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Föderalismus und direkte Demokratie als Erfolgsmodell in der Krise

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Dominique Reber
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Democracy
Culture

Dominique Reber blickt hinter die Kulissen der politischen Schweiz und analysiert, warum das Modell der Alpenrepublik so erfolgreich ist – und was sich Deutschland von der Schweiz und ihrem politischen System abschauen kann.

Die kleine, selbstsichere Alpendemokratie, deren Bürgerinnen und Bürger ihren Dialekt hochhalten und denen die Deutsche Standardsprache schwerfällt, sind föderalistisch und direktdemokratisch bis ins Mark. Sie sind gemütlich, vielleicht ein bisschen langweilig – aber dennoch: das Land ist sehr erfolgreich, trotzdem oder vielleicht gerade, weil es der Europäischen Union und dem Euro immer wieder skeptisch gegenübersteht. In diesem Beitrag soll es darum gehen, dem Erfolgsrezept nachzuspüren und ein paar Thesen zu formulieren, wie vielleicht auch Deutschland “Rosinenpicken” könnte – ein Hobby, dass den Eidgenossen sehr gerne und immer wieder klischeehaft unterstellt wird.

Was weiss man allgemein über die Schweiz? Der Wohlstand ist hoch, die Löhne ebenso, Arbeitslosigkeit gibt es nicht, die Schweizer klagen über Fachkräftemangel – aber auf hohem Niveau: Ärzte, Ingenieure, Handwerker aus ganz Europa strömen ins Land. Das Land hat es geschafft, 2022 insgesamt 200’000 Menschen aufzunehmen, die neu Teil der Bevölkerung sind. Die 9 Millionengrenze wird demnächst erreicht. Und trotz dieser grossen Herausforderungen ist in einer repräsentativen Umfrage die Sorge wegen der Zuwanderung eher zurückgegangen, sie rangiert weit hinter den Themen Klimawandel, Energiekrise und vielen anderen.

Die Schweiz hat auch eine eigene Währung, den Franken – dieses nationale Heiligtum eilt von Hoch zu Hoch und gilt als “Gold aus den Alpen”. Das politische System ist stabil, seit mehreren Jahrzehnten sind in der Landesregierung alle grossen Parteien vertreten, jeder Minister ist gleichzeitig Premierminister, weil direkt vom Parlament mit Mehrheit gewählt. Der Präsident wechselt jährlich und bleibt farblos, die Regierungsbildung 2022 dauerte 2 Stunden – obwohl 2 Bundesräte von ganz links und ganz rechts aus dem Parteienspektrum neu in die Regierungsverantwortung gewählt wurden. Konkordanz ist das Zauberwort, nicht Konkurrenz. Geändert hat sich seit Jahren nichts. Viele CEOs internationaler Konzerne werden in der Schweiz lesefaul: Es lohnt sich nicht die Tageszeitungen zu lesen, denn grosse regulatorische Veränderungen dauern vier bis sechs Jahre.

Foto von Daniel Cox auf Unsplash

Wie kann es sein, dass das Schweizer System mit seinen vier Amtssprachen, dem föderalen System mit 26 Kantonen und 2500 Gemeinden, dem Grundsatz der direkten Demokratie mit vier Volksabstimmungen pro Jahr überhaupt funktioniert und trotz einer endlosen Ineffizienz so gut wirtschaftet. Warum streben auch immer mehr Firmen in die Schweiz, obwohl weder steuerliche noch andere Vorteile winken? Ist es das liberale Arbeitsrecht? Oder sind es andere Elemente, die solche Ergebnisse bringen? Drei Beispiele bieten sich hier an, einmal tiefer hinter die Kulissen zu blicken: die Corona-Pandemie, der Umgang mit der Energiekrise und die Thematik der Migration, denn diese strapazieren die Diskussion in der Schweiz, wie auch in Deutschland.

Daraus ergeben sich drei konkrete Leitsätze, die sich auch auf Deutschland übertragen lassen:

  1. Politische Entscheide möglichst auf die Ebene delegieren, die auch die Konsequenzen trägt
  2. Politischer Einbezug in Entscheide muss gelernt und geübt werden
  3. Politischer Einbezug der Bürgerinnen und Bürger in Entscheide verhindert Polarisierung und macht aus Betroffenen Involvierte

Die Corona Politik gehört vors Volk

Die Corona Pandemie war für die Schweiz ein unfassbarer Schock. Die Systemgrenzen wurden gesprengt. Das Gesundheitsministerium versuchte die Kontrolle über die politischen Entscheide zu erlangen, die Gesundheitsdirektoren in den Kantonen machten dem Minister einen Strich durch die Rechnung: Die Verantwortung für die Entscheidungen lag letztlich in den Händen der Kantonsärzte, die sich bei Seuchen und Epidemien für den Notfall als wichtigste Instanz sehen – 26 Ärzte also, die den Ton angaben und mit den Kantonsregierungen arbeiteten. Die Ärzte waren deshalb am Drücker, weil der Schweizer Föderalismus von unten, also von der Gemeindestufe, nach oben gebaut ist. Nur, wenn es unumgänglich ist und sich klare Synergien ergeben, wird deshalb eine Kompetenz von der Gemeinde zum Kanton und dann zum Bund delegiert. Die politische Verantwortung für die Seuchen- und Epidemiebekämpfung liegt dabei unumstritten bei den Kantonen, Und weil die Kantone keinen Anlass dafür sahen, diese Aufgaben während der akuten Gesundheitskrise zentralistisch zu regeln, musst die Bundesregierung also mit Notrecht aktiv werden, um hier die Oberhand zu gewinnen und nationale Massnahmen durchzusetzen.

Vermutlich ist die Schweizer Demokratie deshalb so erfolgreich, weil sie sowohl die Behörden, wie auch die politischen Instanzen immer wieder diszipliniert.

Der Widerstand in der Bevölkerung war damit vorprogrammiert: Grosse Gruppen von Pandemie-Skeptikern, aber auch Föderalisten und selbsternannten Verteidigern der Freiheit sammelten sich und bekämpften die Politik des Bundesrates, auch auf der Strasse. Der Bundesrat geriet unter Druck, denn er wusste, dass er das Notrecht spätestens nach einem Jahr im Parlament als Gesetz vorlegen musste. Nach den parlamentarischen Beratungen gilt auch hier die Möglichkeit des Volksreferendums – das Damoklesschwert, das immer über Gesetzen schwingt und den Verantwortlichen Behördenvertretern und Politikern Angstschweiß auf die Stirn trieb.

Ein heilsamer Mechanismus: Erstens erlaubte die Karenzfrist von sechs Monaten, dass die Landesregierung in Ruhe arbeiten konnte und zweitens, dass der Zorn der Bürger und auch einiger Parlamentarier in einen Prozess hinein kanalisiert wurde. Das Referendum kam, wie zu erwarten, zu Stande und es wurde abgestimmt, sogar zweimal: Das Ergebnis war ein Triumph für die Regierung, die zwar schlaflose Nächte durchstehen musste, aber siegte. Mit dem ersten und zweiten Abstimmungserfolg zu diesem Notgesetz war dann die Luft für weitere Polemik draußen – die Notmassnahmen waren vorsorglich so austariert, dass die Mehrheitsfähigkeit nie aus den Augen verloren ging.

Die Energiekrise ist eine Zerreißprobe für die Demokratie

Solange es warm ist und genügend Essen auf dem Tisch steht, ist es leicht, demokratisch zu teilen und nach einem Streit wieder zueinander zu finden. Wenn aber die Lichter ausgehen, im vom Wohlstand verwöhnten Alpenland, dann droht der Aufstand derer, die am meisten leiden. Die große Angst vor der Strommangellage erfasste auch die Schweiz 2022. Kalte Winter, dunkle Nächte – ein Graus für die gewählten Volksvertreter. Ein erster Appell erging an den Bundesrat, die Landesregierung. Es brauchte einen Notfallplan und zwar schnell. Gesetzliche Rahmenbedingungen werden in der Schweiz normalerweise mit einem Fahrplan von 48 Monaten angegangen. In diesem Fall: keine Zeit für komplizierte Prozesse. Die Regierung nahm den Ball auf, bewusst, dass solche fundamentalen Fragen keinen Aufschub dulden. Nach nur vier Monaten war ein gesetzlicher Rahmen auf dem Tisch, inklusive Vernehmlassung von hundert Organisationen und Beratung in den parlamentarischen Kommissionen. Niemand wurde übergangen, alle wurden einbezogen, nicht eingehalten wurden die üblichen Fristen. Genau rechtzeitig wurde alles fertig – und kurz vor der Finalisierung im Parlament meldete ein Stromunternehmen Bedarf an und der “Rettungsschirm” des Bundes wurde aktiviert.

Die drei Eidgenossen beim Schwur auf den Rütli (Ölgemälde von Johann Heinrich Füssli, 1780)

Dieses Beispiel der vorsorglichen Vorbereitung eines Gesetzes unter Aussetzung aller Fristen ist auch in der Schweiz ein Novum – und geht wohl nur, weil es kein Verfassungsgericht gibt. Um diese Haurück-Übung zu verstehen, muss man die traumatische Erfahrung der Bankenrettung und des Groundings der stolzen Swissair erlebt haben. Diese haben eine tiefe Wunde in der Seele des Volkes hinterlassen. Die Schweiz stand damals unter Schock.

Bei der Strommangellage ist auf der Basis des Schocks eine echte Innovation entstanden. Der Mut zum Risiko, so ganz unhelvetisch, hat sich diesmal aber gelohnt. Der Rettungsschirm für Stromfirmen wurde als solcher etabliert, die parlamentarische Diskussion lief seriös und professionell ab und das System hat sich stabilisiert. Die Polemik hält sich in Grenzen, ein Referendum steht ausser Frage. Natürlich muss sich noch weisen, ob der gewählte Weg auch für den kommenden Winter tragen wird – aber die Sorge vor einem echten Problem, das zu einer echten Zerreißprobe für eine Demokratie werden kann, hat zu raschem und entschlossenem Handeln geführt. Man könnte sagen: Die Angst vorm Bürgervotum schafft Raum für konstruktive und rasche politische Lösungen. Aus dem Schaden der Bankenkrise und der Swissair-Krise hat die Schweiz gelernt – damals mussten zu viele Amtsträger Konsequenzen tragen.

Migration ist und bleibt sehr anspruchsvoll

Die Zuwanderung ist in der Schweiz ein sehr heißes Eisen. Das kleine Land hat einen Ausländeranteil, der deutlich höher ist als alle anderen Länder in Europa. Im Jahr 2021 waren 39% der Bevölkerung der Schweiz (über 15 Jahre) Ausländer. Nicht zuletzt deshalb scheiterte auch der Anlauf für ein Rahmenabkommen mit der EU – die Unionsbürgerrichtlinie überlud das Fuder, der Bundesrat wagte noch nicht einmal den Gang ins Parlament. 2022 hat die Schweiz wiederum 200’000 zusätzliche Ausländerinnen aufgenommen. Auch hier spielt die direkte Demokratie eine hygienische Rolle: Der Bund ist für die Aufteilung der Migranten zuständig, die Kantone für den Umgang mit diesen und dann auch die Gemeinden. Die Finanzierung wird ebenfalls delegiert. Nun ist es so, dass jeder Gemeindepräsident sich einen Bärendienst tut, wenn er keine Lösung findet, die den Menschen in seiner Gemeinde oder Region akzeptabel erscheint – denn dann sind die Bürgerinnen schnell auf der Straße und aktiv in der Gemeindeversammlung. Diese große Angst vorm Bürger diszipliniert Kantone und Gemeinden ungemein – sie nehmen große Anstrengungen auf sich, um die Integration rasch und professionell zu gestalten. Das Ergebnis ist beeindruckend: Das in der Schweiz jährlich erhobene voll repräsentative Sorgenbarometer der Credit Suisse gilt als wichtigste Referenz. Die Thematik Flüchtlinge und Migration sind trotz Krieg in der Ukraine und doppelt so hoher Migrationszahlen gesunken vom siebten auf den neunten Platz. Der Druck auf die Politik, Menschen erfolgreich zu integrieren, wächst jährlich, denn das Verhältnis zwischen Stimmbürgerinnen und Ausländerinnen verschiebt sich aufgrund der restriktiven Einbürgerungsbestimmungen jährlich weiter zu Gunsten der Letzteren.

Der wichtigste Erfolgsfaktor der Schweiz

Man sagt, Roosevelt habe oft ein altes Sprichwort zitiert: “Speak softly and carry a big stick; you will go far.” Vermutlich ist die Schweizer Demokratie deshalb so erfolgreich, weil sie sowohl die Behörden, wie auch die politischen Instanzen immer wieder diszipliniert. Politiker und Behörden müssen mit der Sorge leben, dass Bürgerinnen und Bürger den großen Stock tragen und diesen auch einsetzen, wenn nötig. Entscheidend scheint dabei, dass die Stimmbürgerinnen sich ihrer Verantwortung bewusst sind und gut trainiert sind und bleiben. Dabei helfen regelmäßige Urnengänge, das Milizparlament, die private Parteienfinanzierung – und auch der eine oder andere Fehler, der von Zeit zu Zeit passiert.

Image by Claudia Beyli from Pixabay
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