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Der prägnante Moment

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Konstantin Bätz
Tag
Politics

Technologische, wirtschaftliche und geopolitische Umbrüche schaffen einen „prägnanten Moment” der Geschichte. Deutschland sollte ihn für strukturelle Reformen nutzen, fordert Konstantin Bätz.

In der Londoner National Gallery hängt Rembrandts Das Gastmahl des Belsazar. Der babylonische König schreckt zurück, eine Hand tritt aus einer Wolke und schreibt an die Wand. Die Inschrift lautet „Mene, mene, tekel, upharsin“ (gezählt, gezählt, gewogen, zerteilt). Wein schwappt, Gesichter erstarren. Es ist der Moment, in dem Belsazar eröffnet wird, dass sein Reich untergehen wird.

Rembrandt hatte ein Gespür für solche Augenblicke: für den prägnanten Moment, in dem die Spannung am größten ist und die Zukunft radikal ungewiss. Wir befinden uns heute – in Deutschland und Europa im Jahr 2025 – wieder in einem solchen Moment. Anders als in derzeit gängigen Narrativen des linearen Abstiegs und der westlichen Dekadenz ergibt sich aus dieser Erkenntnis ein konkreter Appell: ein prägnanter Moment ermöglicht (politische) Veränderungen weit über das Gewohnte hinaus. Wir können und sollten ihn für weitreichende politische Reformen nutzen.

Die Sollbruchstellen der Geschichte

Wenn Sönke Neitzel vom „letzten Sommer im Frieden“ spricht, scheucht uns das auf. Nicht weil wir wissen, dass er recht behalten wird. Sondern weil er recht haben könnte.

Wie die Welt in zehn Jahren aussieht, war selten so offen. Man denke an den Frühling 1914: Hatten die Deutschen geahnt, was kommt? Eine führende Kultur- und Wissenschaftsnation, die in zwei Weltkriegen erst in Barbarei verfällt und dann in Trümmern endet?

Man sollte unseren Vorfahren keine Naivität vorwerfen. In langen Zeiten des relativen Friedens – eine solche war trotz regionaler Kabinettskriege die Zeit zwischen den napoleonischen Kriegen und 1914 – verschwimmt die Erinnerung daran, wie brüchig dieser Frieden, wie fragil liberale Institutionen sind. Es lag 1914, und liegt 2025 nahe, in einer Art Basisszenario davon auszugehen, dass unsere Welt morgen mehr oder weniger so aussehen wird wie heute. Dahinter steht unsere menschliche Tendenz, Veränderungen zu unterschätzen und vom Fortbestand des Bekannten auszugehen.

Und: Der Erste Weltkrieg war nicht unvermeidbar. Das würde die Handlungsfähigkeit der Akteure in Wien, Berlin, St. Petersburg und Paris missachten. Die Julikrise 1914 war vielmehr ein prägnanter Moment: Die Entscheidungen der handelnden Akteure hatten extreme und nicht-lineare Wirkung über den Horizont des Abschätzbaren hinaus.

2025 führt Neitzel uns mit seinem Bonmot vor Augen, wie schnell es auch heute gehen könnte. Der Krieg in der Ukraine ist weit weg, könnte aber schnell ganz nah sein. Wie politische Akteure, in Berlin, Paris, Washington, D.C. und Moskau jetzt und in einer Krise handeln entscheidet, ob wir weitere Sommer in Frieden vor uns haben.

Drei Trends

Ein prägnanter Moment ist eine Sollbruchstelle der Geschichte. Er entsteht, wenn sich verschiedene Entwicklungen – technologischer, wirtschaftlicher, politischer Art – überlappen und gegenseitig verstärken.

Entwicklungen und Krisen gibt es viele, drei Entwicklungen stechen für unsere Zwecke besonders ins Auge:

Technologisch haben wir bereits akzeptiert, dass KI unsere Wirtschaft verändert. Aber dass dies in einem Rüstungswettlauf zwischen China und den USA um die schlagkräftigste Superintelligenz münden könnte? Dass wir in Deutschland (und Europa) dabei nicht nur ökonomisch zurückbleiben, sondern auch Gefahr laufen, von einer misaligned (etwa: fehlgerichteten) Superintelligenz zermalmt zu werden? Dafür fehlt uns noch das Bewusstsein.

Wirtschaftlich durchlebt Deutschland eine Rezession. Externe Faktoren, etwa Energiepreise, der Handelskrieg mit den Vereinigten Staaten, billige chinesische Autos, mögen der Auslöser sein. Aber die strukturellen Probleme liegen tiefer: überbordende Bürokratie und fehlende Risikobereitschaft im privaten wie öffentlichen Sektor.

Außenpolitisch reagiert man auf den Krieg in der Ukraine und den Zerfall der transatlantischen Allianz mit einer Zeitenwende; einem Programm ohne Erfüllung. Geld ist jetzt da, aber die neuen Mittel werden von einem nur mühsam sich reformierenden System verwaltet und stockend verwendet.

Diese Faktoren vermengen sich und treffen auf eine politische Landschaft mit erstarkenden Extremen und einer Mitte in Wagenburgmentalität. Die letzte Patrone der Demokratie hat ihr Ziel noch nicht getroffen. Die notwendige politische Dynamik, diesen Trends zu begegnen, sie entweder einzuhegen oder produktiv nutzbar zu machen, bleibt bisher aus.

Nicht-Linearität als Chance

Prägnante Momente sind nicht per se Krisen, denen wir hilflos ausgeliefert sind; das unterscheidet sie beispielsweise von der gängigen Diagnose einer Polykrise, in der sich Krisen überlagern, ohne konstruktiv oder auch nur steuerungsfähig zu sein.

Der prägnante Moment ist die Kehrseite der Polykrise. Er ist konstruktiv, ja katalysatorisch, komprimiert Zeiträume und verkürzt Wirkungsketten – dadurch erhöht sich auch die politische Handlungsfähigkeit dramatisch. Nicht weil Probleme klein wären, sondern weil scheinbar kleine Entscheidungen plötzlich größere, wenn auch schwierig zu prognostizierende, Effekte haben.

Unter dem Druck des prägnanten Moments verlieren all die Zwänge ihre Bindekraft, die uns sonst lähmen: Ressortgrenzen verschwimmen plötzlich, jahrzehntealte Zuständigkeiten werden verhandelbar, heilige Kühe geschlachtet. Was gestern noch undenkbar war; die Aufweichung der Schuldenbremse, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, LNG-Terminals im Schnellverfahren, wird über Nacht zur Realität. Vetopunkte, an denen sonst jede Reform zerschellt, werden durchlässig.

Hier zeigt sich ein Paradox der Geschichte: Gerade in Momenten größter struktureller Verwerfungen gewinnt individuelle Handlungsfähigkeit überproportional an Gewicht. Was Historiker als Spannungsfeld zwischen ‘Great Man Theory’ und strukturellen Erklärungen diskutieren, löst sich im prägnanten Moment zugunsten der Akteure auf. Nicht weil Strukturen unwichtig würden – sie schaffen ja erst den prägnanten Moment. Aber weil die gewohnten institutionellen Bahnen unterbrochen sind, können Einzelne plötzlich Geschichte schreiben, wo sie sonst nur Geschichte erleiden würden.

Prägnante Momente belohnen die, die besonnen, aber mit Nachdruck zur Tat schreiten und sich die Weite des nun Möglichen bewusst machen.

In solchen Momenten zeigt sich, wer wirklich gestalten will und wer nur verwaltet. Die Geschichte kennt viele Beispiele: Cäsar 49 v. Chr., Churchill 1940, de Gaulle 1958. Sie alle nutzten die Krise, um Unmögliches möglich zu machen. Nicht durch Zauberhand, sondern weil im prägnanten Moment die alten Regeln außer Kraft sind und neue geschrieben werden können.

Wer jetzt zögert, wird zum Spielball der Ereignisse. Wer handelt, kann strukturelle Reformen durchsetzen und prägt die nächste Epoche.

Das gilt besonders für Deutschland heute. Unsere politische Klasse hat sich daran gewöhnt, Probleme abzumoderieren, statt zu lösen. Aber Moderation funktioniert nur in stabilen Zeiten. Im prägnanten Moment braucht es Mut zur Entscheidung – nicht blanken Aktionismus, sondern entschlossenes Handeln mit klarem Kompass. Der Ergebnisraum weitet sich in beide Richtungen. Das Desaster wird wahrscheinlicher, aber auch der Durchbruch. Die Möglichkeiten zu handeln sind da, technologisch, politisch, gesellschaftlich. Die deutsche Politik sollte sie jetzt ergreifen. Prägnante Momente belohnen die, die besonnen, aber mit Nachdruck zur Tat schreiten und sich die Weite des nun Möglichen bewusst machen.

Rembrandt: Belshazzar’s Feast (um 1635–1638), Öl auf Leinwand, National Gallery London. Public Domain. Quelle: Wikimedia Commons.

Rembrandts Belsazar sah die Schrift an der Wand, doch verstand die Warnung nicht. Noch in derselben Nacht fiel Babylon. Die Hand, die heute an unsere Wand schreibt, sind die Krisen unserer Zeit, die uns zur Entscheidung zwingen. Wir können das Schicksal Babylons noch abwenden. Aber nicht durch Abwarten.

 

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