweigert, seinen neuen japanischen Amtskollegen Yoshimasa Hayashi zum ersten Mal zu treffen. Die Außenminister der südostasiatische ASEAN Staaten, die parallel zur Pelosi Reise in Kambodscha tagten und 670 Millionen Menschen vertreten, schlagen sich ebenfalls nicht auf die Seite der USA: Die Reise könne die „Region destabilisieren, zu ernsten Konfrontationen unter führendenden Mächten führen.“ Der neue südkoreanische Präsident Yoon Suk-Yeol empfängt Pelosi erst gar nicht. Ihm ist ihr Vorstoß zu forsch und nicht mit den Nachbarn Chinas abgestimmt.

Die Skepsis in Asien reflektiert sich inzwischen auch in westlichen Medien.

Jane Perlez, die Pulitzerpreisträgerin und Leiterin des China-Büros der New York Times schreibt: „Eine unnötige Provokation“, die „abschreckend auf Washingtons Alliierte in Asien wirkt“. Eine „inkohärente Strategie“ schreibt der britische Economist. „Die Reise sollte die Stärke der USA zeigen und hat stattdessen deren Konfusion gezeigt.“

Den zunehmenden Unwillen der aufsteigenden Länder, sich in den Konflikt zwischen China und dem Westen reinziehen zu lassen, musste selbst US-Präsident Joe Biden im Mai auf seiner Asienreise spüren. Sein Ziel war es, eine Asien-Koalition der Demokratien gegen China und Russland zu bilden. Doch nur Japan ist wirklich dazu bereit.

Selbst Südkorea schreckt vor Kritik an China zurück. Die Südkoreaner, die 30 Prozent ihres Handels mit dem Nachbarn China haben, wollen sich lieber nicht entkoppeln. Eher noch riskieren sie, Joe Biden zu verstimmen, trotz der 30 000 US-Soldaten im Land.

Ähnliches gilt für die ASEAN-Staaten, die mit China zusammen die grösste Freihandelszone der Welt bilden. Aber auch die Staaten des Mittleren Ostens und Südamerikas ziehen nicht mehr mit, wie Biden erschrocken feststellen muss. Am Ende tragen über 170 der über 190 Staaten die vom Westen verhängten Sanktionen gegen Russland nicht mit.

Es zeichnet sich ab: Wenn der Westen sich von China entkoppeln will, dann muss er das alleine tun. Warum nicht. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Westen zivilisatorische Fortschritte für die Welt durchboxt. Besonders Europa hat eine lange Tradition darin. Auf diese Weise ist immerhin die Demokratie entstanden.

Allerdings würden politische Nebenkosten anfallen, die sich bisher nur im Kleingedruckten der politischen Debatte in Europa finden lassen. Da Europa inzwischen fast alles aus China bezieht, Firmen wie Volkswagen rund 50 Prozent ihrer Gewinne in China einfahren und viele deutsche Hidden Champions ihre grössten Investitionen in China haben, wäre eine Entkopplung mit Inflationsraten über 30 Prozent und Entlassungswellen verbunden. Und manche Konsumgüter würde es in Deutschland leider nicht mehr geben. Werden Politiker, die das durchsetzen, wiedergewählt?

Zumal sich die Konsumgüterindustrie bereits in die entgegengesetzte Richtung aufgemacht hat. Die Inflationen über 8 Prozent im Westen (nur 2,5 Prozent in China) führt dazu, dass Walmart, Tesco oder Aldi noch billiger in China einkaufen müssen, um im Geschäft zu bleiben. In Washington wird bereits darüber diskutiert, die China-Zölle zu senken, um den innenpolitischen Druck zu senken.

Das Gegenargument, die Vollautomatisierung von Fabriken mache Europa von den tiefen Löhnen Asiens unabhängig, ist zwar auch umweltfreundlicher, aber nur die halbe Wahrheit. Auch bei automatisierter Produktion gilt: Je mehr ein Unternehmen von einem Produkt herstellt, desto billiger wird es. Doch, wer nur zu Hause herstellt, der setzt nichts mehr in China ab, denn die Chinesen sagen auch: Wer bei uns verkauft, soll bei uns herstellen. Das ist auch in China umweltfreundlich und hilft der Wirtschaft dort.

Keine Frage: EU-Unternehmen sollten dennoch mehr zu Hause für ihre lokalen Märkte produzieren, und sie sollen sich in Asien Alternativen zu China suchen. China zu ersetzen, wird jedoch schwierig. „Es gibt keine Alternative zum chinesischen Markt“, stellt Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in China, nüchtern fest. Auch er hat sich mehr als einmal gewünscht, Indien wäre eine solche gleichwertige Alternative.

Die grösste Herausforderung für das westliche Entkopplungsprojekt liegt jedoch woanders: Die Logik „Werte oder Wirtschaft“ funktioniert so einfach nicht. Denn nur, wenn Europäer wirtschaftlich stark und innovativ sind, sitzen sie noch am Tisch, wenn die Werte der neuen Weltordnung ausgehandelt werden. Früher hatten sie einen Stammplatz. Das ist Geschichte.

Die Realität nun: China ist Partner und Systemwettbewerber zugleich. Mit China als Partner sind die Europäer wirtschaftlich stärker und innovativer als gegen China. In der Zusammenarbeit können sie die Kraft entwickeln, ihre Werte dann gegen den Wettbewerber China durchzusetzen.

Wem das zu umständlich ist, dem bleibt noch der Rückzug auf die eigene europäische Scholle. Doch auch das macht angesichts der globalen Herausforderungen wenig Sinn. Klimawandel, Hunger, Migration, religiöser Extremismus, aber auch der Aufbau globaler politischer Institutionen – alles zentrale Bereiche europäischer Werte – können nur noch mit und nicht gegen China umgesetzt werden.

Womöglich ist es also für den Westen doch der bessere Weg, China zu integrieren, statt es auszugrenzen und sich damit am Ende selbst zu isolieren. Europa sollte den Werte-Dialog mit China vertiefen. Eine Erkenntnis aus dem Konflikt zwischen Russland und den Nato-Ländern: Der Dialog ist nicht an sich gescheitert, sondern nur ein Dialog, bei dem sich beide Seiten nicht an das halten, was sie versprechen. Das rechtfertigt zwar Putins Annexionskrieg nicht, sollte man aber im Blick behalten, wenn man Konflikte mit China lösen möchte.

Wandel durch Handel als gescheitert abzuhaken, ist womöglich ein wenig voreilig. Viele Europäer messen China am Gipfelkreuz der eigenen erreichten Standards. Die Chinesen sehen hingegen den Weg, den sie in den vergangenen vier Jahrzehnten zurückgelegt haben. Für sie ist Wandel durch Handel ein grosser Erfolg.

Manche sprechen den verzagten Europäern inzwischen gar Mut zu. Sie mögen doch bitte die Überzeugungskraft ihrer eigenen Werte nicht unterschätzen. Auch Chinesen mögen Mitbestimmung. Nur dauerten solchen Entwicklungen eben länger, als die Europäer glauben oder hoffen.

Im europäischen Blick hingegen dominieren die verstörenden Rückschläge in Xinjiang und Hongkong. Sie verdienen uneingeschränkt offene Kritik. Genauso selbstverständlich sollten die Europäer die unglaublichen Leistungen Chinas anerkennen. Die Armutsbekämpfung, die Innovationskraft der neuen Silicon Valleys, Klimaschutz, Hochgeschwindigkeitszüge. Chinas Integration in die Weltwirtschaft von praktisch 0 Prozent 1980 auf 18 Prozent heute. All das bedeutet für die meisten Menschen in China und deren Nachbarn eine dramatische, zuvor unvorstellbare Verbesserung ihrer täglichen Lebensqualität.

Diejenigen im Westen, die behaupten, alles sei schlimm in China, an dieser Diktatur dürfe man nun mehr kein gutes Haar lassen, sind also ebenso mit Vorsicht zu genießen wie diejenigen, die behaupten, alles sei prima in China und ein wenig mehr harte Hand könnte Europa auch nicht schaden.

Chinas Stärken zu fördern und die offensichtlichen Schwächen dieses riesigen Landes nicht nur zu kritisieren, sondern im Dialog mit China zu zivilisieren, erscheint realistisch betrachtet der aussichtsreichste, wenn auch mühevolle Weg angesichts der Machtverhältnisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

So scheinen die Chancen am grössten, das zu erreichen, was Europa am wichtigsten sein sollte:  Die europäischen Werte möglichst umfangreich in die neue Weltordnung zu integrieren, ohne dabei den Wohlstand Europas aufs Spiel zu setzen.

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