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Energiebeziehungen: Lehren aus Vergangenheit?

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Author
Gerhard Halder
Tags
Energie
Democracy
Technology

Der russische Angriff auf die Ukraine hat Europas Energieabhängigkeiten offen gelegt. Doch die wahren Probleme liegen tiefer, analysiert Gerhard Halder.

In den Sozialwissenschaften hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass unsere Weltsicht in erheblichem Maße nicht zweifelsfrei objektiv ist, sondern vielmehr konstruiert. Diese Konstruktionen sind erstens prozesshaft, d.h. sie entwickeln sich im Laufe der Zeit und zweitens tragen zahlreiche Akteure parallel zu der konstruierten Wirklichkeit bei. Die Konstruktionen über die Wirklichkeit nehmen oftmals die Form einer größeren oder kleineren Erzählung an. Sie deuten die Welt, stiften Sinn und geben Orientierung.

In diesen Tagen, in denen das Erschrecken über den Krieg in Osteuropa andauert, wird in den Medien und in den Organen politischer Beratung mit Bezug auf Energiefragen häufig folgende Erzählung konstruiert: „Der Ansatz des `Wandel durch Handel´ ist gescheitert. Die frühere Fehleinschätzung hat dazu geführt, dass sich europäische Staaten, allen voran Deutschland, in eine energiepolitische Abhängigkeit zu Russland begeben haben. Zukünftig müssen Lieferketten und Bezugsquellen diversifiziert werden, um eine Wiederholung der Misere zu vermeiden, insbesondere eine Abhängigkeit von autoritären Regimen.“

Auf eine andere Erzählung verweist in diesen Tagen Herfried Münkler, die ähnlich verkürzt etwa wie folgt lautet: „Mit Deutschland und Japan wurden 1945 totalitäre und expansive Regime gestürzt. Statt Rache zu üben wurden sie eingebunden und kamen zu Wohlstand. Auch dieser Wohlstand hat es verhindert, dass sich revanchistische Strömungen in diesen Ländern verbreiteten.“

So gewendet haben die Energiebeziehungen europäischer Staaten mit Russland dazu beigetragen, dass Russland etwas zu verlieren hatte. Und umgekehrt kann mit wirtschaftlichen Sanktionen nur drohen, wer entsprechend tiefe Beziehungen unterhält, sodass Sanktionen schmerzen. Leider hat dies am Ende nicht ausgereicht und es wird die Aufgabe der historischen Wissenschaften sein, dies mit hinreichender Tiefe zu analysieren. Da wir aber gegenwärtig vor der Herausforderung stehen, neue Energiebeziehungen zu knüpfen, ist zumindest eine rudimentäre Analyse notwendig.

Europäische Defizite

An dieser Stelle fällt der Blick auf die EU. Denn sie hat seit dem Jahr 2009 den Erdgasmarkt grundlegend reguliert, als eine Folge russisch-ukrainischer Friktionen mit einem kurzfristigen Lieferstopp. Im neu entstandenen Erdgas-Binnenmarkt wurde die Infrastruktur so ertüchtigt, dass der Gasstrom grenzüberschreitend in jede Richtung fließen konnte, im Auktionshandel Mindestpreise aufgerufen wurden und nur die saldierten Mengen physisch flossen. Zudem gab es Stresstests und die Bezugsquellen wurden um weitere Flüssiggas-Anlandestationen (LNG-Ports) erweitert. Praktisch alle Expertisen dazu lauteten gegen Ende des Jahres 2021, dass die Erdgasversorgung im Großen und Ganzen sicher sei, zumal die ungenutzten LNG-Kapazitäten in den europäischen Ports die gesamte Liefermenge Russlands überstiegen!

Auch das DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung), das den Bezug aus Russland und v.a. Nord Stream 2 kritisch begleitet hat, sprach sich in mehreren Studien und Expertisen mit Verweis auf die hinreichenden europäischen Kapazitäten und einer weltweiten Erdgas-Schwemme im Zuge des Schiefergas-Booms gegen den Bau von neuen LNG-Ports in Deutschland aus.

Damit war die Sache klar. Eigentlich. Denn wären die postulierten Sachverhalte und Voraussetzungen vergangenes Jahr zutreffend gewesen (Verfügbarkeit auf dem Weltmarkt, funktionsfähiges und auf relevante Mengen ausgelegtes europäisches Pipelinenetz), wären weder Werbe- und Einkaufsfahrten von Politikern an den Persischen Golf notwendig gewesen,noch die Errichtung erheblicher LNG-Infrastruktur unter Zeitdruck.

Die Zukunft des Gasmarkts

Deshalb lässt sich argumentieren, das eigentliche Problem besteht nicht nur im (zu) hohen Bezug russischen Erdgases. Sondern in gleicher Weise aus einer EU-Regulierung, der es bei allen Erfolgen nicht gelungen ist, ein belastbares Verteilnetz für den Erdgas-Binnenmarkt zu schaffen. „Stresstests“ gingen nicht vom schlimmsten Fall aus und der Weltmarkt wurde als liquide angenommen. So wurde aus punktuell möglichen Engpässen und knappen Spitzenmengen eine Gasknappheit auf breiter Front. Wenn nun aber nach dieser Analyse in die Zukunft zu blicken ist, fallen folgende Aspekte ins Auge:

I. Europa wird weiter Erdgas benötigen

Europa wird aus drei Gründen noch lange Zeit Erdgas benötigen: Erstens für Wärme in Gebäuden, deren energetische Sanierung sich europaweit als ein eigenständiger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kraftakt erweisen könnte. Zweitens für den zu ertüchtigenden Reservepark an Kraftwerken, solange der Ausbau Erneuerbarer Energien und die Speicherung großer Energiemengen noch nicht umgesetzt ist.  Drittens für Hochtemperatur-Anwendungen in der Industrie, solange die Umrüstung auf Stromprozesse und der Hochlauf einer Wasserstoff-Wirtschaft andauert.

II. Die moralische Überforderungen des Energiemarkets

Die Forderung nach politisch und ethisch vertretbaren und gleichzeitig sicheren Lieferketten ist angesichts des gegenwärtigen Erschreckens über Missstände verständlich, aber überfordert die Akteure bei Weitem. Gerade im Energiebereich zeigte sich dies, wenn Politiker auch Staatenals Lieferanten für Erdgas und Erdöl umwerben, die noch vor wenigen Jahren, hier im Essay zugespitzt formuliert, politisch kaum mit der Kneifzange angefasst wurden. Hier sind zwei Aspekte zu bedenken:

Erstens bedeutet der Aufbau von Lieferketten eine Bindung auf viele Jahre hinaus, entweder in Form von Langfristverträgen (die Gasprom kaum mehr zugestanden wurden, Katar aber achselzuckend schon) oder von Kapitalbindung im Fall einer direkten Investition in die teure Energie-Infrastruktur.

Zweitens gibt es viele Staaten, die keine lupenreinen Demokratien sind oder aus menschenrechtlichen Gründen bedenklich. Stellen wir die Moral voran, bleibt die Liste möglicher Partner kurz. Mehr noch: Verschmähte Partner wenden sich anderen Akteuren zu, die beispielsweise mit einer Belt and Road-Initiative werben. Und die, praktischer Weise, sich aus der Innenpolitik ihrer Partner heraushalten.

Die Afrika-Initiative der EU ist ein Versuch, eine ähnliche Partnerschaft anzubieten (ohne diese hier bewerten zu wollen). Dies bedeutet nicht, Demokratie und Menschenrechte gering zu achten. Aber ein moralischer Purismus übersieht erstens, was sich in Partnerländern bereits positiv verändert hat und zweitens, dass auch in Deutschland und Europa heute Dinge (berechtigt) selbstverständlich sind, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar schienen. Es ist unter diesen Bedingungen keine leichte Aufgabe, jeweils zu entscheiden, „was geht“ und „was nicht“. Eine der größten Gefahren für Deutschlands Zukunft besteht aber in einer moralisch begründeten politischen Selbstisolation, bei der auch unsere engsten europäischen Partner nur noch den Kopf schütteln.

III. Engpassfaktoren bei der Energieversorgung

Wie aber kann nun unter den gegenwärtigen Bedingungen europaweit die Versorgung mit Erdgas sichergestellt werden? Zunächst ist festzustellen, dass zwei Engpassfaktoren gleichzeitig bestehen: LNG-Ports und konkrete Flüssiggas-Lieferungen. Bezüglich der LNG Ports ist es innerhalb kürzester Frist gelungen, umgerüstete Schiffe (FRSU) zu chartern und an der deutschen Küste anzubinden. Im Jahresverlauf 2023 werden auf diese Weise geschätzt 15 bcm (Mrd. Kubikmeter) Erdgas neu anlanden, weitere 24 bcm sollen es zum Jahreswechsel 2024 sein und im Endausbau 2026 mehr als 70 bcm (GIE-Database; das EWI argumentiert vorsichtig mit 25 bcm, für die Finanzierungszusagen bestehen RWI; zum Vergleich: Nord Stream ist auf je 50 bcm ausgelegt). In anderen Ländern der EU befinden sich weitere 16 bcm im Bau, weitere 70 bcm sind geplant (GIE-Database: EU ohne Deutschland).

Die tatsächliche Verfügbarkeit von LNG auf dem Weltmarkt folgt allerdings starken zyklischen Schwankungen. Nur aufgrund der Pandemie ist die Welt von einer sprichwörtlichen Schiefergas-Schwemme in eine Durststrecke geraten, in der eine zurückgehende Nachfrage, Insolvenzen und der Rückbau von Förderkapazitäten ein neues Gleichgewicht gefunden haben. Entsprechend der stark anziehenden Nachfrage des Jahres 2022 werden die Förderungen nun auch wieder ausgeweitet. Das EWI erwartet, dass die LNG-Import aus den USA in die EU bei niedriger Nachfrage bis 2026 von 22 bcm auf mindestens 61 bcm zunehmen werden – und sogar auf 113 bcm, falls bis zum Jahr 2030 kein Erdgas mehr aus Russland kommen sollte. Im Fall hoher Nachfrage erhöht sich der US-Importanteil der EU bis auf 130 bcm. Auf Katar entfallen zwischen 16 und 23 bcm, auf die Restgruppe weiterer Lieferländer zwischen 26 bcm und 60 bcm (Korridor aller Szenarien). Pipelinegebunden liefern Norwegen (+20%) und Nordafrika (wegen eigener Nachfrage weniger) in etwa stabil um 130 bcm.

Mit anderen Worten: Es wird genügend LNG auf dem Weltmarkt geben und ein Treiber dabei ist die Internationalisierung der US-Fracking-Industrie. Sie wird bei hohen Preisen in viele Räume der Welt expandieren, wo leicht zugängliches Schiefergas und politische Opportunität zu finden sind. In wieweit aserisches Gas und mediterranes Shelf-Gas parallel ausgebaut werden, ist in erster Linie eine politische Frage von staatlichen Absicherungen und Bürgschaften. Denn die politische Instabilität und Schwierigkeiten des Naturraumes erhöhen dort die wirtschaftlichen Risiken.

Die Neuausrichtung der Gasversorgung

Zusammenfassend ist mit dem EWI zu erwarten, dass die USA ihren Gesamtexport an LNG ab dem Jahr 2026 auf 260 bcm bis 360 bcm steigern, je nach Entwicklung der weltweiten Nachfrage. Im Vergleich dazu hat Russland im Jahr 2021 insgesamt 240 bcm exportiert, darunter 147 bcm in die EU. Abstrahiert gesehen wird damit die USA von den Volumen her Russland ablösen und dessen Rolle in der Erdgasversorgung übernehmen – zu höheren Preisen und in geringerem Umfang ergänzt von anderen Staaten. Für den heute noch nicht absehbaren Fall, dass Russland erneut in die EU liefert, lassen sich deutlich geringere Mengen als ehedem erwarten. Einer neuen starken Abhängigkeit, dieses Mal von den USA, also politisch eher ein „Friendshoring“, steht eine höhere Flexibilität („Weltmarktoffenheit“) von LNG gegenüber.

Die Neuausrichtung der Gasversorgung hat jedoch auch Nachteile: Erstens werden die Preise für Erdgas in Abhängigkeit vom Weltmarkt steigen – und zyklisch auch wieder sinken. Absprachen in der EU, stärker gemeinsam mit Marktmacht einzukaufen, könnten begrenzt helfen, die Preise zu stabilisieren. Sofern politisch gewollt, kommen auch erneut Langfristverträge in Betracht. Zweitens ist die Umweltwirkung problematisch: Erdgas ist aus Gründen der Klimawirkung von Methan nur dann vorteilhaft, wenn Leckagen über die gesamte Prozesskette minimiert werden. Fracking ist hier riskant, ebenso der Einsatz von veralteter Fördertechnologie. Zudem benötigt LNG 10% seiner enthaltenen Energie für die Verflüssigung. Letztlich werden in einem Jahrzehnt mit zunehmender Dekarbonisierung, Ertüchtigung der Energienetze und dem Ausbau von Energiespeichern die benötigten Mengen an Erdgas erwartbar zurückgehen.Dies ist die bedeutendste Erzählung und entsprechend wird sich die Frage sicherer Lieferketten für Erdgas relativieren.

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