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Allmende braucht Zusammenhalt

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Eva Maria Welskop-Deffaa
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Energie
Democracy
Identity

Eva Maria Welskop-Deffaa skizziert eine Vision der Klimapolitik, die auf Miteinander statt Konfrontation setzt.

Der US-Bundesstaat Maine ist berühmt für seine felsige Küste und dafür, bei Präsidentschaftswahlen nicht nach dem amerikanischen „winner-takes-all“-Prinzip zu entscheiden – in Maine werden die Stimmen für die Wahlmänner durch ein „popular vote“ gesplittet. Bekanntheit verdankt Maine aber auch den Arbeiten der Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom, die sich über viele Jahre mit der Frage beschäftigte, wie sich Menschen organisieren, um gemeinschaftlich komplexe Probleme im Umgang mit knappen Ressourcen zu lösen: Um ein Haar wären in den 1920er Jahren die Hummerbestände Maines durch Überfischung zerstört worden. Erst im letzten Moment erkannten die Fischer, dass der Wettbewerb um knapper werdende Bestände die Existenz aller vernichten würde – derer mit den großen und derer mit den kleinen Booten. Sie zogen die Notbremse und entwickelten gemeinsam neue, angepasste Entnahmeregeln. Gefangene trächtige Weibchen zum Beispiel mussten nun am Schwanz markiert und wieder freigelassen werden. Die Markierung zeigte sofort, wenn ein Weibchen den Regeln widersprechend auf den Markt gebracht wurde. Heute zählt Maine zu den erfolgreichsten Hummerfischerei-Zentren weltweit und beweist: Bei Allmende-Gütern (common pool goods) gelingt nachhaltige Schonung nur, wenn die Einsparung der einen nicht durch Mehrgebrauch der anderen aufgefressen wird. Es braucht gemeinschaftliche Initiativen, die die Wucht einer wachstumsorientierten Marktlogik brechen.

Kooperation als Schlüssel für das Wohlergehen der Nationen

Die Maßnahmen, die in Maine funktionierten, lassen sich nicht 1:1 auf andere Umweltgefährdungen durch Übernutzung übertragen. Funktionierende Regeln müssen den örtlichen und kulturellen Bedingungen entsprechen, Aneignungs- und Bereitstellungsregeln sind aufeinander abzustimmen. Die Verteilung der Kosten unter den Nutzer_innen sollte so weit wie möglich zur Verteilung des Nutzens im Verhältnis stehen. Und die Regeln dürfen nicht oktroyiert sein – erfolgreich sind sie als Ergebnis gemeinschaftlicher Beratungen und Entscheidungen, bei denen die meisten Personen, die von einer Ressourcenverteilungsfrage betroffen sind, an der Änderung der Nutzungsregeln teilnehmen konnten. Konfliktlösungsmöglichkeiten sollten schnell, günstig und direkt sein. Gebraucht werden lokale Räume für die Lösung von Konflikten zwischen Nutzer_innen ebenso wie zwischen Nutzer_innen und Behörden.

Konfliktlösungskompetenz und sozialer Zusammenhalt, das machen die skizzenhaften Erinnerungen an das opulente Werk Elinor Ostroms deutlich, sind heute angesichts der vielen drängenden Umwelt- und Klimaherausforderungen, bei denen es regelmäßig um Allmende-Güter geht, mehr als ein nettes „Add-On“. War die ökonomische Disziplin lange davon überzeugt, mit „Wettbewerb“ den Schlüssel zum Wohlstand der Nationen gefunden zu haben, dringt mehr und mehr die Einsicht durch, dass letztlich vor allem Kooperation für das Wohlergehen der Nationen unverzichtbar ist.

Der Caritasverband folgt dieser Fährte. Seine Jahreskampagne 2023 – „Klimaschutz, der allen nutzt“ – lädt ausdrücklich ein, vom populären Verständnis weg zu gehen, dass Klimapolitik entweder mir oder den anderen, den Reichen oder den Armen schaden müsse.  Im Gegenteil: Klimapolitik darf kein Luxusvorhaben sein, dessen Erfolg dem good will anderer zu überlassen ist und ebenso wenig eine Politik wohlhabender Schichten, die auf dem Rücken der Armen ausgetragen wird. Der Lebensstil derer, die über ein hohes Einkommen verfügen, ist in der Regel deutlich klimaschädlicher als der Konsum der Armen. Wer kein Geld hat, um in ferne Regionen zu fliegen, kann den entsprechenden ökologischen Fußabdruck nicht hinterlassen. Wer kein Ferienhaus hat, verursacht keinen „doppelten“ Heizenergieverbrauch. Die ärmsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung verursachten 2020 nur zwei Prozent der Gesamtemissionen, die reichsten zehn Prozent haben 29 Prozent der Emissionen erzeugt.

Klimapolitik muss als soziale Gesellschaftspolitik gedacht werden, damit sie allen nützt. Um die notwendigen Veränderungen umzusetzen, braucht es gemeinschaftsstiftende Ideen und gesellschaftlichen Rückhalt. Es braucht Kooperationsbereitschaft und Zusammenhalt.

Und trotzdem würden viele von uns vermutlich zustimmen, dass es gerade nicht so rosig steht um unsere Fähigkeit, gut zusammen zu leben. Wir haben das sogar schwarz auf weiß: Eine vom Deutschen Caritasverband in Auftrag gegebene Umfrage hat im Januar 2021 herausgefunden, dass 52% der Befragten zu diesem Zeitpunkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt als durch die Pandemie geschwächt empfanden. Ein Jahr später haben wir erneut fragen lassen, wie es um den Zusammenhalt steht. Hier waren insgesamt 72% der Befragten der Meinung, der Zusammenhalt hätte unter der Pandemie gelitten.

Wohlfahrtsverbände stehen mit anderen politischen Akteuren im Wettbewerb um die Interpretation des Sozialen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.

Die Krisen der vergangenen Jahre – eine Pandemie und ein Krieg, beide vor dem Hintergrund einer manifesten Klimakrise– haben die Verwundbarkeit unserer Gesellschaft und die perversen Effekte einer ausgeprägten Chancenungleichheit zu Tage befördert: Wenn ich das Gefühl habe, dass meine Chancen durch das Verhalten anderer brutal beschnitten werden, kündige ich meine Zustimmung zu den geltenden Regeln auf. In der Sprache des Bundesverfassungsgerichts: Wo meine zukünftigen Freiheitsrechte bedroht sind, bedarf es einer umfassenderen Abwägung bei der Entscheidung über Ressourcenzuteilungen heute.  Ein umfassend fairer Ansatz bei der Sicherung intertemporaler Freiheitsrechte, für den der Klimaschutz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in seiner Interpretation von Art 20a des Grundgesetzes im Frühjahr 2021 geworben hat, wird aber nicht gelingen, wenn wir das Vertrauen gemeinsamer Problemlösungskompetenz zerstören und in eine unversöhnliche Haltung des Entweder-Oder (zurück) verfallen.

Maja Göpel hat diesen Gedanken 2020 bereits in ihrem Bestseller Unsere Welt neu denken entwickelt. Sie erzählt die Geschichte der Gruppe „Extinction Rebellion“, die – als Vorläuferin der gerade in Deutschland aktiven „Last Generation“ – 2019 in London verzweifelte Aktionen durchführte. Sie wollten gegen die aufbegehren, die ihre Zukunftschancen zerstörten und das unterbrechen, „was sie für die wahre Ursache des Klimawandels und der ausufernden Zerstörung von Leben halten: unseren ganz normalen Alltag.“ Göpel machte deutlich: Für die Menschen, die an einem normalen Arbeitsmorgen nicht in ihren Zug steigen können, ist die rebellische Bahnhofsaktion die Aufkündigung des sozialen Comments. Die Aktion ist schlicht skandalös, sie ist so wenig auszuhalten, dass die Pendler nach kurzer Zeit die zwei Aktivisten mit Sandwiches und Getränken bewarfen. Und als das alles nicht hilft, klettert einer der Pendler nach oben und zieht, noch bevor die Polizei eingreifen kann, die beiden Männer der Klimagruppe vom Dach des Zuges auf den Bahnsteig hinunter. „Bei dieser Konfrontation“ – so Göpel – „ging es nicht um ein nährendes Stück Brot, um einen Schluck sauberes Wasser, ein schützendes Dach über dem Kopf oder um den letzten Liter Benzin. Es ging nur um ein paar Minuten Verspätung auf dem Weg zur Arbeit.“ Die beiden Gruppen, die im Bahnhof aufeinanderprallten, haben deutlich unterschiedliche Prioritäten. Die einen wollen die Welt retten, die anderen wollen ins Büro. Die einen wollen mit Gewohnheiten brechen, die anderen daran festhalten. „Und obwohl man anerkennen muss, dass es beiden Gruppen im Kern um ihre Existenz und die ihrer Kinder geht, scheint das eine Anliegen das andere auszuschließen. Anscheinend muss der eine verlieren, damit der andere gewinnen kann. Es gibt nur entweder oder, nur ‘wir‘ oder ‘die‘.“ Wenn so die Zukunft des Miteinander-Ringens gegen die Klimakrise aussieht, steht es schlecht um die Erfolgsaussichten der Menschheit!

Proteste der “Letzten Generation” in Berlin. (Bild: Stefan Müller, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons)

Not sehen, verstehen und gemeinsam handeln

Wohlfahrtsverbände stehen mit anderen politischen Akteuren im Wettbewerb um die Interpretation des Sozialen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Wenn die Armen die Leidtragenden des Klimawandels sind und die Reichen den Klimaschutz vertagen, dann möchte man diesen Skandal hinausschreien in die Welt. Eine Überzeichnung der Dramatik wäre dabei gar nicht nötig, denn die Klimageschichte schreibt apokalyptische Geschichten in großer Zahl. Müssen sich Wohlfahrtsverbände nicht also lauter einmischen in die Debatten um Klimaschutz und Klimagerechtigkeit – dem Vorbild der „Last Generation“ und ihren Aktionen folgend?

Das Verständnis eines „je lauter, je besser“ schwappt immer wieder in die Verbände – gerade, wenn eine zynisch anmutende politische Fantasielosigkeit die Ohnmachtsspirale neu ankurbelt. Und dennoch: Es kommt darauf an, dieser Versuchung nicht zu erliegen. Auch in der Klimapolitik muss die Wohlfahrtspflege ihrer Stärke treu bleiben: Not sehen, verstehen und gemeinsam handeln. Nur, wenn wir die gesellschaftlichen Megatrends, die sozialen Umgebungsfaktoren und die politischen Entwicklungen sorgsam bewerten und mitgestalten und zugleich uns den Einzelnen und ihren Fragen und Unterstützungsbedarfen solidaritätsstiftend zuwenden, werden wir unserem Auftrag umfassend gerecht, Zusammenhalt zu fördern und Kooperationen zu ermöglichen.

In einer medialen Kultur der Polarisierung und der „Sofort-Eskalation“ glaubwürdig als Wohlfahrtsverband handeln und vernehmlich sprechen zu können, ist ein Balanceakt. Es widerspricht dem Selbstverständnis der Wohlfahrtsverbände, das Spiel von Skandalisierung und Diffamierung mitzuspielen, das im öffentlichen Raum für garantierte Aufmerksamkeit sorgt. Die Kunst, dass das „Und“ im politisch-öffentlichen Raum eine Chance bekommt – ist herausfordernde Kunst des „Wir“.

Im Winter 2022 ist eine Solidaritätswelle übers Land geschwappt. Hunderttausende Menschen haben ihre Türen aufgemacht und Menschen aus der Ukraine Zuflucht gegeben. Nach einem Jahr sind geschätzt noch immer drei Viertel der Geflüchteten aus der Ukraine privat untergebracht, unzählige Begegnungscafés, Kindergruppen, Vernetzungsangebote leben vom täglichen Einsatz freiwillig Engagierter, die dort unermüdlich unterstützen, übersetzen, trösten.

Es gilt, die Kooperationskompetenz, die in diesen Geschichten erfahrbar wird, zu stärken, den gelebten Zusammenhalt zu fördern, um auch die nächsten großen Krisen zu bewältigen. Unsere Erde ist eine große Allmende. Und Allmende braucht Zusammenhalt.

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