Freiheit und Macht – ein konfliktreiches Tandem
Freiheit und Macht bedrohen und bedingen einander, schreibt Bodo Hombach. Eine Analyse zweier Ambivalenzen.
„Der Mensch ist frei und läge er auch in Ketten.“ Schillers Diktum – mehr Appell als Interpretation – traut und mutet dem Homo Sapiens ein Dasein in Würde und gegenseitigem Respekt zu. Es erhofft, dass er die besten seiner Möglichkeiten entfaltet. Dass es ihn zu Großtaten in Kultur, Wissenschaft, Technik, Hilfsbereitschaft und Friedensklugheit befähigt. Er wusste, wovon er sprach. Geboren und aufgewachsen unter der Knute eines Leuteschinders „von Gottes Gnaden“, Zeitgenosse der Französischen Revolution, die sich „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auf die Kokarden schrieb und Verfasser von Dramen mit Freiheitskämpfern als Titelhelden.
Das Drama der Freiheit ist allerdings viel älter und länger. Es umfasst die gesamte Geschichte der Menschheit. Jeder Schritt der zivilisatorischen Evolution zielte auf Emanzipation. Es war Auflehnung gegen die Unterwerfung durch Naturgesetze, magische Gebundenheit, geistige oder geistliche Bevormundung, Fremdbestimmung durch Autokraten oder dogmatische „Erzieher“ jedweder Besserwisserei und ungerechte politische Verhältnisse. Lang ist die Liste der Vorfahren und Zeitgenossen, Frauen und Männer, die ein individuelles und gemeinschaftliches Selbst-Bewusstsein entwickelten und es gegen Schmähung, Unterdrückung, Verfolgung und den eigenen Zweifel behaupteten. Dieser Prozess der Individuation produzierte zugleich die Fähigkeit und Bereitschaft, sich mit immer größeren Gruppen freier Bürgerinnen und Bürger zusammenzuschließen, um auch die Öffentlichen Dinge (res publica) intelligent zu betreiben.
Zwei Ambivalenzen
Freiheit ist ambivalent und nicht unumschränkt. Sie endet dort, wo diejenige des Nachbarn beginnt. Sie endet auch dort, wo er „selbstverschuldete Unmündigkeit“ (Kant) hinnimmt. Schrankenlos, egoistisch oder dogmatisch ausgeübt, beschädigt sie das Gemeinwesen und zerstört es am Ende. Immer hat sie es mit der Macht zu tun.
Auch die ist ambivalent. Einerseits ermöglicht sie politisches Handeln zum Wohle des Einzelnen und der Gemeinschaft. Andererseits stiftet sie durch Missbrauch schweren Schaden. Auch sie ist ein immanentes Merkmal der Zivilisation. Man kann sie nicht beseitigen, sondern nur möglichst intelligent domestizieren. Schon die attische Demokratie erkannte die Gewaltenteilung als wichtigste Voraussetzung einer Staatsorganisation, welche die Freiheit schützen will. Die Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts durchdachten das Problem mit systematischer Konsequenz. Sie entsakralisierten die Staatsgewalt. Diese definierte sich nun als Gesellschaftsvertrag aller Bürger. Das ihm zugrunde liegende Menschenbild universalisierte sich im Katalog der Allgemeinen Menschenrechte, der vielleicht wichtigsten Errungenschaft unserer Geschichte.
Diese Rechte waren und sind „evident“, wie es in der amerikanischen Verfassung heißt, sie müssen jedoch immer wieder neu erworben werden. Macht und Freiheit sind und bleiben die Variablen einer Formel, die jede Generation neu errechnen muss. Wir sind die ewigen Anfänger, denn der neugeborene Säugling von heute ist hier nicht klüger als der neugeborene Neandertaler. Dabei müssten wir nicht immer wieder die gleichen Experimente machen, die schon so oft gescheitert sind. Es gibt Traditionen, ethische Konventionen, Verfassungen und Gesetze. Sie sind das Ergebnis schmerzhaft erworbener Lernziele, quasi die Eiweißmoleküle unseres geschichtlichen Gedächtnisses. Man kann aus der Geschichte lernen. Es fehlt nur oft an Schülern. Ein Rundumschwenk in der aktuellen Weltlage bietet dafür genügend Belege.
Ist die Neigung zur Gewalt eine unserer Eigenschaften? Nobelpreisträger Konrad Lorenz nannte sie das „sogenannte Böse“. Er hatte in der Tierwelt beobachtet, dass innerartliche Abstoßung und Rangkampf im Rudel evolutionäre Vorteile bieten und auch zum evolutionären Erbteil des Menschen gehören. Während die Verhaltensformen unserer vierbeinigen Mitbewohner jedoch strengen, instinktgesteuerten Regeln unterliegen, kann sich der Mensch darüber hinwegsetzen. Seine Fähigkeit zur Vernunft ermöglicht ihm auch das Unvernünftige. Gesellschaftliche Verhältnisse, ideologische Verblendung, militärische Befehlsketten, Demagogie, Hate-Speech, Massenwahn können aus friedlichen Bürgern reißende Bestien machen. – Literatur und Kino, Tagesschau und Zeitungen sind voll davon. Gerade eben werden wir von der Nachkriegszeit in die Vorkriegszeit gesendet und geschrieben.
Gewalt als Mittel der Konfliktbearbeitung war die ständige Versuchung. Sie führte auch vom Faustkeil zur atomar bestückten Interkontinentalrakete. Seit dem Blitz über Hiroshima ist die „Antiquiertheit des Menschen“ (Günther Anders) manifest. Die technische Möglichkeit der Selbstvernichtung ist unser ständiger Begleiter – für alle Zeit. Abschreckung genügt nicht. Sie kann den „erweiterten“ Selbstmord eines Diktators nicht verhindern, der am Ende seiner Sackgasse angekommen ist. Hätte Adolf Hitler im Reichsbunker vor dem Roten Knopf gesessen, er hätte ihn gedrückt.
Freiheit und Macht bedrohen und bedingen einander. – Wir leben in der freiesten Verfassung der deutschen Geschichte: ein unschätzbarer Vorteil. Wenn es nachts plötzlich klingelt, können wir beruhigt sein. Es ist höchstens der Nachbar, der uns meldet, dass unser Haus brennt. Es ist nicht die Staatspolizei, die uns verhaften will. Der Blockwart, der unser ökologisch korrektes Verhalten kontrolliert, ist noch nicht etabliert.
Grundsätzlich gilt: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Deshalb können sich neue Ideen, Verfahren und Geräte entwickeln, die den Fortschritt befeuern, ihn aber auch steuern, damit sich Vorteile entfalten und Nachteile frühzeitig erkannt und beseitigt werden. Dabei ist Übereifer möglich. Kein Problem für einen Staat mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung und offener Gesellschaft. Er hat Werkzeuge, um Übergriffe abzuwehren und neuartige Herausforderungen zu bearbeiten.
Die vielleicht wichtigste in diesem Jahrhundert ist das Internet. Es zwingt uns, die Vokabeln „Macht- und Freiheit“ ganz neu zu konjugieren. Mit seiner anarchischen Grundstruktur, seiner ungeheuren Verstärkerwirkung und einer schier unendlichen Fähigkeit, nichts zu vergessen, entstand ein Paradigmenwechsel, dessen Auswirkungen auf die Zivilisation bisher nur in Ansätzen erfassbar ist. In der euphorischen Pionierphase traute man ihm zu, durch globale Kommunikation und Information Herrschaftswissen zu unterlaufen und demokratische Modernität zu fördern („Arabischer Frühling“). Inzwischen wissen wir, dass sich das wunderbare Werkzeug – in den falschen Händen – ebenso gut zur Desinformation und Unterdrückung eignet. Milliarden Menschen lassen sich freiwillig bespitzeln und manipulieren. Dramatische Ereignisse (Brexit, Trump, Ukrainekrieg) waren ohne Big-Data so nicht möglich. Die Digitale Transformation aller Bereiche bietet enorme Vorteile. Mit dem richtigen Algorithmus, krimineller Energie und geringem Aufwand können jedoch auch vitale Systeme lahmgelegt werden. Eine gefährliche Asymmetrie. Die Abwehr solcher An- und Übergriffe ist vermutlich der dritte kalte Weltkrieg, den wir gerade erleben.
Angesichts unserer schwachen natürlichen Intelligenz erscheint uns das Thema „Künstliche Intelligenz“ (KI) im Glanz seiner Möglichkeiten, aber hier drohen Missbrauch und Enteignung des Menschen. Warnende Stimmen fordern ein Moratorium. Sicher fragt man in Zukunft nicht mehr, was die neue Technik alles kann, sondern, was sie nicht soll und nicht darf.
Machtkontrolle ist wichtiger als Macht
Die Probleme gleichen sich. Sie erscheinen jedoch in ständig neuer Gestalt. Heute braucht es keinen blutigen Putsch, um den Tyrannen an die Macht zu hieven. Er bringt eine signifikante Mehrheit durch Fake und Demagogie hinter sich. Dann lässt er sich „demokratisch“ wählen. Tags darauf besorgt die Ausschaltung von Parlament, Justiz, Medien und Bürgerschaft den Rest.
Freiheit und Macht. Das konfliktreiche Tandem braucht pragmatische Politik.
Machtkontrolle ist wichtiger als Macht. Ohne Kontrolle führt jede Machtausübung über kurz oder lang in den Machtmissbrauch. Das wussten die Aufklärer à la Montesquieu, Hume oder Kant. Sie hatten ein kategorisches Misstrauen, denn Macht ist verführerisch. Sie „ermächtigt“ zu weitreichenden Wirkungen. Sie erlaubt dem Macht-Haber, das Gemeinwohl zu fördern, Entwicklungen zu steuern, Personen zu dirigieren. Sie verlockt ihn aber auch, persönliche Interessen als richtiger und wichtiger zu empfinden und lieber einsam zu entscheiden, als um Konsens und Kompromiss zu ringen. Er liebt den „Triumph des Augenblicks“ und nicht den „Glanz der Dauer“ (Ortega y Gasset). Unwillkürlich und bald auch willkürlich umgibt er sich mit Kopfnickern und Schmeichlern, die ihm nach dem Munde reden oder nach dem Ohre schweigen. Das führt in einen Teufelskreis. Die Fülle der Möglichkeiten schwindet. Der öffentliche Diskurs verarmt zur „Verlautbarung“ von oben. Aus dem weiten und reichen Horizont des Machbaren wird der ärmliche Stand-Punkt eines persönlichen und eitlen Willens. Am Ende steht krankhafter Wirklichkeitsverlust. ‚Die „Torheit der Regierenden“ (Barbara Tuchmann) führt in die ausweglose Katastrophe. – Das Dilemma des Tyrannen: Er muss ständig vermeintliche Nachfolger beseitigen und verfehlt immer den einzig wirklichen. – Ein schwacher Trost.
Freiheit und Macht. Das konfliktreiche Tandem braucht pragmatische Politik. Es braucht öffentliches Handeln durch kühle Köpfe und starke Persönlichkeiten, die jeder Form von Demagogie und Ideologie widerstehen. Bei der Suche nach geeigneten Wegen gilt es dann, die Wohlmeinenden mitzunehmen und die Übelwollenden an der Leine zu halten.
Freiheit schwindet nicht von heute auf morgen. Sie atrophiert durch Nichtgebrauch und Selbstaufgabe,
- wenn Meinungsgegner moralisch verdammt oder niedergeschrien werden,
- wenn Gefühle und Tatsachen verwechselt werden,
- wenn Regierende glauben, es gäbe „Größeres“ als die Interessen der real lebenden Menschen,
- wenn 99 Normalfälle behindert werden, um den einen möglichen Sonderfall zu regeln,
- wenn Medien die Wahrnehmung der Realität vernebeln, anstatt sie durch Aufklärung zu fördern,
- wenn komplexe Lebensbereiche nur noch simplen Heilsideen unterworfen werden,
- wenn sich Kartelle bilden und Entscheidungen im Hinterzimmer fallen,
- wenn eine kafkaeske Bürokratie gute Ideen ins Abseits befördert,
- wenn…
Diese „Richterskala“ ist nach unten offen.