Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus
Politische Kämpfe sind immer auch Kämpfe um die Sprache: Wem gelingt es, einen griffigen Slogan zu platzieren, mit seinen Argumenten zur Zielgruppe durchzudringen oder einen etablierten Begriff ganz neu zu prägen? Vor drei Jahren weckte das Wort „Querdenker“ noch Assoziationen mit Kreativköpfen und unkonventionellen Freigeistern. Heute – im Jahr zwei nach dem Ausbruch der Coronapandemie – steht es für eine heterogene, aber breite Front von Coronaleugnern, Verschwörungsideologen und staatsskeptischen Esoterikern. In punkto „political branding“ ist das ein voller Erfolg. Wer eine Ahnung davon gewinnen will, wie diese Gruppe tickt und woher sie kommt, für den bietet Carolin Amlingers und Oliver Nachtweys Buch Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus (2022, Suhrkamp) eine reizvolle, wenn auch theoretisch heillos überfrachtete Lektüre.
Die fast 500 Seiten dicke Monografie, für die die Literaturwissenschaftlerin Amlinger und der Soziologe Nachtwey auf umfassende empirische Erhebungen und dutzende Interviews zurückgreifen konnten, verfolgt zwei Erkenntnisziele: Eine detaillierte Innenansicht der Querdenkerszene mit ihrer vielfältigen Anhängerschaft und ihren Narrativen zu zeichnen – und die Entwicklung dieses Protesttypus aus der vermeintlichen libertären Ideologie des spätmodernen Kapitalismus abzuleiten. Das erste Ziel wird Dank überzeugender ethnografischer Vignetten und einer beinahe journalistischen Schreibe mit Bravour erreicht. Am zweiten Ziel scheitern die Autoren indes krachend.
Gekränkte Freiheit ist immer dann besonders stark, wenn es nah beim Thema bleibt, mit seinen Protagonisten auf Tuchfühlung geht: Da ist die vereinsamte Masseurin, die im Laufe ihres Lebens zwischen Republikanern, Linkspartei und AfD wechselt, stolze Besitzerin eines Reichsbürgerausweises ist und der Bundesregierung vorhält, nichts gegen den schleichenden Verfall ihres Wohnorts zu tun; oder die Hoteleristin, die sich als „christlich-humanistisch“ einstuft und die Coronapolitik als Manipulationsversuch klandestiner Eliten entlarvt zu haben glaubt; oder der Spediteur, der sich aus Misstrauen gegen den Staat sein eigenes Trinkwasserbassin im Garten ausgebaut hat. All diese Biografien eint trotz augenfälliger Unterschiede ein tiefempfundener Exzeptionalismus und eine ebenso große Abwehrhaltung gegen die parlamentarische Demokratie und den pluralistischen Rechtsstaat. Das Alleinstellungsmerkmal des Querdenkertums, so Amlingers und Nachtweys Diagnose, besteht darin, dass sich seine Vertreter als unterdrückte Minderheit wähnen, die die „wahren Zusammenhänge“ des politisch-ökonomischen Systems durchschaut hat – und dadurch zu einem radikalen Anti-Etatismus gezwungen ist. Die Reizworte sind: GEZ-Gebühren, Maskenpflicht und Genderstern. Die Losung lautet: Hauptsache dagegen. Der große Katalysator dieser amorphen Protesthaltung ist, wie könnte es anders sein, die SARS-CoV2-Pandemie des Jahres 2020. Diese sei von vielen Menschen, die sich ohnehin bereits marginalisiert und bevormundet gefühlt hätten, als ultimative „Kränkung“ empfunden worden. So wurde die Revolte zum narzisstischen Backlash.
Mit dieser steilen These rückt die Crux des Buches in den Fokus. Denn Amlinger und Nachtwey wollen eben nicht nur die Querdenkerszene beschreiben und verstehen – sondern vor allem erklären, wie sie entstehen konnte, ja, eigentlich sogar entstehen musste. Schuld hat am Ende der Kapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts: Der spätmoderne Mensch hat unter dem Einfluss von Produktivitäts- und Selbstoptimierungsnarrativen eine völlig übersteigerte Erwartung an seine persönliche Selbstverwirklichung und Autonomie entwickelt („Du kannst sein, wie Du willst“); und weil diese in einer hyperkomplexen, zunehmend kompetitiven Welt permanent enttäuscht wird, reagiert er mit neurotischer Frustration. Er regrediert zum Kind, das in egomaner Wut beständig maximale Freiheiten für sich einfordert, ohne sich der eigenen Verantwortung – gegenüber seinen Mitmenschen, der Umwelt, der Gemeinschaft – zu stellen.
Man kann das so sehen. Aber besonders zwingend ist es nicht. In akribischer Nacherzählung des kompletten Theoriekanons der Frankfurter Schule versuchen die Autoren aufzuzeigen, warum der „libertäre Autoritäre“ – so ihr Name für den narzisstisch gekränkten Menschen in der Spätmoderne – das Endprodukt von internen Zersetzungsprozessen der westlich-kapitalistischen Gesellschaften bildet. Vor allem Theodor W. Adorno steht mit seinen Studien zum autoritären Charakter (1950) Pate. Doch über wohlfeiles Psychologisieren („die Menschen werden rastlos, gereizt, permanent erschöpft“) und reichlich Namedropping (Habermas, Reckwitz, Beck, Sloterdijk etc.) kommt man nicht hinaus. Mitunter wirkt die Monografie mit ihrem ständigen Polemisieren gegen Smart Watches, Fitnessstudios, Instagram und andere Instrumente bzw. Plattformen der Selbstperfektionierung sogar überraschend reaktionär und angestaubt.
Vor allem aber müssen sich Amlinger und Nachtwey den Vorwurf gefallen lassen den aggressiven Anti-Etatismus der Querdenkerbewegung als ein bloßes soziales Ereignis zu analysieren, also als etwas, das unserer Gesellschaft aufgrund von internen Defiziten (Produktionssystem, Ressourcenverteilung, Auflösung sozialer Kohäsion etc.) schlicht widerfährt. Diese strukturalistische Top-Down-Erklärung blendet aus, dass Verschwörungsideologie und Gruppenpolarisierung seit jeher nicht nur ein wichtiges strategisches Instrument politischer Einflussnahme sind, – also gezielt eingesetzt werden –, sondern auch ein einträgliches Geschäftsmodell darstellen. In dieser Hinsicht war Khesrau Behroz‘ exzellenter Podcast Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen? schon ein Jahr früher viel weiter. Im Zeitalter der Plattformökonomie können eloquente Verbreiter „alternativer Fakten“ wie Ken Jebsen, Attila Hildmann oder Alex Jones in Rekordzeit hunderttausende Anhänger mobilisieren und manipulieren; und sie stehen in einem kontinuierlichen Überbietungswettbewerb untereinander. Wenn diese neuartige kommunikative Macht dann noch mit einer chaotischen Krisenkommunikation und einer unkoordinierten Ad-hoc-Politikgestaltung zusammentrifft – wie im Falle der Coronapandemie –, ist das Desaster vorprogrammiert. Um das zu verstehen, kann man freilich getrost auf die Frankfurter Schule verzichten.
Am Ende ist Gekränkte Freiheit eine pointierte Milieustudie mit einer Menge theoretischem Ballast. Es ist vor allem jedoch – und das überrascht vielleicht – kein politisches Buch. Die Fragen, welche Versäumnisse aufseiten der demokratischen Entscheidungsträger das Entstehen eines radikalen anti-etatistischen Milieus begünstigt haben und wie sich unser Demokratie strategisch und operativ künftig besser gegen Verschwörungsideologen wappnen kann, bleiben außen vor. In einer Zeit, da selbsternannte Reichsbürger-Revolutionäre amateurhaft zwar, aber dennoch mit erschreckender Ernsthaftigkeit den Staatsstreich geprobt haben, sind sie jedoch aktuell wie nie.
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