Rumänien zwischen demokratischem Anspruch und politischer Realität
Ein Kommentar zur Fragilität demokratischer Prozesse in einem EU-Mitgliedstaat von Mihai Marc.
Rumänien ist ein Land mit klarer strategischer Verankerung im Westen – seit 18 Jahren Mitglied der Europäischen Union und seit 21 Jahren Mitglied der NATO. Doch diese Demokratie an der NATO-Ostflanke zeigt sich fragiler denn je. Die politischen Institutionen verlieren an Vertrauen, die Bevölkerung ist zunehmend desillusioniert und populistische Kräfte gewinnen an Boden. Es entsteht der Eindruck eines Staates, der zwar nominal Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur ist, aber Schwierigkeiten hat, diese Prinzipien auch glaubwürdig zu vertreten.
Eine Regierung ohne Kompass
Jüngste Enthüllungen über Premierminister Marcel Ciolacu (sozial-demokratische Partei – PSD) werfen ein grelles Licht auf das Verständnis von Macht und Verantwortung in der rumänischen Politik. Ciolacu hat über einen Mittelsmann die Legitimität des interimistisch amtierenden Präsidenten Ilie Bolojan infrage gestellt – jenes Amts, das Rumänien auf internationaler Ebene vertritt – und mit Vertretern der US-Administration kommuniziert. Dies wäre nicht nur ein Bruch innenpolitischer Loyalität, sondern auch ein außenpolitisches Signal der Instabilität – wenn Premierminister und Staatspräsident als Vertreter der Exekutiven sind nicht abstimmen – besonders bedenklich angesichts der geopolitischen Spannungen in Osteuropa.
Rumänien will kein Außenseiter sein, aber auch kein braver Mitläufer.
Der Wunsch Ciolacus nach einem Frieden in der Ukraine „um jeden Preis“ lässt sich kaum anders deuten als eine gefährliche Annäherung an russische Narrative. Auch die offene Kritik des Mittelmannes an Frankreichs Präsidenten Macron – während Paris einer der engsten europäischen Partner Bukarests ist – verschärft diese Schieflage weiter. Dutzende weitere Beispiele gäbe es um zu verdeutlichen, dass seit der Rede von J.D. Vance in München Rumäniens Außenpolitik zwischen Lähmung und Panikattacke schaltet – also Inkohärenz.
Ein System, das Kontrolle meidet
Noch schwerer wiegt jedoch, was sich im Inneren des Politikbetriebs abspielt. In Rumänien regiert die Exekutive faktisch am Parlament vorbei. Jahr für Jahr erlässt die Regierung Hunderte von sogenannten Notverordnungen – Gesetze, die ohne parlamentarische Debatte in Kraft treten. Und das nicht etwa wie rechtlich vorgesehen im Ausnahmezustand, sondern unter normalen Umständen, bei stabiler politischer Mehrheit. Man stelle sich vor, die Bundesregierung würde regelmäßig Gesetze in Kraft setzen, ohne den Bundestag einzubeziehen – ein demokratischer Tabubruch.
Ebenso problematisch ist die massive öffentliche Parteienfinanzierung, die zunehmend den Medienmarkt verzerrt. Millionenbeträge an Steuergeld fließen offiziell in Parteikassen, landen aber über Drittfirmen – meist PR- oder Werbeagenturen – bei meinungsbestimmenden Fernsehsendern und Onlineportalen. Dort sorgen sie für eine dauerhaft wohlwollende, zumindest aber unkritische Berichterstattung. Es entsteht ein System gekaufter Öffentlichkeit. Der Vergleich mag zugespitzt wirken, aber er trifft den Kern: Stellen Sie sich vor, die CDU würde jedes Jahr über eine Million Euro an die FAZ weiterleiten, um sich dort regelmäßig Interviews und narrative Präsenz für ihre halbe Fraktion zu sichern. In Rumänien ist dies längst gängige Praxis – mit verheerenden Folgen für journalistische Unabhängigkeit und demokratische Kontrolle.
Digitale Einflussnahme als neue Realität
Die Präsidentenwahl in Rumänien Ende 2024 wurde nach dem ersten Wahlgang vom Verfassungsgericht annulliert – ein Unikum in der jüngeren europäischen Geschichte. Der Grund: massive Verstöße gegen Wahlkampfkennzeichnung und Finanzierungsvorschriften, aber auch Missbrauch digitaler Technologien. Das Gericht stellte fest, dass durch den intransparenten Einsatz künstlicher Intelligenz und sozialer Medien die Chancengleichheit der Kandidaten in erheblichem Maße verletzt worden sei.
Im Zentrum des Skandals steht Călin Georgescu, ein zuvor für Außenstehende kaum bekannter Politiker, der innerhalb weniger Wochen von einem Prozent Zustimmung auf über 23 % der Stimmen im ersten Wahlgang zulegte – offiziell ohne Budget. Eine vom Cyfluence Research Center durchgeführte Analyse zeigt, wie pro-Georgescu-Inhalte auf Plattformen wie TikTok, YouTube, Facebook oder X systematisch, koordiniert und mit Hilfe manipulativer Netzwerke verbreitet wurden. TikTok selbst räumte die Existenz solcher Netzwerke ein. Besonders beunruhigend: Viele der entsprechenden Facebook-Seiten wurden bereits Jahre zuvor eingerichtet, teils aus dem Ausland betrieben, mit Spuren nach Russland oder chinesischen Beschriftungen in den Seitendetails.

Die rumänischen Nachrichtendienste, aber auch internationale Behörden wie das französische Viginum, identifizierten im Verlauf des Wahlprozesses digitale Einflussnahmen und Cyberangriffe aus dem Ausland – unter anderem aus Russland. Darüber hinaus wurden Verbindungen zwischen dem Georgescu-Lager, aufgefundenen Waffen und Bargeld sowie russischen Akteuren öffentlich.
Aber auch aus dem rumänischen Inland wurden gezielte Kampagnen gefahren – nicht nur von Unterstützern Georgescus, sondern auch von seinen politischen Konkurrenten. Diese wollten ihn nicht unbedingt stärken, sondern eine für sie günstigere Konstellation für die zweite Wahlrunde erzwingen.
Der Protest einer verlorenen Generation
Călin Georgescus Erfolg ist ein Symptom. Seine Wählerschaft rekrutiert sich vor allem aus kleinen Städten und ländlichen Regionen – dort, wo die Versprechen der EU-Mitgliedschaft wenig spürbar sind. Auch die rumänische Diaspora in Deutschland, vor allem aus strukturschwachen Regionen stammend, votierte zu über 57 % für Georgescu. Diese Stimmen sind Ausdruck tiefer sozialer Wunden: zurückgelassene Mitlgieder von ausgewanderten Familien, ökonomische Perspektivlosigkeit und eine Entfremdung gegenüber dem politischen System.
Die Kampagne war keine klassische politische Bewegung. Sie war ein emotionales Ventil, ein Schrei der Frustration und Protest gegen „die Alten“ – man meint damit die etablierten Parteien; Die sozial-demokratische PSD und die national-liberale PNL die seit über drei Jahren gemeinsam regieren. Sie zeigte, wie leicht sich Desinformation und Wut in einer medial fragmentierten Gesellschaft verstärken können.
Westbindung ja – aber selbstbewusster
Trotz allem bleibt der prowestliche Kurs im Land fest verankert. Laut einer aktuellen INSCOP-Umfrage unterstützen knapp 90 % der Rumäninnen und Rumänen die Mitgliedschaft in EU und NATO. Doch ebenso viele wünschen sich ein stärkeres Eintreten für nationale Interessen innerhalb dieser Strukturen. Rumänien will kein Außenseiter sein, aber auch kein braver Mitläufer.
Problematisch bleibt jedoch das demokratische Fundament: Zwei Drittel der Bevölkerung glauben, das Land bewege sich in die falsche Richtung. Korruption, politische Instabilität und ein schwacher Rechtsstaat gelten als die Hauptprobleme. Über 68 % der Befragten sehen das Prinzip der Rechtsgleichheit als verletzt – eine Zahl, die demokratische Alarmglocken läuten lassen sollte.
Demokratischer Verfall beginnt mit dem Verlust der Sprache
Die tiefere Krise ist jedoch eine des Miteinanders. Wie die US-Journalistin Amanda Ripley treffend formuliert: Wenn Gesellschaften den konstruktiven Dialog verlernen, beginnt der Zerfall der Demokratie nicht in den Parlamenten, sondern am Küchentisch. In Rumänien herrscht oft ein öffentlicher Diskurs, der nicht auf Verständigung zielt, sondern auf Konfrontation. Wer mit differenzierter Meinung auftritt, wird schnell als Feind oder Verräter markiert – das demokratische Gesprächsklima ist vergiftet.
Was jetzt zählt
Reformen werden nicht aus den Ministerien kommen. Die politische Klasse wirkt festgefahren, institutionelle Innovationen bleiben aus. Hoffnungsträger finden sich jenseits der Politik – in der Zivilgesellschaft, in jungen Unternehmen, in Bildungsinitiativen. Doch diese Keimzellen brauchen Sichtbarkeit und Vertrauen.
Rumänien hat kein Talentdefizit – es hat ein Vertrauensproblem. Wenn Demokratie mehr sein soll als eine Fassade, braucht sie Bürgerinnen und Bürger, die für Prinzipien eintreten – nicht für Personen. Nur so lässt sich der demokratische Anspruch mit der politischen Realität versöhnen.
Die Ereignisse rund um die rumänische Präsidentenwahl zeigen, dass hybride Bedrohungen – von innen wie von außen – nicht unterschätzt werden dürfen. Doch Demokratien sterben nicht immer durch einen Putsch, manchmal sterben sie schleichend – durch Manipulation, Gleichgültigkeit und institutionelle Ermüdung. Die Wiederholung der Wahl im Mai 2025 ist deshalb mehr als eine Formalität: Sie ist ein Testfall für die Resilienz europäischer Demokratien im digitalen Zeitalter.