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Timothy Snyder – Vom Historiker zum Public Intellectual

Published on
Author
Konstantin Bätz
Tags
Authoritarianism
Democracy
Geopolitics

In Berlin wirkt eine koloniale Haltung“, mit diesem Satz fasste der amerikanische Historiker Timothy Snyder kürzlich die deutsche Mentalität in der Ostpolitik zusammen. Wer ist dieser Intellektuelle, der sich in den deutschen Feuilletons mit Jürgen Habermas anlegt und seit Jahren Putins Krieg in der Ukraine thematisiert?

Verdient gemacht hat sich Snyder in diesem Jahr vorrangig mit detaillierten Analysen zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Durch seine regionale Expertise, aber auch auf Grund seiner Bewertung russischer Propaganda, konnte er immer wieder, meist früher als viele andere, die russische Außenpolitik einordnen – seit dem 24.2. sind die deutschen Feuilletons damit beschäftigt, ihre Perspektive in seine Richtung zu überarbeiten. Wer Snyders Gesamtwerk rezipiert, erkennt außerdem einen scharfsinnigen Denker der Macht, der immer wieder in der Lage ist, seine Analyseinstrumente an tagesaktuelle Entwicklungen anzulegen. Beispielsweise las ich über Aleksandr Dugin, der vielerorts zum Hofphilosoph Vladimir Putins stilisiert wird, zum ersten Mal in einem Buch von Snyder.

Mykola Swarnyk, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

I. Ein neuer Blick auf Osteuropa

Snyders akademische Karriere beginnt auf dem Feld der modernen osteuropäischen Geschichte, die er aus der Perspektive der dort lebenden Bevölkerung kontextualisiert. In Bloodlands – Europe Between Hitler and Stalin“ beschreibt er die Ermordung von 14 Millionen Menschen in Osteuropa zwischen 1933 und 1945, vornehmlich in Polen, der Ukraine und Belarus. Die Beschreibung und Auflistung der Opfer des Holodomors (ein Begriff, den Snyder vermeidet), des deutschen Vernichtungskriegs und des Holocausts, ist eine beeindruckende Leistung.

Ein weiterer Verdienst von Bloodlands ist der Perspektivenwechsel auf die Gewaltwellen im Osteuropa des 20. Jahrhunderts. Snyder schafft es, den strikten Gegensatz zwischen sowjetischen Schauprozessen, Holodomor und Holocaust aufzuweichen– in den Augen der Juden, Polen, Ukrainern und anderen Zielen dieser Vernichtungskampagnen sind diese als kontinuierlich Abfolge von Gewaltexzessen, wenn nicht aus einem Guss, so doch in ihrer Wirkung vergleichbar.

In der Zeit des kalten Krieges war für westliche Historiker der Zugang zu Quellen hinter dem Eisernen Vorhang beinahe unmöglich. Währenddessen unterschlug die sowjetische Geschichtsschreibung stalinistische Verbrechen und stellte den zweiten Weltkrieg als Triumph der sowjetischen, und vor allem russischen, Arbeiter gegen die Nazidiktatur dar. Snyder schaffte hingegen mit Quellenarbeit in Osteuropa eine holistische Betrachtung dieses Themenkreises.

Kontra russische Propaganda

Seine beiden jüngeren Bücher, “On Tyranny: Twenty Lessons from the Twentieth Century” und “The Road to Unfreedom: Russia, Europe, America” nehmen zwar aktuelle politische Ereignisse – die Wahl Donald Trumps, der russische hybride Krieg gegen die Ukraine und Europa, das populistische Moment im Westen – zum Anlass, zeigen aber die Macht von Geschichte und Geschichtspolitik beeindruckend klar auf. Insbesondere die Rolle Dugins, dem Snyder eine zentrale Funktion im System Putin zuordnet, wird ausführlich diskutiert.

Das Rechtfertigungschema des Kremls für seine aggressive Außenpolitik gegenüber der Ukraine basiert auf historisch-wissenschaftlich anmutenden Narrativen, die jedoch genauerer Untersuchung nicht standhalten. Fake News, Halbwahrheiten und geschichtliche Verdrehungen vermischen sich zu einem Propagandacocktail, der von Russland in den Westen exportiert wird. Paradigmatisch für dieses Genre stehen Putins Essay aus dem Frühjahr 2021 sowie seine Rede zur Annexion ukrainischer Gebiete am 30.09.2022. Die Entlarvung dieser Art von Propaganda lässt Snyder zu Höchstform auflaufen. Er verbindet wissenschaftliche Tiefe und analytische Ruhe mit rhetorischer Eleganz. Wer ein Nachschlagewerk zur Demaskierung russischer Propaganda sucht, findet vieles schlechtere als Snyders The Road to Unfreedom.

Gesundheitspolitik

Dagegen ist Snyders jüngstes Werk Our Malady: Lessons in Liberty and Solidarity sein bisher persönlichstes: Our Malady nutzt mehrere Krankenhausaufenthalte und eine Nahtoderfahrung Snyders als Anlass, um über die Malaise des amerikanischen Gesundheitssystem zu reflektieren. Mitunter liest sich dies wie eine politische Kampagnenschrift, viele Kapitel könnte man nahezu unverändert in das Buch eines Präsidentschaftskandidaten der demokratischen Partei überführen. Die Texte in Our Malady sind weder ein intellektueller Genuss oder wissenschaftlich begründet.

In seinem Frühwerk nutzte Snyder moralische Appelle selten, meist als krönenden Abschluss von stringenten Argumentationsketten. Dagegen ist Our Malady emotional überladen und hangelt sich von einem superlativen Ausspruch zum nächsten, zusammengehalten nur von seichten Assoziationen zur Kommerzialisierung des Gesundheitssystems als Ursprung allen Übels. Eine solche Analyse könnte gewinnbringend sein, aber Snyder schafft es nicht einmal ansatzweise, an die Brillanz seiner bisherigen Bücher und Essays anzuschließen.

Dabei sind die Nachteile und Exzesse des amerikanischen Gesundheitssystems hinreichend und tiefgehend dokumentiert. Snyders Feststellung, dass Gesundheit eine Voraussetzung der Freiheit ist, ist weder sonderlich originell noch kann sie die Existenz von Our Malady rechtfertigen.

Schuster, bleib bei deinen Leisten

Snyder brilliert in Deutschland als Fachexperte, wenn es um Russland und die Ukraine geht. Dabei schreibt er gegen deutsche Public Inellectuals an, die von „seinen“ Themen wenig verstehen, aber sich trotzdem in offenen Briefen, Büchern und Talkshows austoben. Snyder übersieht, dass er den gleichen Fehler macht, wenn er über Gesundheitspolitik schreibt: er verlässt sein Fachgebiet und riskiert seinen Ruf als sorgfältiger Denker und scharfsinniger Autor.

Einerseits ist der Fokus von Our Malady auf (für Snyder) fachfremde Themen, ob der offensichtlichen persönlichen Komponente des Buchs, verständlich. Andererseits wird er hierdurch den Erwartungen, die er durch sein Werk bis dato geschaffen hat, nicht gerecht. Er schreibt eben nicht nur eine biographische Aufarbeitung seiner Krankenhausaufenthalte, sondern möchte über die destruktive Profitorientierung des US-Gesundheitssystems reflektieren. Er verlässt somit sein Fachgebiet unter Verlust seiner analytischen Kompetenz, denn die Werkzeuge zum Enttarnen russischer Propaganda lassen sich nicht ohne weiteres zum Vergleich von Gesundheitssystemen rekonfigurieren.

Es bleibt zu hoffen, dass Timothy Snyder seine Stärke – die historisch-politische Analyse Osteuropas – weiter für den öffentlichen Diskurs gewinnbringend einsetzen kann. Dagegen wäre niemanden geholfen, wenn er seinen Namen den zahllosen Public Intellectuals, die sich mit begrenztem Mehrwert zu allem Möglichen äußern, hinzufügt – schließlich haben wir derer bereits mehr als genug.

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