Die falsche Angst vor uns selbst: Ein demokratischer Weg aus der Krise
Es braucht auch eine Ausweitung von Demokratie, um aus dem Krisenmodus zu kommen, argumentiert Hendrik Wagner. Mit seinem Essay belegte er den zweiten Platz im FMP Essay Wettbewerb.
„Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung“ hiermit betitelte Altkanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung die Maßnahmen gegen das Virus. Aber nicht nur ging die Coronakrise mit Beschränkung vieler Rechte einher, auch wurde der Demokratie selbst eine schlechte Performanz im Krisenmanagement attestiert: Zu langsam, zu bürokratisch und nicht schlagfähig. Dabei scheint es, als würde jede neue Krise Deutschland völlig überraschen und in eine Schockstarre versetzen. Beim Hangeln von Problem zu Problem wird dabei die Debatte wie wir aus dem Krisenmodus entkommen unweigerlich in der Öffentlichkeit geführt. Bei Vorschlägen, Deutschland handlungsfähiger zu machen, werden dann oft verschiedene Schlagwörter in den Raum geworfen, wie „Bürokratie-Burnout“ von Liberalen oder „Grenzen zu“ aus dem rechten Rand. Jedoch um die Frage beantworten zu können, wie wir aus diesem Krisenmodus wieder herauskommen ist es nötig erst einmal zu verstehen, wie wir in diese verzwickte Situation geraten sind und was dessen Folgen sind. Dabei wird deutlich, dass der Krisenmodus zwar eine Folge von Missständen unserer jetzigen Demokratie ist, diese aber auch in erheblichem Maße bedroht.
Daher möchte ich hier die Perspektive eines demokratischen Auswegs formulieren und aufzeigen, wie wir mehr in unsere Demokratie vertrauen können, um sie vor den Krisen der Zukunft zu wappnen, statt wie andere Staats- oder sogar Demokratieabbau zu fordern.
A state of panic
Eine Möglichkeit den Krisenmodus besser zu verstehen ist die Forschung von Barry Buzan, Ole Wæver und Jaap De Wilde (1998). Sie unterscheiden im politischen Prozess zwischen der normal politics und panic politics. Normal politics beschreibt Politik im politischen Alltag und einem geregelten Ablauf. Die panic politics meint hingegen Politik unter der Kondition einer Bedrohung bzw. Krise. Die Bekämpfung der Krise rechtfertigt dabei die Wahl von weitreichenderen Maßnahmen, wie Notstandsgesetzgebung.
Dieser state of panic überkommt damit ein großes Problem demokratischer Systeme, wie Deutschland, nämlich die Langsamkeit von demokratischen Prozessen. So müssen in Deutschland, um substanzielle Entscheidungen zu treffen, viele Institutionen auf mehreren Ebenen eingebunden werden. Das alles kostet Zeit und zeigt auch die Schwäche von Demokratien in Krisen auf. Da scheint es legitim in Krisen mit den Regeln der normalen Politik zu brechen.
Dieser Gewinn an Schnelligkeit und Stärke geht somit auf Kosten demokratischer Verfahren, wie auch am deutschen Pandemiemanagement zu sehen war. Basierend auf dem Infektionsschutzgesetz nutzten alle Bundesländer die rechtliche Ausnahme der Verordnungsgebung, um außerordentliche Maßnahmen zu treffen, ohne die eigenen Landesparlamente miteinzubeziehen. Zwar waren die Maßnahmen dadurch deutlich schneller implementiert, doch litten sie teilweise unter erheblichen formellen und materiellen Fehlern.
Geht man von solch einem Verständnis von Krise aus, wird deutlich, dass mit Anhalten der Problemlagen die Rückkehr zu den normal politics immer schwerer wird. Der Krisenmodus wird, auch in Deutschland, zu einer dauerhaften Ausweitung der panic politics.
Zwar bleiben auch bei der Verlängerung dieses Zustands die Vorteile erhalten, jedoch vergrößern sich die negativen Auswirkungen erheblich. Deliberative Prozesse werden systematisch ausgeschaltet. Mit der Folge, dass verschiedene Blickwinkel in komplexen Krisenlagen nicht einmal mehr ins Auge gefasst werden. Schließlich kann dies in einer völligen Alternativlosigkeit von Reaktionen enden, wie es häufig in der Kriegslogik des ‚wir oder die‘ betrachtet werden kann.
Was damit einhergeht ist, dass die Räume, welche wir in unserer Demokratie geschaffen haben, um geregelte, faire und ausgeglichene Debatten zu führen, immer stärker ungenutzt bleiben und sich die Debatte um Krisenreaktionen auf die Straße und die Wahlkämpfe verschiebt. Dort regiert aber nur noch das Recht des Stärkeren in der Deutungshoheit.
Das zweite große Problem, was mit der Verlängerung des Krisenmodus einhergeht, ist die Legitimation von Krisenreaktion. Kurzzeitig kann eine Regierung, wenn sie den Krisenmodus nutzt, vielleicht noch durch einen rally around the flag-Effekt der Bevölkerung profitieren. Da aber die einzige Legitimität solcher Krisen-Mittel die Bekämpfung der Bedrohung ist, löst sich die Unterstützung mit Scheitern der Maßnahme sofort auf. Die Folge davon ist Unzufriedenheit mit der Regierung, was sich, wie in der Pandemie zusehen, bis zur Ablehnung der Demokratie verstärken kann.
Demokratische Lösungen für demokratische Probleme
Wenn wir aber den Spagat aus ineffektiven Maßnahmen und Demokratieverdrossenheit nicht weiter akzeptieren wollen, stellt sich natürlich die Frage, wie raus aus dem Krisenmodus? Da der Krisenmodus sichtbar eine Folge fehlender Krisenfestigkeit der Demokratie ist und zur weiteren Schwächung dieser führt, kann eine effektive Lösung nur mit mehr Demokratie einhergehen. Denn das Zurücktreten in die Ebene der normal politics ist nur möglich, wenn wir unserer Demokratie mehr zutrauen als zuvor.
Mehr in Demokratie vertrauen heißt Demokratie nutzen. Denn die Stärke der Demokratie ist der deliberative Prozess, in welchem verschiedene Blickwinkel diskutiert und abgewogen werden, sodass am Ende die beste Lösung bestehen bleibt. Dem kommt hinzu, dass demokratischen Entscheidungen dann auch mehr Legitimität zugesprochen wird. Folglich ist es kein Wunder, dass die Systemforschung zu dem Schluss kommt das es einen Demokratievorteil gibt. Demokratien also sichtbar bessere Performanz aufweisen als Autokratien.
Zusätzlich müssen aber auch problematische staatliche Doppelstrukturen vermieden werden, um Demokratie zu stärken. Insbesondere im Zuge des Russischen Angriffskriegs wurden einige Argumente vorgebracht, wie ein Krisenstab das deutsche Krisenmanagement kohärenter gestalten könnte. Doch gerade eine solche Lösung steht im Lichte der panic politics. Denn damit werden Krisenreaktionen aus dem politischen Geschäft auf eine andere Ebene übertragen. In dieser Debatte wird oft vergessen, dass der Bundestag bereits Möglichkeiten hat in Krisensituation Entscheider zusammenzubringen. So haben die in der Verfassung verankerten Ständigen Ausschüsse, des Auswärtigen und der Verteidigung nicht nur besondere Kontrollrechte gegenüber der Regierung, sondern können auch durch die Möglichkeit Regierungsmitglieder und Experten in Ausschüsse einzubinden, Krisenräte schaffen. Zusätzlich sorgt das Selbstbefassungsrecht aller Ausschüsse dafür, dass auch der parlamentarische Gesetzgeber frühzeitig Probleme diskutieren und Lösungen gemeinsam mit der Regierung erarbeiten kann.
Des Weiteren muss sich Demokratie umorientieren. Unsere Demokratie darf sich nicht nach der Bürokratie richten, sondern die Bürokratie muss ihrerseits den Bedürfnissen der Demokratie dienen. Insbesondere die Pandemie hat uns gezeigt, wie abhängig wir von analogen Prozessen sind. Digitale Lösungen könnten dabei nicht nur viele Prozesse krisenfester, sondern auch deutlich schneller machen. Denn müssen sich Ausschüsse immer zwingend in Präsenz treffen oder Verwaltungsbeamte neben dem Cloudspeicher jede E-Mail als Druck in einer endlosen Reihe an Lagerschränken versenken?
Ein weiterer Punkt – Transparenz. So würde niemand behaupten, dass die Transparenz von Regierung und Parlament zu weitreichend ist, trotzdem nehmen wir hin, dass der größte staatliche Sektor, die Bürokratie immer noch eine Black Box für die Außenwelt ist. Mehr Transparenz auch in bürokratischen Abläufen würde dafür sorgen, dass Bürger:innen zu einer Kontrollinstanz für eine Institution werden, welche oft im Verborgenen verbleibt. Ein sich hier als erfolgversprechend zeigender Ansatz sind Transparenzportale der öffentlichen Verwaltung von Hamburg, Bremen und Rheinland-Pfalz, auf welchen Dokumente und Unterlagen, aber auch offene Datensätze zur Verfügung gestellt werden. Diese Portale könnten dabei so ausgebaut werden, dass es für einzelne Bürger:innen möglich ist den Weg einer Entscheidung bis zu seiner Umsetzung ganz einfach auf dem Handy zu verfolgen und nachzuvollziehen.
Es braucht auch eine Ausweitung von Demokratie. Insbesondere in der Bürokratie. Die Bürokratie ist klassischerweise ein Diener der Exekutiven und nur zu dieser Seite hin offen. Könnte man sich aber nicht auch eine Bürokratie vorstellen, die von beiden Seiten hin offen ist? Die Einbindung der Bürger:innen in Verwaltungs- und Planungsprozessen würde so dazu führen, dass die Bürokratie zu einem intermediären Vermittler zwischen den Interessen von Regierung und Volk wird. Dies kann in Form von dialogischer Bürgerbeteiligung erfolgen wie es bereits in der Praxis vom baden-württembergischen Staatsministerium mittels verschiedener Formate gelebt wird. Oder auch durch geloste Bürger:innenräte in denen Bürger:innen zu Themen selbst Lösungen erarbeiten können und dabei ihre individuelle Expertise berücksichtigt wird. Partizipation der Bürger:innen kann dabei aber nicht nur auf dem Agendasetting und Politikformulierung verbleiben, sondern wie auch die Politikwissenschaftler Jörn von Lucke und Katja Gollasch argumentieren, durch digitaler Angebote auf das gemeinsame Entscheiden und Beauftragen in der Umsetzung von Politik erweitert werden.
Auch die EU muss beim Ausweg aus dem Krisenmodus wieder stärker ins Zentrum gerückt werden. Hier könnte eine Ausweitung der Kompetenz mit einer Stärkung der Demokratie auf EU-Ebene einhergehen, was dazu führt, dass die EU nicht nur bei länderübergreifenden Problemen gemeinsame und effizientere Lösungen erarbeiten könnte, sondern auch als Auffangnetz durch den Beistand der Mitgliedstaaten dient, um den innerstaatlichen Krisenmodus vorzubeugen.
Ziel sollte es damit sein so lange wie möglich Politik im Rahmen der normal politics zu gestalten und Probleme kollektiv zu lösen. Denn die Forschung zeigt eine kollektive Lösung, bei der Menschen Teil von etwas sind, erhöht ihr Verantwortungsgefühl vor der Gemeinschaft, was auch dazu führen könnte, dass die Folgen von Krisen als weniger empfindlich wahrgenommen werden.
Ein Ausblick ins Jetzt
Dies alles zeigt, der Ausweg aus dem Krisenmodus muss auch unsere vielschichtige demokratische Realität tatsächlich anerkennen. Es ist jedoch unbestreitbar, dass solche Reformen erhebliche Anstrengungen und Zeit erfordern. Auf diesem Weg wird es weiterhin notwendig sein, auf die Mechanismen der panic politics zurückzugreifen. Dennoch sollte der Nutzen solcher Krisenpolitiken strikt auf das Notwendigste beschränkt und sorgfältig gegenüber den Bürger:innen erklärt und begründet werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass aus dem Versuch, die aktuellen Krisen zu bewältigen, aufgrund eines Verlusts des Vertrauens neue Krisen entstehen, die das System kippen. Die jüngsten und bevorstehenden Wahlen in Deutschland und Europa lassen wenig Raum für Zweifel daran, dass eine solche Realität durchaus möglich ist.