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Die Redaktion liest

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Vanessa Victoria Tiede
Konstantin Bätz
Christian Blum

Zum Ende des Jahres schauen wir zurück auf die Bücher, die uns in diesem Jahr bewegt und berührt haben. Es geht um Politik, aber nicht nur. Wenn unter dem Tannenbaum noch ein gutes Buch fehlt – vielleicht liefern wir ein bisschen Inspiration.

Gelesen haben dieses Jahr Redakteurin Vanessa Tiede, Redaktionsleiter Konstantin Bätz und Herausgeber Christian Blum, jeweils in den Kategorien Sachbuch, Belletristik und Essay. Eigenwerbung und Essays in Freiheit Macht Politik waren von vornherein ausgeschlossen.

Viele der rezensierten Schriften wurden dieses Jahr veröffentlicht, aber nicht alle. Denn auch älteres und altes ist es wert, (wieder) entdeckt zu werden.

Sachbuch

Die Stille Gewalt

von Asha Hedayati, 192 Seiten, Rowohlt Taschenbuch, 2023

In ihrem Buch Die Stille Gewalt: Wie der Staat Frauen alleinlässt argumentiert Asha Hedayati fundiert und pointiert dafür, dass Politik und Recht Gewalt gegen Frauen durch (Ex-)Partner eher verstärken, als sie zu schützen. Dabei stützt sie sich auf empirische Daten, Fachwissen sowie ein Jahrzehnt Erfahrung als Familienrechtsanwältin. Hedayatis Handlungsempfehlungen an die Politik beruhen auf der belegten Tatsache, dass der gefährlichste Ort für eine Frau ihr eigenes Zuhause ist.

Und dort hat die Gewalt gegen sie endemische Ausmaße. Entgegen manch einer Erwartung belegt Hedayati eindrücklich, dass diese Aussage Länder wie Deutschland einschließt, die sich als aufgeklärt zum Thema Geschlechtergerechtigkeit verstehen: statistisch wird alle drei Tage bei uns eine Frau von ihrem aktuellen oder Ex-Partner umgebracht, fast an jedem Tag findet der Versuch statt, Tendenz sogar steigend. Dem Argument, dass es Frauen in Deutschland sehr viel besser ginge als in vielen anderen Ländern, stellt sie mit Praxisbeispielen entgegen, dass Gewalt gegen Frauen durch (Ex-) Partner mit steigender Emanzipation ebenfalls zunehme, da dies mit einem Kontroll- und Machtverlust für Männer einher gehe. Inhaltlich ein schweres Thema, das Asha Hedayati mit einer erstaunlichen Leichtigkeit effektiv in ihrem Buch in unter 200 Seiten kommuniziert in der Hoffnung, dass Entscheidungsträger*innen weibliche Opfer physischer, psychischer, sexueller und wirtschaftlicher Gewalt durch (Ex-)Partner nicht mehr depriorisieren.

Gelesen (und rezensiert) von Vanessa Victoria Tiede.

Todeswalzer

von Christian Bommarius, 320 Seiten, dtv, 2024.

Todeswalzer. Der Sommer 1944 von Christian Bommarius zeichnet ein Panorama des Kriegssommers 1944 in Europa. Perspektiven von deutschen Soldaten und Zivilistinnen an und hinter der Front, gemischt mit schonungslosen Beschreibungen der humanitären Situation, ergeben ein einprägsames Bild von einem Kontinent im Krieg. Viele Deutsche glauben noch an Führer und Sieg – ein realistisches Bild von der Lage setzt sich trotz verheerender Bombardierung und Landung der Alliierten in Nordfrankreich nur bei wenigen durch. Der Holocaust erreichte seinen Höhepunkt, Hilfe von Deutschen für Juden bleibt die Ausnahme. Bei aller Differenzierung und Nuancen der einzelnen Perspektiven ergibt sich ein schlüssiges Bild Deutschlands. Ein durchideologisiertes Deutschland, mit einer Gesellschaft die, mit wenigen Abzügen, voll hinter dem Krieg des Nazi Regimes steht.

Nicht nur als Deutscher ist diese Perspektive interessant. In Europa ist 80 Jahre später wieder Krieg, und wie sich ein solcher Krieg auf die Zivilbevölkerung und Soldaten auswirkt ist einen zweiten und dritten Blick wert.

Gelesen von Konstantin Bätz.

Start with Why

von Simon Sinek, 256 Seiten, Portfolio, 2009.

Simon Sineks Buch Start with Why stellt die These auf, dass erfolgreiche Führungspersönlichkeiten und Organisationen nicht durch was oder wie sie etwas tun herausragen, sondern durch ihr klares Warum – den Sinn und Zweck, der ihr Handeln antreibt. Anhand des von ihm entwickelten “Golden Circle” erklärt Sinek, wie dieses “Warum” den Kern jeder Vision bildet und Menschen emotional verbindet. Durch inspirierende Beispiele, wie Apple oder Martin Luther King, zeigt er, dass der Erfolg langfristig von einer authentischen und klar kommunizierten Überzeugung abhängt.

Gerade für die politische Kommunikation bietet Start with Why wichtige Lektionen. In Zeiten zunehmender Polarisierung und Skepsis gegenüber Parteien sind Wählerinnen und Wähler weniger an technischen Details oder Versprechungen interessiert, sondern suchen nach glaubwürdigen Visionen, die sie emotional ansprechen und mobilisieren. Politiker und Parteien, die ein starkes, klar kommuniziertes Warum vermitteln – etwa Gerechtigkeit, Freiheit oder Nachhaltigkeit – können Menschen für ihre Anliegen begeistern und Vertrauen aufbauen. Das Buch liefert damit wertvolle Impulse, wie politische Akteure authentische Botschaften formulieren können, die über den reinen Wahlkampf hinauswirken.

Gelesen von Christian Blum.

Belletristik

Die Knochenuhren

von David Mitchell, übersetzt von Volker Oldenburg, 816 Seiten, Rowohlt Taschenbuch, 2017.

David Mitchells Die Knochenuhren ist ein epischer Roman, der fesselnd und unterhaltsam schwere Themen wie die Vergänglichkeit des Lebens, Zeit und die (moralischen) Konsequenzen menschlicher Entscheidungen in einem einzigartigen Kunstwerk vereint. Die Geschichte entfaltet sich in sechs miteinander verflochtenen Zeitabschnitten, die aus der Perspektive verschiedener Charaktere mit einzigartigen Stimmen erzählt werden. Die Leserschaft begleitet beispielsweise einen ehrgeizigen Kriegsreporter, einen gescheiterten Schriftsteller und eine junge Ärztin. Im Zentrum steht Holly Sykes, eine junge Frau, deren Leben durch ein übernatürliches Geflecht von Ereignissen geprägt wird. Der Roman beginnt in den 1980er-Jahren, als Holly nach einem Streit von zu Hause wegläuft und auf mysteriöse Figuren trifft, die in einen jahrhundertealten Konflikt zwischen zwei Gruppen von Unsterblichen verwickelt sind. Die Handlung spannt sich über Jahrzehnte und führt bis in die Zukunft. Mitchell verbindet in seinem Buch meisterhaft verschiedene Genres wie Philosophie, Science-Fiction und magischen Realismus. Es lohnt sich daher, dem Buch den Fokus zu schenken, den es benötigt: auf 800 Seiten mit wechselnden Hauptfiguren durch unterschiedliche Generationen verliert man sonst leicht den Überblick. Gerade die Zukunftsvision, die Mitchell zeichnet, werde ich nicht so schnell vergessen- einschließlich der Frage, was mit unserer Gesellschaft passiert, sollte das Internet zerbrechen.

Gelesen von Vanessa Victoria Tiede.

The Marriage Plot

von Jeffrey Eugenides, 416 Seiten, Fourth Estate, 2012.

The Marriage Plot von Jeffrey Eugenides handelt von drei jungen Erwachsenen, die im intellektuellen Umfeld der 1980er Jahren Ideen ausprobieren, um ihre Identität zu (er)finden. Madeleine Hanne, eine Literaturwissenschaftlerin in einer Dreiecksbeziehung, Leonard, ein manisch-depressiver Biologe und Mitchell ein Theologe ohne Glauben schließen ihre Studien an der Brown University ab müssen sich zum Beginn des Romans in der Welt außerhalb der Universität zurechtfinden.

In einer Hommage an die Viktorianischen Liebesgeschichten, die dem Roman ihren Titel geben verbindet Eugenides tiefe, mehrdimensionale Charakterzeichnungen mit leichter, fließender Prosa. Der Spannungsbogen ergibt sich einerseits aus der Dreiecksliebesbeziehung zwischen Madeleine, Leonard und Mitchell und einerseits aus der damit verwobenen Frage, welchen Weg die drei einschlagen in der existenzialistischen Freiheit, die sich ihnen mit dem erfolgreichen Abschluss des Colleges auftut.

Eugenides bekannteste Werk ist Middelsex – ein gehaltvolles, schweres, teils dunkles Buch. Marriage Plot kommt dagegen wie dessen etwas freundlicher junger Bruder daher. Bekömmlicher, aber nicht weniger tief oder fesselnd, und nicht zuletzt um einige Seiten kürzer.

Gelesen von Konstantin Bätz.

Das Ende der Einsamkeit

von Benedict Wells, 368 Seiten, Diogenes, 2016.

In Das Ende der Einsamkeit erzählt Benedict Wells die Geschichte von Jules, der zusammen mit seinen Geschwistern nach dem plötzlichen Tod der Eltern in ein Internat geschickt wird. Dieses traumatische Ereignis markiert den Wendepunkt ihrer Kindheit und prägt ihre Biografien nachhaltig: Jules, einst aufgeweckt und fantasievoll, zieht sich zurück und entwickelt eine tief sitzende Einsamkeit, während auch seine Geschwister auf unterschiedliche Weise mit Verlust und Orientierungslosigkeit kämpfen. Wells schildert eindringlich, wie ein einziges Ereignis das Leben unwiderruflich beeinflussen kann – und wie die Protagonisten im Laufe der Jahre versuchen, ihren Weg zurück ins Leben und zueinander zu finden.

Das Buch wirft dabei die faszinierende Frage nach alternativen Weltverläufen auf: Wie hätten sich Jules und seine Geschwister entwickelt, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Diese Überlegungen begleiten den Leser als unterschwellige Spur durch die Erzählung und verleihen der Geschichte eine tiefgründige Dimension. Das Ende der Einsamkeit zeigt, wie prägend Schicksalsschläge für eine Biografie sein können, macht aber gleichzeitig Mut, indem es die Kraft von Liebe und Vergebung betont, die auch in scheinbar festgefahrenen Lebenswegen neue Perspektiven eröffnen können.

Gelesen von Christian Blum.

Essay

The Biggest Fraud in German History

von Ben Taub, The New Yorker, 2024.

Ich habe es mir inzwischen angewöhnt, dass ich jeden Artikel von Journalist Ben Taub im New Yorker lese, unabhängig vom Thema- der (junge) Mann schreibt mit goldener Feder. Das gilt auch für How the Biggest Fraud in German History Unravelled, der als klassischer New Yorker longread eine Tiefenanalyse des Wirecard-Skandals, einem der größten Wirtschaftsbetrugsfälle in der Geschichte Deutschlands, bietet. In der für den New Yorker typischen Narrativform beschreibt Taub den rasanten Aufstieg des Fintech-Unternehmens Wirecard, das einst als technologische Erfolgsgeschichte gefeiert wurde, bevor es 2020 spektakulär zusammenbrach, nachdem ein Bilanzloch von 1,9 Milliarden Euro aufgedeckt wurde. Er beleuchtet die Hauptakteure des Skandals, insbesondere Jan Marsalek, den undurchsichtigen (und bis heute flüchtigen) COO des Unternehmens, der, wie inzwischen klar ist, Verbindungen zu russischen Geheimdiensten pflegte. Er analysiert in perfidem Detail, wie Wirecard Investoren wie Prüfer täuschte und kritisiert die Rolle der deutschen Aufsichtsbehörden und Wirtschaftsprüfer scharf, die wiederholt versagten und den Betrug deckten, sei es aus Unfähigkeit oder politischen Gründen. Ebenso hart geht Taub mit dem politische Establishment zu Gericht, das Wirecard jahrelang als Aushängeschild der deutschen Wirtschaft förderte. Der Artikel ist eine zeitaufwändige wie fesselnde Lektüre, die nicht nur den Fall Wirecard beleuchtet, sondern auch grundsätzlich aufzeigt, wie leicht Vertrauen in vermeintlich regulierten Märkten missbraucht werden kann.

Gelesen von Vanessa Victoria Tiede.

Vibeshift

von Tyler Cowen, Marginal Revolutions, 2024

In seinem Blogbeitrag The changes in vibes — why did they happen? liefert Tyler Cowen eine vorausschauende Analyse der politischen und gesellschaftlichen Dynamiken, die den gegenwärtigen Aufstieg von Donald Trump trotz zahlreicher Skandale und rechtlicher Probleme erklären. Geschrieben im Juli 2024 erklärt dieser Essay, warum Donald Trump diesen November dann doch so klar gewann.

Die Serie prägnanter Thesen wertet nicht, sondern beschreibt – kantig und klar: von der intelligenten Nutzung sozialer Medien durch Trump und seine Anhänger über die Intellektualisierung des „Trumpian Right“ bis hin zu gesellschaftlichen Trends wie der Deindustrialisierung oder der feminisierten Wahrnehmung der Demokraten in der Bevölkerung. Jede These hätte einen eigenen Essay verdient, doch erst die Kürze der Thesen lässt die gewinnbringende Gesamtschau zu.

Cowens Analyse bietet aber nicht nur Erklärungen des Status Quo, sondern regt auch zum Nachdenken über die tieferliegenden Mechanismen unserer politischen Kultur an. Für alle, die sich für die aktuellen polit-kulturellen Entwicklungen in den USA interessieren, ist dieser Blogbeitrag ein intellektuell herausfordernder und dennoch leicht zugänglicher Text. Nach dessen Lektüre wundert man sich kaum mehr, dass Kamala Harris die Wahl verlor.

Gelesen von Konstantin Bätz.

AfD Tricks für Demokraten

von Carline Moor, How to story Substack, 2024.

Der Artikel Der AfD-Trick für Demokraten der Kommunikationsberaterin und ehemaligen SPD-Newsroom-Chefin Carline Moor zeigt, wie die AfD TikTok erfolgreich nutzt, um jüngere Zielgruppen zu erreichen. Mit emotionalen Kurzvideos, die unterhaltsam und provokant zugleich sind, erzielt sie enorme Reichweiten und bindet Wählerinnen und Wähler, die über klassische Kanäle kaum angesprochen werden. Statt TikTok als Plattform zu verteufeln, plädiert der Artikel dafür, dass demokratische Parteien den kreativen und authentischen Umgang mit sozialen Medien lernen. So könnten sie ihre eigenen Werte und Botschaften zugänglicher und wirksamer an die nächste Generation vermitteln.

Im Kontext des aktuellen TikTok-Bashings ist der Artikel ein wichtiger Impulsgeber: Wer die Plattform pauschal ablehnt, gibt nicht nur ein wichtiges Spielfeld auf, sondern unterschätzt die Bedeutung digitaler Räume für politische Kommunikation. Die erfolgreiche Nutzung von TikTok durch die AfD zeigt, dass es um mehr geht als Unterhaltung – es geht darum, auf Augenhöhe zu kommunizieren und gesellschaftliche Debatten aktiv mitzugestalten. Demokratische Parteien könnten hier eine Chance sehen, statt sich in technokratischer Kritik zu verlieren.

Gelesen von Christian Blum.

 

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