„Wargaming“ als kreativer Teil von militärischer und ziviler Führungsausbildung
Zivile und militärische Akteure können von einem spielerischen Ansatz profitieren, argumentiert Jorit Wintjes. In seinem Artikel erklärt die faszinierende Rolle von „Wargaming“ als kreativer Teil der Führungsausbildung.
Rund 200 Jahre nach der Einführung des ersten „Wargames“ in den militärischen Ausbildungsbetrieb der preußischen Armee ist das Interesse an Wargaming als ein Bestandteil militärischer Führungsausbildung heutzutage so hoch wie selten zuvor. Als Wargaming bezeichnet man gewöhnlich ein Bündel verschiedener Methoden mit unterschiedlichen Einsatzzwecken; eine präzise Definition ist daher schwierig. Allen Methoden und Zwecken gemeinsam ist immerhin, dass Wargaming normalerweise immer Entscheidungssituationen in den Mittelpunkt stellt – TeilnehmerInnen müssen Entscheidungen fällen, die eine direkte Auswirkung auf den Verlauf des Wargame haben. Dieser durch die jeweilige Entscheidung veränderte Verlauf führt dann wiederum zu neuen Entscheidungen. Verallgemeinernd könnte man daher sagen, Wargames sind im Kern Verkettungen von Entscheidungsaufgaben. Inhaltlich zeigt sich dabei eine ausgesprochen große Vielfalt: so finden sich Wargames heutzutage in der militärischen Ausbildung ebenso wie in der freien Wirtschaft oder dem akademischen Unterricht. Größere Bekanntheit an der Nahtstelle von militärischer und ziviler Entscheidungsausbildung hat beispielsweise in den letzten Jahren das von Till Meyer und Nicole Stiehl entwickelte Wargame “Neustart” erlangt: Hier übernehmen die TeilnehmerInnen die Rolle eines kommunalen Krisenstabes, dessen Ziel es ist, nach einem Blackout die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen und so einen Zusammenbruch von Ruhe und Ordnung zu verhindern.
Die große Vielfalt von Wargames ist historisch begründet. Die rund 200jährige Geschichte des Wargaming ist wesentlich von einer stetigen Verbreiterung von Arten und Einsatzmöglichkeiten geprägt. Das 1824 in der preußischen Armee eingeführte „preußische Kriegsspiel“ war ursprünglich ein rein taktisches Instrument, das in den Wintermonaten dem Heer als Manöverersatz dienen sollte. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte es sich dann zunächst zu einer Entscheidungssimulation, die auch jenseits der rein taktischen Ausbildung zum Einsatz kam, beispielsweise im Rahmen des militärhistorischen Unterrichts; hier diente es dazu, Führungsentscheidungen in militärischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit nachzuvollziehen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts differenzierte es sich dann einerseits über die engen Grenzen des Gefechtsfeldes hinaus und gewann operative sowie strategische Dimension; Durchführungen des preußischen Kriegsspiels beschränkten sich nun nicht mehr auf ein begrenztes Schlachtereignis, sondern konnten größere Operationen oder sogar ganze Feldzüge zum Gegenstand haben. Andererseits erlangte es Verbreitung in verschiedenste Bereiche des Militärs hinein. So entstanden beispielsweise Wargames zu Logistik („Eisenbahnkriegsspiel“), Sanitätswesen („Sanitätskriegsspiel“), dem Einsatz von Kriegsschiffen („Seekriegsspiel“) und schließlich im Verlauf des Ersten Weltkriegs sogar zum Luftkrieg. Parallel begann man, Wargaming nicht nur zu edukativen Zwecken, sondern auch zur Analyse beispielsweise von Kriegsplänen einzusetzen. Gewöhnlich waren die Einsatzzwecke klar voneinander getrennt, manchmal konnten die Grenzen allerdings auch durchaus fließend sein und zur Überprüfung eines Operationsplanes eingesetzte Wargames gleichzeitig auch bildenden Zwecken dienen. Seit 1871 verbreitete sich das preußische Kriegsspiel, also Wargaming als Ausbildungsmethode, auch rasch außerhalb Preußens bzw. Deutschlands. Wenn heute vor allem die anglophone Welt als führend in Einsatz und Entwicklung von Wargames angesehen wird, so ist dies Ergebnis einer Entwicklung, die im Frühjahr 1872 mit der Übernahme des preußischen Kriegsspiels durch die englische Armee ihren Anfang nahm. In der gegenwärtigen Vielfalt von Wargames, die in der zivilen und militärischen Führungsausbildung eingesetzt werden, stellt das preußische Kriegsspiel heutzutage eine Methode unter vielen dar.
Edukatives Wargaming als Teil der Führungsausbildung
Im Rahmen von Führungsausbildung lassen sich edukative Wargames auf verschiedene Art und Weise einsetzen. Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Beschäftigung mit zwei zentralen Eigenschaften militärischer Auseinandersetzungen eine der zentralen Funktionen von Wargames: In ihnen werden die TeilnehmerInnen zum einen mit dem von Carl von Clausewitz beschriebenen Phänomen der Friktion konfrontiert, also dem Problem, dass die Umsetzung des besten Planes durch teilweise geringfügige Unwägbarkeiten – das scheuende Pferd eines Meldereiters oder eine weggeschossene Flaggleine auf einem Kriegsschiff – bereits aus der Bahn geworfen wird. Zum anderen agieren sie im sogenannten „Nebel des Krieges“ („fog of war“), der sie über Lage und Absicht der Kräfte des Feindes ebenso im Unklaren lassen kann wie über die eigener Einheiten, zu denen kein direkter Kontakt besteht. Im Mittelpunkt steht dabei das Problem, das in der deutschen Militärsprache als „grundlegende Lageänderung“ bezeichnet wird, also die Frage, wann sich eine Situation so verändert hat, dass eine grundlegende Korrektur des bisherigen Operationsplans notwendig ist. Helmuth von Moltke fasste dieses Problem in eine bis heute gerne – und leider sehr oft falsch als „Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt“ – zitierte Wendung: „Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus“. Es ist eben nicht der erste Kontakt mit dem Feind, der den eigenen Operationsplan gegenstandslos werden lässt, sondern erst der Kontakt mit dem feindlichen Schwerpunkt wird vermutlich ein Umplanen erfordern. Die Aufklärung feindlicher Kräfte ist somit kein An/Ausschalter für die eigene Planung, vielmehr machen Aufklärungsergebnisse eine ständige Wiederbeurteilung der Lage notwendig. Die Führung einer militärischen Operation ist also als Kette von Entscheidungen zu verstehen, bei denen jeweils auf der Basis von eingehenden Informationen immer wieder überprüft werden muss, ob sich die dem eigenen Operationsplan zugrunde liegende Lage so verändert hat, dass eine Neuplanung notwendig ist.
Während sich andere Teile des militärischen Führungsprozesses wie beispielsweise Abläufe der Stabsarbeit (Verteilung von Arbeitsaufgaben in einer hierarchischen Struktur), Informationsprozessierung (korrektes Abfassen und Interpretieren von Meldungen) oder Raum-Zeit-Berechnungen (geländeabhängige Errechnung der Bewegungsgeschwindigkeit von Truppenkörpern) schematisch üben lassen, ist dies mit der Entscheidung, ob eine „grundlegende Lageänderung“ vorliegt, nicht ohne weiteres möglich. Hier ist es bereits im 19. Jahrhundert das Ziel, die TeilnehmerInnen eines Wargames Situationen auszusetzen, in denen sie eine solche Entscheidung fällen müssen: Wargaming dient hierbei nicht der Einübung von konkreten Abläufen, sondern stellt eine Situation her, in der TeilnehmerInnen auf der Basis der zuvor von ihnen prozessierten Informationen immer wieder Entscheidungen fällen, die den Gang des Geschehens beeinflussen. Das preußische Kriegsspiel eignet sich in besonderem Maße hierfür, da die Entscheidungsdilemmata in diesem Fall nicht von einer Leitung vorgegeben, sondern direkt vom Gegner verursacht werden und damit einen hohen Grad an Unberechenbarkeit erreichen können. Von den TeilnehmerInnen wird dabei eine hohe intellektuelle Flexibilität und die Fähigkeit erwartet, sich aktiv mit einem Gegner auseinanderzusetzen, der unter Umständen zu unorthodoxen Mitteln greift, um zu seinen Zielen zu gelangen.
Wargames im Allgemeinen und preußisch Kriegsspiele im Besonderen sind sehr gut geeignet, um die oben kurz skizzierten Punkte zu üben; ein freilaufendes, kompetitives Wargame vermittelt neben der Bedeutung des Entschlusses auch die Notwendigkeit strukturierter Arbeits- und Informationsverarbeitungsprozesse innerhalb militärischer – und ziviler – Stäbe. Gerade angesichts des derzeit großen Interesses an Wargames, wie es beispielsweise in den seit 2022 jährlich stattfindenden großen Wargaming-Konferenzen von NATOs Allied Command Transformation einen Ausdruck findet (die Konferenz fand 2024 in Deutschland statt), sollte allerdings auch erwähnt werden, dass diese zwar einen wichtigen Beitrag zur Führungsausbildung leisten können, der auf andere Art und Weise kaum erreicht werden kann. Wargames sind aber keine Allzweckwaffe für jede Ausbildungssituation. Gerade freilaufende „Kriegsspiele“, die den TeilnehmerInnen große Entscheidungsfreiheiten einräumen, entfalten ihre volle Wirkung erst dann, wenn grundlegendes Wissen über Führungs- und Entscheidungsprozesse bereits vorhanden ist.
Edukatives Wargaming in Deutschland
In Deutschland steigt das Interesse an edukativem Wargaming und seinen Einsatzmöglichkeiten derzeit, wie beispielsweise durch das an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg gegründete German Wargaming Center erkennbar; damit folgt man hierzulande einem innerhalb der NATO deutlich wahrnehmbaren Trend. Dabei liegt der Schwerpunkt momentan stark im Bereich der AnwenderInnen; Forschung dazu wird immer noch vergleichsweise wenig betrieben. Zudem zeichnen sich die verschiedenen Initiativen an akademischen und militärischen Einrichtungen bislang nicht durch einen hohen Grad an Vernetzung aus; derzeit laufende Bemühungen eine wenigstens lose zusammenhängende „wargaming community“ entstehen zu lassen, sind wenig älter als ein Jahr.
Neben einer Verbesserung der Zusammenarbeit besteht eine wichtige Herausforderung für die Zukunft des Wargaming in der Führungsausbildung in Deutschland im Aufbau einer nachhaltigen Wargames Design-Fähigkeit, also der Fähigkeit, für verschiedenste Auftraggeber und Einsatzzwecke Wargames zu entwickeln. Dabei stellen sich zwei zentrale Herausforderungen: zum einen – und das dürfte die wichtigste Grundregel bei der Entwicklung edukativer Wargames sein – sind für diese Zwecke immer solche Lösungen von besonderer Bedeutung, die konkret auf das jeweilige Ausbildungsziel zugeschnitten sind. Hierfür ist ein Entwicklungsprozess notwendig, in dem zunächst das Ausbildungsziel unter Einbeziehung der intendierten NutzerInnen klar definiert wird und in dem dann im Idealfall bereits während des Entstehens Feedback eingearbeitet werden kann. Zum anderen besteht eine wesentliche Herausforderung in der Zusammensetzung der TeilnehmerInnen. Derzeit ist der Einsatz von Wargames in der Führungsausbildung zumeist auf Militärangehörige beschränkt. Angesichts von hybriden Bedrohungen, die die Gesellschaft in all ihren Verwinkelungen zum Schlachtfeld werden lassen können, ist aber eine enge Vernetzung von militärischen und zivilen EntscheiderInnen notwendig. Für eine solche Vernetzung würden sich Wargames anbieten, in denen militärische und zivile TeilnehmerInnen zusammen Entscheidungen fällen müssen.
Ausblick
Seit der Einführung von Wargaming in der Führungsausbildung hat sich der Charakter des Gefechtsfeldes im Besonderen und der kriegerischen Auseinandersetzung im Allgemeinen dramatisch verändert. Die Mahnungen von TheoretikerInnen wie PraktikerInnen aus dem 19. Jahrhundert, geistige Flexibilität müsse ein zentrales Ziel der Führungsausbildung sein, haben gleichzeitig nicht an Aktualität verloren. Wargaming als Ausbildungsmethode ist genauso relevant, wie es das schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts war.
Um das volle Potential dieser Methode auszuschöpfen, bedarf es erstens Anstrengungen, die über die reine Anwendung hinausgehen und in der Forschung nicht nur Mechaniken und Szenarien von Wargames sowie die durch sie generierten Daten, sondern auch die TeilnehmerInnen und ihr Verhalten eingehender in den Blick nehmen. So sind beispielsweise die TeilnehmerInnen aller Wargames, bei denen Entscheidungen entweder in Echtzeit oder unter durch Rundenzeitbeschränkungen erzeugten Zeitdruck erfolgen müssen, Stress ausgesetzt, der mit Fortschreiten des Wargames zunimmt. Die Auswirkung dieses Stresses auf die Fähigkeit, im Team zu agieren, Entscheidungen zu fällen oder Informationen zu prozessieren bieten Ausgangspunkte für sowohl neurowissenschaftliche als auch verhaltenspsychologische Forschungsansätze. Zweitens müssen angesichts der hybriden Bedrohungen des 21. Jahrhunderts Wargames auch über den reinen militärischen Bereich hinausgehen und zivile sowie militärische Entscheidungsprozesse miteinander verknüpfen. So können gemeinsame Übungen ziviler Krisenstäbe und militärischer Kommandoeinrichtungen dazu beitragen, dass Hindernisse, die durch organisationskulturelle Unterschiede (die bereits bei einem unterschiedlichen Sprachgebrauch beginnen) entstehen können, im Idealfall vor dem eigentlichen Ernstfall beseitigt werden.
Gleichzeitig sind Wargames, wie oben bereits betont, kein Allheilmittel im Rahmen militärischer und ziviler Führungsausbildung. In ihrer 200jährigen Geschichte haben sie aber gezeigt, dass sie wie kaum ein anderes Ausbildungsinstrument geeignet sind, sich einer der größten Herausforderungen für EntscheiderInnen stellen – der Notwendigkeit, auf die Unwägbarkeiten von militärischen oder zivilen Krisenereignissen mit proaktiven Entschlüssen zu reagieren und zu versuchen, ein Mindestmaß an Kontrolle über den Gang der Ereignisse zu bewahren.