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Realpolitik trifft Werte: Europas Suche nach einer neuen Rolle

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Author
Jens-Uwe Wunderlich
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Geopolitics
Security
Politics

Als normative Macht steht die EU mächtig unter Druck. Die Gründe dafür sind einerseits in einer Reihe von Verwerfungen im Innern, andererseits in vielen Erschütterungen von außen zu sehen, wie jüngst der Überfall Russlands auf die Ukraine und die Beschädigung des transatlantischen Verhältnisses durch Donald Trump. Doch diese Situation bietet der EU auch die Chance, sich als globaler Akteur im 21. Jahrhundert neu zu positionieren, argumentiert Jens-Uwe Wunderlich.

Die Europäische Union sieht sich mit einer zunehmend instabileren Lage sowohl im Inneren wie im Äußeren konfrontiert. Von geopolitischer Konkurrenz mit China und Russland, über Energieunsicherheit bis hin zum demokratischem Rückbau und wachsendem Autoritarismus in zahlreichen Mitgliedstaaten: Europa agiert nicht länger in einer Welt, die seinen Gründungsannahmen entspricht. Es handelt sich hierbei nicht um eine vorübergehende Krise, sondern vielmehr um einen strukturellen Wendepunkt. Während die globale Ordnung fragmentiert und die USA ihre Außenpolitik gerade mit Blick auf das transatlantische Verhältnis neu ausrichten, ist die EU gezwungen, ihre Identität, ihre Fähigkeiten und ihren zukünftigen Kurs zu überdenken. Dabei ergibt sich ein fundamentales Dilemma: Kann die EU ihre normativen Werte, wie beispielweise Demokratie und die Achtung der Menschenrechte, bewahren und gleichzeitig ein strategisch autonomer Akteur in einer post-liberalen Welt werden?

Europas strategisches Dilemma

Die europäische Integration wurde schon immer von Krisen geprägt. Ihre jüngste Entwicklung ist durch Spannungsmomente wie die Eurozonenkrise, die Migrationskrise oder den Ukrainekrieg gekennzeichnet. Diese Herausforderungen haben die Grenzen der Integration offengelegt haben. Zusammen bilden sie eine Polykrise, d.h. überlappende, sich gegenseitig verstärkende politische, wirtschaftliche und normative Belastungen, die den inneren Zusammenhalt der Union und ihr äußeres Umfeld tiefgreifend verändern.

Die EU steht an einem Scheideweg. Ihr traditionelles Selbstverständnis als normative Macht wird sowohl von innen als auch von außen herausgefordert.

Intern belasten populistische Bewegungen sowie der zunächst schleichende, nunmehr aber immer offener zutage tretende Rückbau der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ländern wie Ungarn, der Slowakei oder Polen. Damit geht die politische Integrität der EU verloren. Extern ist dabei zugleich die internationale liberale Ordnung als ein tragendes Fundament der europäischen Integration nachhaltig geschwächt. Institutionen und Normen, die bislang den Kompass der EU bildeten, werden zunehmend kritisiert und geschwächt. Damit verliert das traditionelle Modell der EU, Einfluss auf der Grundlage besonderer Normen im internationalen Verhältnis von Staaten und andren Akteuren auszuüben, an Wirksamkeit. Friedvolle Beziehungen auf der Grundlage zumindest relativ offener Märkte werden zunehmend in Frage gestellt.

Die EU befindet sich somit an einem von Politikwissenschaftler*innen in der Tradition des historischen Institutionalismus gerne als critical juncture bezeichneten „kritischen Augenblick“, einem Moment also, in dem bestehende Integrationspfade aufbrechen und neue, bislang undenkbare Szenarien möglich werden. Der Ausgang dieser Entwicklung ist vollkommen offen, und die möglichen Szenarien reichen von Anpassung über Transformation bis hin zu Fragmentierung und Disintegration.

Ein zentraler Faktor dieser Wegscheide ist die veränderte transatlantische Beziehung. Für lange Zeit fungierten die USA als strategische Schutzmacht und normativer Partner, ja sogar Taktgeber der Integration Europas. Doch schon mit Amtsantritt von G.W. Bush und vor allem unter der Trump-Regierung verfolgt sie eine transaktionale, unilateralistische Außenpolitik, die langjährige Allianzen und multilaterale Institutionen in Frage stellt. Selbst wenn sich die US-Außenpolitik erneut wandeln sollte, können europäische Entscheidungsträger nicht mehr mit amerikanischer Verlässlichkeit rechnen und sind somit gezwungen sich auf eine Welt vorzubereiten, in der ihr Hauptverbündeter nicht länger die liberale Ordnung unterstützt und auch die europäische Integration angreift. Diese Unsicherheit hat in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten einen strategischen Neustart ausgelöst. Die Frage ist nicht mehr, ob die EU strategische Autonomie anstreben sollte, sondern wie weit und wie schnell sie diesen Weg gehen muss.

Von normativer zu strategischer Macht?

Seit den frühen 2000er-Jahren versteht sich die EU als normative Macht, ein Akteur, der globale Entwicklungen durch Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und multilaterale Zusammenarbeit mitgestaltet. Dieses Selbstbild ist zwar weiterhin prägend, wird aber den geopolitischen Realitäten nicht mehr gerecht. In Reaktion auf ein sich rapide veränderndes internationales Umfeld beginnt die EU, ihren Ansatz zu überdenken. Es formt sich ein neues, durchsetzungsfähigeres Auftreten heraus – eines, das normative Sprache mit einer expliziten geoökonomischen Strategie verbindet. Handelsabkommen mit Partnern wie Kanada (CETA) oder Japan (EPA) dienen nicht mehr nur dem Marktzugang, sondern verfolgen explizit auch geopolitische Ziele. Neue Instrumente wie das Anti-Coercion Instrument ermöglichen es der EU, dem wirtschaftlichen Druck, den Rivalen wie China oder auch die USA ausüben, entgegenzutreten.

Darüber hinaus arbeitet die EU daran, ihre Abhängigkeit vom US-Dollar zu reduzieren, den Euro als globale Währung zu stärken und strategische Lieferketten (etwa bei grüner Technologie, Halbleitern und kritischen Rohstoffen) zumindest stärker unter europäische Kontrolle zu bringen. Diese Entwicklungen markieren den Wandel hin zu einer strategisch-normativen Macht: einerseits weiterhin den liberalen Werten verpflichtet, andererseits aber zunehmend gewillt, europäische Interessen mit machtpolitischen und wirtschaftlichen Mitteln durchzusetzen. Diese Entwicklung lässt sich bis zur EU-Globalstrategie von 2016 zurückverfolgen, die sich für einen pragmatischeren Realismus aussprach.

Sicherheit und Verteidigung als letzte Grenze

Mit der sinkenden Verlässlichkeit der USA gewinnen Forderungen nach europäischer Verteidigungszusammenarbeit an Dringlichkeit. Der 2022 verabschiedete Strategische Kompass der EU beschreibt den Weg hin zu einem handlungsfähigeren Sicherheitsakteur. Programme wie PESCO (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit) und der Europäische Verteidigungsfond (EDF) zielen darauf ab, die operative Koordination zu verbessern, gemeinsame Fähigkeiten zu entwickeln und technologische Unabhängigkeit zu fördern.

Strategische Autonomie bedeutet dabei nicht, sich von der NATO zu lösen oder transatlantische Beziehungen abzubrechen. Vielmehr geht es um die Stärkung der eigenen Resilienz, also der Fähigkeit, möglichst eigenständig zu handeln, wenn nötig, und mit Partnern zu kooperieren, wenn möglich. Die EU verfügt diesbezüglich über erhebliche Ressourcen. Die größere Herausforderung liegt in politischem Willen und Vertrauen, institutioneller Kohärenz und kollektiver Handlungsfähigkeit. Ein geeinteres und strategisch autonomeres Europa könnte nicht nur seine eigene Sicherheit stärken, sondern auch zur Stabilisierung der internationalen Ordnung beitragen.

Eine neue Rolle in einer pluralistischen und turbulenten Welt

Europa steht mit diesen Herausforderungen nicht allein. Länder wie Japan, Kanada, Australien oder Neuseeland teilen die Sorge über den Verlust globaler Normen und Institutionen. Dies eröffnet der EU Möglichkeiten, neue Allianzen zu schmieden, bestehende Partnerschaften zu vertiefen und ihre Rolle als stabilisierende Kraft auszubauen.

Die 2022 gegründete Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) kann in diesem Prozess eine zentrale Rolle spielen. Anders als klassische Erweiterungs- oder Außenpolitikformate ist die EPG ein flexibles, informelles und differenziertes Instrument, das EU-Mitglieder mit über 20 Nicht-EU-Staaten darunter Grossbritannien, die Ukraine, Moldau, Georgien und die Westbalkanländer,  zusammenbringt, um in Bereichen wie Sicherheit, Energie, Konnektivität und Geopolitik zu kooperieren.

Die EPG präsentiert ein geopolitisches Format, mit dem Potenzial, Europas strategische Gemeinschaft über die formale EU hinaus auszudehnen. Sie bietet Raum für Koordination, diplomatische Signale und Krisenmanagement in einer Zeit, in der gemeinsame Interessen nicht mehr unbedingt institutionell gebunden sind. Somit hat die EPG das Potential ein wichtiges Instrument in Europas außenpolitischem Werkzeugkasten werden: zur Stärkung regionaler Resilienz und zur Positionierung Europas als Vermittler in einer fragmentierten Welt. Prinzipiell steht nichts im Wege, das Format auch für außereuropäische Länder wie zum Beispiel Kanada zu öffnen.

Schlussfolgerung: Ein Wendepunkt für Europa

Die EU steht an einem Scheideweg. Ihr traditionelles Selbstverständnis als normative Macht wird sowohl von innen als auch von außen herausgefordert. Doch genau darin liegt auch eine Chance: Europa kann neu definieren, was es heißt, ein globaler Akteur im 21. Jahrhundert zu sein. Anstatt seine Werte aufzugeben, muss die EU lernen, sie wirksamer zu verteidigen. Das bedeutet, ihre wirtschaftliche Schlagkraft zu nutzen, in Sicherheit zu investieren, Partnerschaften außerhalb der Union zu stärken und innenpolitischen Konsens zu schaffen. Dafür ist ein Balanceakt erforderlich: die normativen Grundlagen bewahren, und sich gleichzeitig der realpolitischen Dynamik sowie dem geopolitischen Wettbewerb mit den nötigen strategischen Instrumenten und politischer Entschlossenheit zu stellen.

 

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