Deutschland braucht einen neuen Nationalkonvent
Es ist in Deutschland in Mode gekommen, die 2020er als Zeitalter der Krisen einzuordnen, als Ära, in der simultan zahllose äußere Bedrohungen – Kriege, Klimaveränderungen, Handelskonflikte, Pandemien – unseren Wohlstand, unsere Sicherheit, den Fortbestand unserer Demokratie beeinträchtigen. Der Befund ist nicht falsch. Aber er verdeckt, in seiner Fokussierung auf externe Faktoren, eine dramatischere, innere Krise der Bundesrepublik: eine Institutionen- ebenso wie eine Mentalitätskrise, die sich in der Lähmung politischer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit manifestiert. Dem Reichskanzler und Jahrhundertstrategen Otto von Bismarck wird das Bonmot zugerechnet, wonach Politik die „Kunst des Möglichen“ sei. Diese Aussage lässt sich als Bekenntnis zum Pragmatismus interpretieren, aber auch als Appell an Regierungsverantwortliche, im Dienste des Gemeinwohls das volle Spektrum der Entscheidungsoptionen auszuloten. Politik heißt: möglich machen. Davon waren wir in der Bundesrepublik noch nie so weit entfernt wie heute.
Progressive Klimapolitik? Wird im koalitionären Gezänk öffentlich zerredet. Innovative Bildungs- und Forschungspolitik? Gehen im föderalen Kompetenzgerangel unter. Investitionen in den Kapitalstock des Wirtschaftsstandorts Deutschland? Scheitern an der Schuldenbremse. Politik wird zur Kunst, sich mit dem Unmöglichen abzufinden. Diese nicht einmal annäherungsweise vollständige Auflistung von Fällen politischen Stillstandes des Jahres 2024 ist ein Symptomkatalog für eine tiefergehende Selbstfesselung und Verzagtheit, die über das politische Establishment hinaus auch andere Gesellschaftsfelder, wie Wissenschaft und Wirtschaft erfasst hat. Das Deutschland von heute hat mit dem breitbeinig auftretenden Deutschland der Merkel-Jahre, in denen man meinte, „Pleite-Griechen“ zu belehren und die Gas-Pipeline Nordstream 2 gegen alle Bedenken osteuropäischer Nachbarn und Verbündeten durchboxen zu müssen, nicht mehr viel gemein. Vermutlich ist das ein Segen: Krise und Kritik sind die Voraussetzung für echten Fortschritt und Transformation.
Denn: Unsere heutigen Probleme sind keine Ampelprobleme. Sie sind systemimmanente, strukturelle und auf Defizite der politischen Kultur Deutschlands zurückgehende Probleme. Und sie machen nicht nur eine problemgerechte Fachpolitik unmöglich, sondern – was viel schwerer wiegt –eine strategische Politikgestaltung, die von einer konkreten, positiven Zukunftsvision getragen ist: Wie wollen wir in 20, 30, 50 Jahren leben? Das Syndrom ist bekannt. „Politikverflechtungsfalle“ hat Fritz Scharpf die Lähmung eines Systems durch eingebaute Pattsituationen und Blockadevorbehalte einst getauft und mit einem gewissen Defätismus darauf verwiesen, solche Verflechtungen seien kategorisch nicht aufhebbar. War dieser Umstand schon in der von vielen Zeitgenossen als „bleiern“ empfundenen Ära Helmut Kohls ein Ärgernis, so hat er sich in unserer zunehmend polarisierten und fragmentierten Parteienlandschaft und der fundamentalen Disparität zwischen Ost- und Westdeutschland zu einer existenziellen Bedrohung ausgewachsen.
Nur, stimmt Scharpfs Diagnose, sprich, ist die Falle der lähmenden Politikverflechtung wirklich unentrinnbar?
Sie ist es nur, wenn wir die Lösung im System selbst suchen und auf eine Politik bauen, die eine grundlegende Transformation nicht (mehr) aus eigener Kraft einleiten kann. Als 1948/49 der Parlamentarische Rat, autorisiert durch die Alliierten, die Nachkriegsverfassung aus dem Boden stampften, konnte er an die Tradition deutschsprachiger Verfassungslehrer vom Schlage eines Hans Kelsen anknüpfen und an den aufgeklärten Humanismus Immanuel Kants; aber gleichwohl betrat er Neuland. Das 75-jährige „Provisorium“ des Grundgesetzes verdankte seine Legitimation der Genese aus einem außerordentlichen Konvent, der nicht nur ein breitestmögliches Spektrum politischer Positionen abbildete, sondern auch eine historisch außergewöhnliche Synergie von Kompetenzen sowie die Befolgung deliberativer Tugenden der politischen Debatte sicherstellte.
Hier sollten wir anschließen. Deutschland braucht einen neuen Nationalkonvent – als Signal des Auf- und Umbruchs, das vom Volkssouverän selbst ausgeht; als Katalysator für neue Lösungsansätze jenseits etablierter Denkschemata („Been there, done that“); als Ausdruck einer neuen Gemeinsinnigkeit, die über verhärtete Antagonismen („Ost gegen West“, „Alt gegen Jung“, „Stadt gegen Land“ etc.) hinwegreicht, indem sie sich auf ein allseitiges Ziel richtet. Ein Nationalkonvent birgt das Potenzial, dringende Reformentwürfe mit überparteilichem demokratischen Mandat an eine politische Elite heranzutragen, die zu epochalen Disruptionen nicht mehr in der Lage ist. Und er ist eine Chance, unsere gespaltene, von der parlamentarischen Demokratie entfremdete Gesellschaft wieder hinter einem politischen Schlüsselereignis zu versammeln. Die Mission eines solchen Konvents ist nicht weniger, als Politik wieder möglich zu machen.
Dieser in der vorliegenden Form noch abstrakte Impuls muss in drei Hinsichten konkretisiert bzw. mit Leben gefüllt werden.
Erstens, die inhaltliche Ausrichtung: Welche Aufgabenbereiche fallen dem Konvent zu? Hier reicht das Spektrum von einer minimalistischen Position, die sich auf die Identifikation punktueller Problemlösungsansätze (etwa im Bereich der Wirtschafts- oder Sozialpolitik) beschränkt, zu einer maximalistischen Position, die auf den Entwurf einer neuen Verfassung hinausläuft.
Zweitens, die formell-prozessuale Ausrichtung, bei der Fragen im Fokus stehen wie etwa: Hat der Konvent nur konsultatorische Funktion für Amts- und Mandatsträger oder hat er die Autorität, das politische System aus eigener Macht zu verändern? Und: Wie setzt sich der Konvent zusammen (deskriptive Repräsentation nach Gesellschaftsschichten, Einkommensklassen etc., Wahl oder randomisierte Selektion), nach welchen Grundsätzen entscheidet der Konvent, und wie lange und wo tagt er überhaupt?
Drittens, die machtstrategisch-operative Ausrichtung: Wie kann der Konvent in unsere durch Parteien, Verbände und die entsprechenden korporative Aushandlungsstrukturen geprägte Politiklandschaft integriert werden, ohne am Widerstand der etablierten Akteure zu scheitern? Und: Wie kann eine flächendeckende gesellschaftliche Akzeptanz des Konvents und seiner Ergebnisse unabhängig von Region, Bildungsstand, politischer Ausrichtung etc. gewährleistet werden?
Von diesen Fragen hängt ab, ob der Konvent als elitärer Expertenzirkel, plebiszitäres Forum, politisches Feigenblatt oder als echter Aufbruch zu einem neuen Politikverständnis wahrgenommen werden wird – und welche reale Gestaltungswirkung er entfalten kann. Antworten müssen aus dem Verbund von Politik-, Geschichts-, Wirtschaftswissenschaften und anderer akademischer Disziplinen erfolgen, die Best Practices und historische Vorbilder ebenso einschätzen können, wie institutionelle, juristische Hürden. Aber was ebenso unverzichtbar ist, ist der Blick aus der gelebten Praxis deutscher Demokratie – von gewählten Volksvertretern ebenso wie von Verwaltungsbeamten, die die konkreten Erfordernisse zeitgenössischer Regulierung einer komplexen, global und supranational eingebundenen Politik-Arena kennen wie kaum ein anderer.
Wenn es gelingt, die geballte politische Expertise unserer Republik hinter der Vision eines neuen Nationalkonvents zu versammeln und sie in der Mission zu vereinen, diesen mit Inhalt und Kontur zu versehen, sind der Ausweg aus der Lähmung unseres politischen Systems und die Wiedererlangung von Politikgestaltungs- und Strategiefähigkeit möglich. Noch ist Zeit.
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