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Der schmale Grat strategischer Ambiguität in der politischen Kommunikation

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Olaf Hoffjann

„Sie kennen mich.“ Diese Einschätzung von Angela Merkel im TV-Duell 2013 teilten damals viele Menschen in Deutschland. Viele vertrauten ihr, viele mochten sie, viele wählten die Union wegen ihr: Für die einen war sie eine vernünftige Stimme der politischen Mitte, für andere eine durch und durch integre Frau, für dritte später die souveräne und unaufgeregte Anführerin der freien Welt und für konservativere Stammwähler das kleinere Übel im Vergleich zu den Kandidaten im linken Spektrum. Jeder konnte in ihr etwas anderes sehen. Für diese Uneindeutigkeit tat Angela Merkel sehr viel. Anders als der Basta-Kanzler Gerhard Schröder ließ sie Diskussion gerne und lange laufen, verkündete selten konkrete ambitionierte Ziele und beschrieb in Interviews ausführlich die aktuelle Situation und politische Zwänge – und hatte dann oft keine Zeit mehr für konkrete Ziele und Programme. Eine Kanzlerin, die dreimal wiedergewählt wurde, kann auch in ihrer politischen Kommunikation nicht allzu viele Fehler gemacht haben. Man könnte also mit guten Gründen sagen: Von Merkel lernen, heißt siegen lernen. Das schien sich wohl auch Armin Laschet im Bundestagswahlkampf gedacht zu haben: Auch er blieb vage und mehrdeutig, wollte sich nicht einmal festlegen, welche europäische Hauptstadt er nach einem Wahlerfolg als erstes besuchen würde.

Warum aber wurde seine Mehrdeutigkeit als Schlafwagenwahlkampf kritisiert, wofür Angela Merkel 16 Jahre lang gefeiert worden war? Warum setzte die eine zu Höhenflügen an, während der andere jäh abstürzte? Offenkundig beherrschte die Ex-Kanzlerin die Kunst der sogenannten strategischen Ambiguität. Während sie zumeist wusste, wann das Mehrdeutige und wann das Eindeutige angebracht war, fehlte ihrem Nachfolgekandidaten dieses Gespür. Der Einsatz strategischer Ambiguität scheint eine riskante Gratwanderung zu sein.

Sven Mandel, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Was ist strategische Ambiguität?

Bis heute gelten in der Forschung und Praxis der strategischen Kommunikation Vagheit, Mehrdeutigkeit oder gar Widersprüchlichkeit zumeist noch als Fehler, die es zu vermeiden gilt. Eindeutigkeit, Klarheit und Widerspruchsfreiheit sind für meisten Forscherinnen und Praktiker ein heiliger Gral. Das überrascht, weil die Idee der strategischen Ambiguität so alt ist wie die Demokratie selbst. Bereits die Griechen kannten ihre Vorteile, für Diplomaten ist sie seit jeher zentrales Prinzip ihrer Arbeit. Sie ermöglicht einer Außenministerin, nach einem turbulenten Gespräch den wartenden Journalisten zu verkünden, dass ziemlich beste Freunde auch einmal unterschiedlicher Meinung sein dürfen.

Den Begriff der strategischen Ambiguität prägte vor fast 40 Jahren der amerikanische Organisationsforscher Eric M. Eisenberg. Ambig bzw. mehrdeutig ist für jemanden eine Situation oder eine Aussage, bei der er mehrere Interpretationen wahrnimmt. War es ein freundschaftliches Gespräch oder ein offener Streit? Strategische Ambiguität ist die bewusste Nutzung von Aussagen, die mehrere Interpretationen zulassen. Ob jemand etwas als eindeutig oder mehrdeutig versteht, bleibt dabei immer eine Zuschreibungsleistung.

Welche Ziele verfolgen Kommunikatoren mit bewusster Mehrdeutigkeit? Der zentrale Vorteil mehrdeutiger Aussagen besteht darin, das Risiko von Enttäuschungen und Ablehnung zu verringern. Wer den Eltern seinen Besuch vage für den kommenden Samstagnachmittag ankündigt, wird sie nicht enttäuschen, wenn er um 16 Uhr eintrifft. Wenn er sich hingegen konkret für 14 Uhr angekündigt hätte, dürften sie enttäuscht sein. Eine bewusst mehrdeutige Ansprache für sehr unterschiedliche Adressaten erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich jede Gruppe direkt angesprochen fühlt. So können sich als Leistungsträger viele angesprochen fühlen, von Chefinnen, Lehrerinnen, Meistern, Kassierern und Pflegerinnen über ehrenamtlich Aktive bis hin zu alleinerziehenden Vätern. So unterschiedlich diese Gruppen sind, sie können sich in ihren jeweiligen Rollen mit guten Gründen als Leistungsträgerinnen verstehen. Kurzum: Mit strategischer Ambiguität legt man sich nicht fest, man kann seltener eines gebrochenen Versprechens bezichtigt werden, sie ist leichter leugbar und eröffnet damit Handlungsspielräume. Zynisch formuliert ist sie auch aus ethischer Perspektive eine Wunderwaffe, weil man sich nicht festlegt, dennoch aber nicht lügt. Aber genau das macht sie in vielen Fällen ethisch auch höchst zweifelhaft.

Strategische Ambiguität kann man in einem weiten Sinne auf viele Kommunikationsaspekte beziehen: von der mehrdeutigen Absendertransparenz über mehrdeutige Themen und mehrdeutige Wahrheitsbehauptungen bis hin zur mehrdeutigen Adressierung. In der Regel wird strategische Ambiguität aber enger gefasst und nur auf Aussagen bezogen. In diesem Verständnis beginnt sie bei vagen Ausdrücken wie z.B. oft, viel oder bald und dem Verzicht auf konkrete Zahlen: Wer oft statt immer, viele statt 50%, bald statt Anfang nächsten Jahres sagt, lässt sich Freiräume und kann nicht der Lüge bzw. eines gebrochenen Versprechens beschuldigt werden. Anstelle messbarer Ziele können Werte wie Freiheit oder Gleichheit propagiert werden, die jeder unterstützt und zugleich in hohem Maße vage und mithin mehrdeutig sind. Zusätzlich zur Vagheit ist strategische Ambiguität auch im Zusammenspiel mehrerer Informationen zu beobachten. So können mehrere eindeutige, aber widersprüchliche Aussagen bewusst eingesetzt werden, um unterschiedlich verstanden zu werden. Solche so genannten Mixed Messages finden sich beispielsweise in der Krisenkommunikation, wenn sich eine Organisation für einen Störfall zu Beginn eines Statements entschuldigt und am Ende die Verantwortung zurückzuweist.

In einer widersprüchlichen, sich individualisierenden und polarisierenden Gesellschaft erscheint Ambiguisierung damit ein vielversprechendes Mittel, möglichst wenig Widerspruch zu erzeugen und Konflikte zu vermeiden, die z.B. die Legitimation gefährden, Kunden oder Investorinnen abschrecken können. Und kann strategische Ambiguität nicht auch in der politischen Kommunikation dazu beitragen, zustimmungsfähig zu bleiben und integrierend zu wirken – und damit allzu eindeutigen, ausgrenzenden und provozierenden Populisten entgegenzutreten? Ist strategische Ambiguität vielleicht sogar die „Magic Bullet“ politischer Kommunikation?

Der Absturz: eindeutige Mehrdeutigkeit

Armin Laschet würde diese Frage heute vermutlich nicht bejahen. Sein Wahlkampf prägte eine eindeutige Mehrdeutigkeit. Die negativen Folgen waren auf zwei Ebenen zu beobachten. Zum einen ließ er mit seinen vagen programmatischen Aussagen viele Bürgerinnen ratlos zurück. Sie wussten nicht, wofür er stand und was er nach einem möglichen Einzug ins Kanzleramt erreichen wollte. Für die beiden Volksparteien mit ihrer heterogenen Wählerschaft mag strategische Ambiguität zwar seit jeher ein besonders beliebtes Mittel sein, aber punktuell sollte man doch einmal konkret und eindeutig werden. Wenn Olaf Scholz mit seinem 12-Euro-Mindestlohn-Versprechen als Klare-Kante-Kandidat erschien, wird deutlich, wie eindeutig mehrdeutig der Unionswahlkampf war. Das führte früh zu einem Problem auf einer zweiten Ebene. Armin Laschet wurde bald die Instrumentalisierung von Vagheit unterstellt. Die anfängliche Ratlosigkeit vieler potenzieller Wählerinnen kippte in diesem Moment in offenes Misstrauen. Ein erstes Learning ist es folglich, nicht zu offensichtlich mehrdeutig zu sein.

Steffen Prößdorf, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Ein zweites Learning resultiert aus einer anderen Fehleinschätzung des Kandidaten. Studien zeigen, dass sich Rezipienten bei einer mehrdeutigen Aussage tendenziell eher von ihren eigenen Voreinstellungen beeinflussen lassen als bei einer eindeutigen Aussage. Für die Politik folgt daraus ein altbekanntes Rezept: Beliebte Amtsinhaberinnen wie Angela Merkel können in Wahlkämpfen vage, widersprüchlich und mithin mehrdeutig bleiben, weil viele Menschen ihr grundsätzlich vertrauen. Armin Laschet war aber weder ein Amtsinhaber noch sonderlich beliebt. Er führte einen Amtsinhaberwahlkampf, ohne Amtsinhaber zu sein. Eher weniger bekannte, weniger angesehene und wenige vertrauenswürdige Kandidaten aber müssen konkreter werden, um zu zeigen, wer sie sind und wie sie es besser machen möchten. Damit werden die Grenzen bewusst mehrdeutiger Kommunikation deutlich.

Die gelungene Gratwanderung: mehrdeutige Eindeutigkeit

Strategische Ambiguität kann gelingen, wenn eine Aussage für die Adressaten eindeutig erscheint, im Notfall weniger naheliegende Interpretationen aber Auswege eröffnen. Viele mögen Hubertus Heils Aussage „Wir kämpfen um jeden Arbeitsplatz!“ als kraftvolles Versprechen verstehen, alle Arbeitsplätze zu retten; bei kritischen Nachfragen kann er sich auf das (selbstverständliche) Versprechen zurückziehen, sich für den Erhalt von Jobs einsetzen zu wollen. Komplexer ist strategische Ambiguität, wenn verschiedene Adressaten mit unterschiedlichen Perspektiven die Aussage jeweils unterschiedlich, aber jede Gruppe für sich eindeutig interpretiert. Die Positionierung der FDP als Partei der Leistungsträger wäre eine gute Idee gewesen – wenn sie nicht von der FDP gekommen wäre, der viele unterstellen, dass sie Leistung über Einkommen und Vermögen definiert. In beiden Fällen geht es folglich um mehrdeutige Eindeutigkeit, also den Eindruck der Eindeutigkeit zu erzeugen, obwohl die Aussage bei näherer Betrachtung offenkundig mehrdeutig ist.

Ein Beispiel für eine zumindest kurzfristig erfolgreiche mehrdeutige Eindeutigkeit lieferte der Kölner Kardinal Woelki im Missbrauchsskandal der Kirche und zum Vorwurf einer verschleppten Aufklärung im Dezember 2020. Er erklärte damals: „Was die von sexueller Gewalt Betroffenen und Sie in den letzten Tagen und Wochen vor Weihnachten im Zusammenhang mit dem Umgang des Gutachtens zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in unserem Erzbistum, was sie an der Kritik darüber und insbesondere auch an der Kritik an meiner Person ertragen mussten. Für all das bitte ich Sie um Verzeihung.“ Kritische Adressaten konnten das als Entschuldigung für das vergangene Verhalten interpretieren – viele Medien titelten damals in dieser Weise. Nicht nur juristisch Geschulte erkennen aber schnell, dass sich Woelki lediglich für die Berichte und die Aufregung über den Skandal entschuldigte und nicht für sein eigenes Verhalten.

Damit wird deutlich: Gelungene strategische Ambiguität zielt zumeist auf die Zuschreibung von Eindeutigkeit, unterschiedliche Adressatengruppen sollen jeweils ‚ihre‘ Interpretation eindeutig wahrnehmen. Wem dies gelingt, der hat sich enorme Handlungsspielräume verschafft. Daher scheint die Flucht in die Ambiguität für viele eine höchst attraktive Option zu sein. Kurzum: So wenig strategische Eindeutigkeit wie möglich, so viel wie nötig.

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