Zum Hauptinhalt

KI-gesteuerte Demokratie? Wie künstliche Intelligenz die politische Landschaft verändert

Veröffentlicht am
Autoren
Konstantin Bätz
Christian Blum
Dominik Meier
Schlagwörter
Demokratie
Technologie

Ohne die Auswirkungen von KI auf das Politische zu reflektieren – und seine eigene Funktions- und Machtlogik zu adressieren – lässt sich keine überzeugende Argumentation finden, wie die Politik den Aufstieg der KI mitgestalten soll.

Der Siegeszug der Künstlichen Intelligenz und insbesondere von lernfähigen Sprachmodellen wie Chat GPT, Bard oder LLaMA hat sich einen Spitzenplatz der globalen Debatte erobert.

Dieser Spitzenplatz ist auf Dauer angelegt und hat wissensrevolutionären Charakter. Zu tiefgreifend schimmern bereits die Auswirkungen auf unsere Lebens- und Arbeitswelt durch. Zu augenfällig sind die Rationalisierungs- und Einsparpotenziale in verschiedensten Berufszweigen – der Industriepark wird genauso betroffen sein, wie die Beratungsbranche oder die Kreativwirtschaft.

Die aktuelle Diskussion über die enormen Innovationssprünge im KI-Bereich fokussiert sich im transatlantischen Diskurs auf zwei Themen: Wie verändert KI in den kommenden Jahren die unternehmerische, kreative und wissenschaftliche Wertschöpfung sowie unsere Erwerbstätigkeit sui generis? Und welche Rahmenbedingungen müssen Regierungen und supranationale Institutionen den KI-Innovatoren und ihren Schöpfungen setzen, um Chancen und Risiken auszubalancieren – und welche Kompetenz und welches Wissen benötigt deren Verwaltungspersonal für eine solche Aufgabe?

Beide Themen sind zweifellos hochrelevant. Bisher positionieren sich die politischen Entscheidungsträger eher als exogen Beteiligte, als ordnende, beschränkende Instanz, die jedoch selbst von den eigentlichen technologischen Umbrüchen merkwürdig unangetastet bleibt. Das Wechselverhältnis zwischen Politik und KI ist noch ein blinder und deshalb gefährlicher Debattenfleck; konkret blenden die Mehrheit der politischen Entscheidungsträger zwei Aspekte bislang aus:

Erstens, welches Veränderungs- und Innovationspotenzial birgt KI für politische Systeme selbst, insbesondere für die liberalen Demokratien des Westens?

Zweitens, welche Auswirkungen zeichnen sich für die Institutionen der Volksvertretung sowie des exekutiven Verwaltungsapparats einerseits und für den vorpolitischen Raum mit seinen Diskursen und Interessenvermittlungsprozessen andererseits ab?

Diese Fragen sind entscheidend. Ohne die Auswirkungen von KI auf das Politische zu reflektieren – und seine eigene Funktions- und Machtlogik zu adressieren – lässt sich keine überzeugende Argumentation finden, wie die Politik den Aufstieg der KI mitgestalten soll. Reflexartige Entscheidungen, wie kurzfristige Verbote, z.B. durch die italienische Regierung, helfen wenig und zeugen eher von hektischer Planungslosigkeit. Politik ist kein getrenntes, wohl aber ein eigenständiges Gesellschaftsfeld, das sich von Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder Religion in Hinblick auf Legitimation, Organisation und Kommunikation fundamental unterscheidet. Es überrascht daher kaum, wenn sich die disruptiven Auswirkungen von KI unterschiedlich zu den anderen Feldern entwickeln würden.

Das Denken in technologischen Szenarien nötigt uns naturgemäß dazu, mit weiter Linse in die Zukunft zu schauen. Dennoch lohnt sich der Blick nicht zuletzt aus planerisch-strategischer Sicht. So lassen sich zwei Grundformen möglicher Auswirkungen ausmachen: inkrementelle und revolutionäre.

Reform

Inkrementelle Veränderungen durch KI-Technologie beeinflussen die Art und Weise, wie in der repräsentativen Demokratie (erfolgreich) Politik betrieben wird – ohne dass sie den Kern des politischen Systems tangieren. Hierzu zählen erstens die Implementierung geopolitischer, makroökonomischer oder klimatischer Analyse- und Prognostik-Instrumente als Grundlage informierter Politikentscheidungen. Die Kombination von Deep-Learning-Technologie mit Big Data könnte aufgrund des Vorhersagepotenzials, z.B. im Bereich Medizintechnik und Pharmakologie, ein erhebliches Verdrängungspotenzial gegenüber klassischen Expertengremien entfalten.

Zweitens wirft die Automatisierung und Optimierung von politischer Textproduktion – von der Wahlkampfrede über die parlamentarische Anfrage bis zum Gesetzestext – Herausforderungen der Authentizität der Repräsentation und des indirekten Einflusses wirtschaftlicher Akteure auf regulatorische Inhalte auf.

Und drittens steht eine schleichende Dominanz eines digital vernetzten Kommunikationsraums durch Bots und Social-Listening-Tools im Raum, die den gleichberechtigten Dialog zwischen Volksvertretern und Interessengruppen – der eigentlich ein Alleinstellungsmerkmal der sozialen Medien ist – desavouriert; umso bedeutsamer könnten im Gegenzug ‚reale‘ Events und die vertraute Face-to-Face-Interaktion werden. Entgegen vermeintlichen Lehren aus der Coronapandemie ist der persönliche Kontakt zwischen Menschen im politischen Raum in liberalen Demokratien nicht substituierbar.

Revolution

Radikale Umbrüche tangieren hingegen den Wesenskern der repräsentativen Demokratie, ihre Systemarchitektur und ihre Legitimationsgrundlagen; auch hier lassen sich drei Aspekte unterscheiden, in denen KI ein Veränderungspotenzial bereithält.

Der erste Faktor ist ein steigender Performanzdruck vonseiten KI-getriebener wirtschaftlicher Akteure oder anderer konkurrierender Staaten dahingehend, genuine politische Entscheidungen vollständig oder teilweise an KI-Systeme zu delegieren; wenn die Maschinen ohnehin ‚besser‘ – sprich: rationaler, unparteiischer und auf einer besseren Informationsbasis – entscheiden als wir, warum sollten wir sie nicht entsprechenden Kompetenzen ausstatten?

Der utopische Vordenker dieses Szenarios ist der schottische Sci-Fi-Visionär Ian M. Banks, dessen „Culture Series“ von wohlgesinnten KIs bevölkert ist, die uns Menschen nicht nur die lästige Erwerbstätigkeit abgenommen haben, sondern auch das mühsame Regierungsgeschäft. Solche Zukunftsaussichten lesen sich aus der Warte dystopischer Autoren wie Harlan Ellison und Philip K. Dick wie naives Wunschdenken: Können wir die ethische Integrität von KI überhaupt garantieren? Das zentrale Stichwort lautet AI Alignment.

Eine Reflexion über das Selbstverständnis als Repräsentanten und Staatsdiener und die ratio essendi des demokratischen Systems im Zeitalter der KI ist überfällig

Die zweite, weniger tiefgreifende Disruption besteht darin, das Potenzial von KI als neutrale Korrekturinstanz auszuschöpfen, die vor Regierungsentscheidungen und Gesetzgebungsverfahren mit enormer Tragweite konsultiert werden muss – und der gegebenenfalls sogar ein eigener Vetoanspruch zukommt. Mussten sich die Herrscher der Antike noch die Weissagungen der delphischen Pythia anhören – mit allen interpretatorischen Schwierigkeiten – so verspricht das Machine Learning nunmehr ein ungleich leistungsfähigeres Orakel.

Der dritte und letzte revolutionäre Umbruch wäre im Feld der KI-basierte Autonomisierung kritischer Infrastruktur und Organisationen zu suchen, so etwa bei der Energieversorgung, Logistik, aber auch Landesverteidigung. Hier stehen Optimierungschancen in Hinblick auf Krisenprävention und -bewältigung im Fokus.

Ob und inwieweit diese Auswirkungen in die Lebens- und Arbeitswelt eindringen wird und mit welchem zeitlichen Index verknüpft ist, ist derzeit eine offene Frage – und sie ist keinesfalls unabhängig von strategischen Entscheidungsparametern menschlicher Politikgestalter.

Regierungsmacht

Technologischer Fortschritt ist nicht naturgesetzlich, obwohl sich diese Sichtweise seit der Aufklärung vor allem in Europa und den USA durchgesetzt hat. Der Primat des Politischen kann sich dezidiert darin ausdrücken, neue Technologien zu unterdrücken; man denke an die Entscheidung des chinesischen Kaisers Yongle, 1525 die komplette Flotte seines Landes zu zerstören, um die Kontrolle über den Außenhandel zu bewahren und Fiskalkosten zu senken. Yongles drastischer Schritt in Richtung Isolation gilt unter westlichen Kommentatoren als Paradebeispiel für den Irrsinn eines Staatsdirigismus. Aber er ist eine eindringliche Erinnerung an eine (destruktive) Gestaltungsmacht des Politischen.

Wie auch immer sich Entscheidungsträger zu den inkrementellen und revolutionären Veränderungspotenzialen der KI positionieren wollen – die notwendige Evaluation dieser Chancen und Risiken ist voraussetzungsreich:

Erstens benötigen Volksvertreter und Verwaltungsfachleute technologische und technologiepolitische Kernkompetenzen zur Identifikation von Use Cases, um mit wirtschaftlichen Akteuren auf Augenhöhe verhandeln zu können. Man muss nicht die radikale Elitenskepsis des britischen Politikberaters Dominic Cummings teilen, um Zweifel zu haben, ob das politische Personal der Gegenwart solche Fertigkeiten besitzt – oder ob die Rekrutierungsmechanismen der parlamentarischen Demokratie sie erfolgreich bündeln könnte.

Zweitens braucht es eine Vision, wie Politik von KI profitieren und wie das Gemeinwohl selbst durch Machine Learning und Automatisierung gesichert werden kann. Eine Reflexion über das Selbstverständnis als Repräsentanten und Staatsdiener und die ratio essendi des demokratischen Systems im Zeitalter der KI ist überfällig: Soll Politik performanzgetrieben sein und sich an volkswirtschaftlichen Kennzahlen wie dem Bruttoinlandsprodukt oder der Vollbeschäftigung messen lassen? Geht es zuerst und vor allem um die souveräne und kollektive Selbstbestimmung eines geschichtlich gewachsenen Gemeinwesens? Oder um die möglichst gerechte, deskriptive Repräsentation und Interessenberücksichtigung heterogener Gesellschaftsgruppen?

Ohne eine Antwort auf diese Fragen werden die Innovationssprünge in der KI-Forschung die Politik vor sich hertreiben bzw. in das klassische Reaktionsschema pressen, das uns von der Coronakrise sowie der Energiepreis- und Klimakrise leidvoll bekannt ist: retrospektive Schadensbegrenzung, hektische Nachjustierung des Regulierungsrahmens, Fahren auf Sicht. Noch gibt es die Chance, sie proaktiv zu beantworten und den Innovationsprozess zu vorausschauend zu gestalten. Wir müssen diese Diskussion dringend starten!

Der zweite Publikationszyklus von Freiheit|Macht|Politik im Jahr 2023 soll daher für diesen Reflexionsprozess neue Denkanstöße geben, Hintergründe aufklären und dringend benötigte Expertise aus verschiedensten Fachrichtungen bündeln. Den Anfang machen der Philosoph Jens Kipper von der University of Rochester und Aljoscha Burchardt vom DFKI.

Wir sind gespannt auf eine inspirierende, pluralistische Debatte und freuen uns auf Kommentare, Denkanstöße und Beiträge.

Schlagwörter
Demokratie
Technologie

Kontakt

Wollen Sie mit uns in Kontakt treten?

Weitere Information zu uns und wie Sie in diesem Magazin veröffentlichen können, finden Sie hier.