Die Wut der Vergessenen
Nachdem J.D. Vance zum republikanischen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft aufstieg, nahm der Ullstein Verlag die deutsche Übersetzung von „Hillbilly Elegy“ aus dem Sortiment. Ob diese Entscheidung gerechtfertigt war und was das Buch über Vances politisches Programm verrät, analysiert Christian Blum.
Es fällt schwer, sich Olaf Scholz weinend vorzustellen. Und doch, bekundete der Bundeskanzler vor rund einem Jahr in der Süddeutschen Zeitung, habe ein Autor ihn zu Tränen gerührt. Das Buch: „Hillbilly Elegy“ (erschienen 2016 bei Harper und 2017 in deutscher Übersetzung bei Ullstein) von J.D. Vance.
Seit die Kanzlertränen getrocknet sind, ist freilich einiges passiert. Vance ist vom Venture-Capital-Unternehmer und Intimus des libertären Tech-Milliardärs Peter Thiel zum Running Mate an der Seite Donald Trumps für die US-Wahlen 2024 aufgestiegen. Er, der einst Trump als geistiges „Heroin“ für die weiße Unterschicht geschmäht hatte, singt mit im Chor der MAGA-Enthusiasten. Die Liedzeilen sind so bekannt wie bizarr: Trump hat in Wahrheit die 2020er Präsidentschaftswahlen gewonnen, linksliberale Gender-Ideologie zerstört Amerikas Seele, Migranten essen Hunde und Katzen argloser US-Bürger.
Wie liest sich „Hillbilly Elegy“ vor dieser Kontrastfolie? Ist das Buch eine ideologische Vorausahnung von Vances Politkarriere, die die Entscheidung Ullsteins rechtfertigt, das Buch aus dem Programm zu werfen?
Ja und nein. Zunächst einmal ist „Hillbilly Elegy“ genau das, was sein Titel verheißt: ein Klagelied auf das traurige Schicksal der appalachischen Bergbewohner Kentuckys, jener Nachfahren schottisch-irischer Migranten, die seit Generationen unter wirtschaftlicher Benachteiligung, gesellschaftlicher Marginalisierung, hoher Drogendelinquenz und den Auswirkungen häuslicher Gewalt leiden. In dieser Szenerie, die Vance mit journalistischer Prägnanz ausleuchtet – er war Kriegsberichterstatter bei den Marines – beginnt er seine familiengeschichtliche, später autobiographische Erzählung. Vances Großeltern ziehen aus den Appalachen nach Ohio, um vom wirtschaftlichen Aufschwung der Industrie zu profitieren. Aber das Mindset der Appalachen nehmen sie mit: Gewalt, Unstetigkeit und das permanente Gefühl, nicht dazuzugehören. Vances Mutter und viele andere Hillbillies, die aus ihrer Heimatregion entwurzelt wurden, kommen niemals im Mittelschicht-Amerika an; sie stolpern in die Falle der Medikamentenabhängigkeit: Opiate und Benzodiazepine. Der junge Vance wächst mit den wechselnden Vaterfiguren auf – sein leiblicher Vater wird alsbald zu einer Randfigur –, erträgt die verbalen und physischen Gewaltausbrüche seiner Mutter und flüchtet sich immer wieder zu seinen Großeltern, die ihm Halt geben und in dem fragilen, traumatisierten Jungen einen unbändigen Erfolgswillen anlegen.
All das liest sich nicht selten ergreifend und glaubhaft, aber in seiner seitenlangen Ausbreitung redundant. Nach dem x-ten gescheiterten Rehab-Versuch der Mutter und dem ebenso oft erklingenden Loblied auf die Großeltern, die ihre Ehekonflikte zwar mit Fäusten, fliegenden Tellern und Schusswaffen austragen, aber eben auch loyal, leidenschaftlich und liebevoll sind, blättert man zusehends schneller.
Und doch lohnt es sich, dranzubleiben – vor allem wegen Vances sozialgeschichtlichen Betrachtungen, die mitunter mit ethnographischer Schärfe in sein eigenes Milieu vordringen. Der Aufsteiger Vance beschreibt haarklein Unterschiede im Einkaufverhalten seiner eigenen Familie und wirtschaftlich bessergestellter Nachbarn; er schildert das Mobbing, das er erfährt, weil er sich keine standesgemäßen Klamotten für den Nebenjob auf dem Golfplatz leisten kann; er hakt die Fast-Food-Läden seiner Kindheitserinnerungen mit derselben Konsequenz ab, wie einst Bret Easton Ellis Luxusmarken in „American Psycho“.
Für die Misere „seiner Leute“ hält Vance eine doppelte Erklärung parat: Da ist einerseits die Globalisierung, die der US-Wirtschaftselite obszön hohe Gewinne beschert, aber die einheimische Arbeiterschaft mit Billigung der Politik in die Arbeits- und Perspektivlosigkeit stürzt – und da ist andererseits die „learned helplessness“, die fatalistische Schicksalsergebenheit jener Minderprivilegierten, die sich mit staatlichen Brosamen und Sozialhilfe abfinden, weil es ohnehin keinen Ausweg gibt. Diese Doppelerklärung ist viel kritisiert worden – als vereinseitigend, soziologisch unterkomplex. Und doch wirkt ein solches akademisches Deklassieren von Vances unbestreitbarer Innenperspektive auf Armut und Gewalt intellektuell abgehoben.
Ob Mitglieder des Establishments, wie Trump und Thiel, wirklich wissen, wen sie mit Vance an ihrer Brust genährt haben?
Das alles durchdringende Gefühl in Vances Schilderungen und Erklärungen solcher Zusammenhänge ist Wut: „For my entire life, I’d harbored resentment at the world. I was mad at my mother and father, mad that I rode the bus to school while the other kids caught rides with friends, mad that my clothes didn’t come from Abercrombie”. Diese Wut wirkt authentisch, und sie liefert einen Einblick in die Befindlichkeit einer ganzen Bevölkerungsgruppe – vielleicht sogar einer globalen Klasse –, deren Geisteshaltung und Gemütszustände selten Gegenstand literarischer Betrachtungen jenseits von Klischees sind. Man fragt sich unwillkürlich, ob Vance diese unbändige Wut noch immer in sich trägt – und ob Mitglieder des Establishments, wie Trump und Thiel, wirklich wissen, wen sie mit Vance an ihrer Brust genährt haben.
Im Vergleich zu diesen Milieu-Studien fällt der Rest des Buches ab: Mit zunehmender Reife emanzipiert sich Vance von der drogenabhängigen Mutter, lernt beim Marine Corps die Tugenden von Disziplin und Selbstbeherrschung und gleitet mit Aplomb durchs Jurastudium. So viel Eigenlob ist nicht nur inhaltlich langweilig; sobald Vance sein Lieblingsterrain, den pauperisierten Rust Belt und die Appalachen verlässt, geht ihm das packende Vokabular aus. So endet „Hillbilly Elegy“ wie ein Erfolgsgeschichten-Buch unter vielen.
Was bleibt ist ein zwiespältiger Eindruck, der zwischen dickleibiger Autobiografie und packender Ethnographie oszilliert. Wer indes verstehen will, wie Amerikas Nationalkonservative ticken – also jene neue Elite, die antiglobalistisch, reaktionär und meritokratisch eingestellt ist –, der findet in „Hillbilly Elegy“ einen hervorragenden Schlüssel. Dass Ullstein das Buch aus dem Programm genommen hat, ist nicht nur ein bedrückendes, aber in den Zeitgeist passendes Zeugnis dafür, dass man dort die wichtige Trennung von Werk und Autor vergessen hat; es gleicht auch dem Versuch, eine wütende Stimme zum Schweigen zu bringen.