Wie Parteien sich in Koalitionsregierungen durchsetzen – und warum sie scheitern
Milan Thies analysiert, woran die Ampel gescheitert ist – und wie sich zukünftige Koalitionen für den gleichen Fehlern schützen können.
Müssen Parteien in Koalitionsregierungen öffentlich streiten, um ihre Positionen durchzusetzen? Das Ende der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP zeigt die Konsequenzen einer solchen Strategie: Über Monate hinweg wurden inhaltliche Differenzen öffentlich zur Schau gestellt; Streit und Blockaden wurden zur Normalität der Koalition. Mit Blick auf künftige Regierungsbildungen ist davon auszugehen, dass erneut Parteien mit zum Teil gegensätzlichen Programmen zusammenarbeiten müssen. Es stellt sich die Frage: Wie kann eine Partei ihre Positionen in einer Koalition durchsetzen, ohne dass diese das Schicksal der Ampel teilt?
Mechanismen der Macht in Koalitionsregierungen
Antworten darauf lassen sich durch die Analyse der Politik anderer Koalitionsregierungen mit ähnlich konträren Positionen wie die Ampelkoalition finden. Ich schlage daher einen Blick auf die Erfahrungen der Einführung und respektive Erweiterung von Elterngeld und Elternzeit in Deutschland und Spanien vor. Beide Reformen folgten nicht einem eigenen Antrieb der CDU in Deutschland oder der konservativen Partido Popular (PP) in Spanien, sondern sind wesentlich durch ihre Koalitionspartner durchgesetzt worden, wie meine kürzlich gemeinsam mit Manuel Alvariño veröffentlichte Studie zeigt. Die Konsequenz war in beiden Ländern eine stark steigende Frauenerwerbstätigkeit, die – entgegen einer konservativen Familienpolitik – einer Neuverteilung der Erziehungsarbeit in Familien Vorschub leistete. Um Ihre Positionen durchzusetzen bedienten sich die sozialdemokratischen und liberalen Koalitionspartner drei unterschiedlicher Mechanismen.
1. Kompromisse zur Regierungsbildung
Der erste zentrale Hebel, um Positionen in einer Koalitionsregierung durchzusetzen, ist die Regierungsbildung selbst. In Koalitionsverhandlungen können Parteien Schlüsselprojekte in Koalitionsverträge einbringen, die später bindend sind – selbst wenn sie den ideologischen Präferenzen der anderen Parteien widersprechen. Ein Beispiel ist die Einführung des Elterngelds in Deutschland (2006): Die SPD konnte im Rahmen einer großen Koalition ihr Konzept im Koalitionsvertrag verankern, obwohl CDU und CSU dies ursprünglich und konzeptionell ablehnten. Die Unionsparteien akzeptierten diese und andere Positionen des Koalitionspartners, um im Gegenzug das Kanzleramt für sich beanspruchen zu können. In Spanien setzte die liberale Partei Ciudadanos 2017 die Ausweitung von Vatermonaten als Teil der Elternzeit in einem Unterstützungsabkommen mit der konservativen PP durch. In beiden Fällen hatten die konservativen beziehungsweise christdemokratischen Parteien keine attraktive Alternative, um eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen und mussten ihren Partnern in einigen Schlüsselprojekten entgegenkommen. Wie stark sich die Regierungsbildung eignet, um Koalitionspartner dazu zu bringen, Positionen zu akzeptieren, die ihren eigenen Überzeugungen entgegenstehen, hängt stark von den Mehrheitsverhältnissen ab.
2. Ressourcenkontinuität der Ministerialverwaltung
Keine Regierung startet bei Null. Ministerien verfügen über etablierte Prozesse, Personal und Fachwissen. Bei einem Wechsel der politischen Führung bleiben sowohl Fachleute als auch in den Ministerien erarbeitete Konzepte erhalten. Auf diese Weise ist das Regierungshandeln aktueller Regierungen oft durch die Arbeit vorheriger Regierungen beeinflusst. Das Elterngeld in Deutschland etwa wurde unter einer SPD-Ministerin erarbeitet. Die beteiligten Fachleute, auch wenn sie durch die sozialdemokratische Ministerin rekrutiert wurden, blieben ebenso wie das detaillierte Konzept im Familienministerium, als dieses nach dem Regierungswechsel von der CDU-Ministerin Von der Leyen geführt wurde. Ergebnis der beiden Mechanismen – Einfluss durch Verhandlungen in der Regierungsbildung und Ressourcenkontinuität in der Ministerialverwaltung – war die beinahe exakte Umsetzung des Elterngeldkonzepts, das schon vor der Wahl 2005 unter der SPD-Ministerin Schmidt entwickelt worden war.
3. Androhung eines Koalitionsbruchs
Parteien können politischen Druck aufbauen, indem sie Konflikte gezielt öffentlich machen und um ihrer Position Gewicht zu verschaffen, mit dem Bruch der Koalition drohen. Dies zwingt Partner zu Zugeständnissen, wenn sie an der Stabilität der Regierung interessiert sind. Politikwissenschaftliche Studien zeigen, dass dieser Mechanismus meist entweder zur Umsetzung der strittigen Reform oder zum Ende der Koalition führt. Beim Ausbau der Vatermonate der Elternzeit in Spanien führte dieser Mechanismus zum Erfolg. Dort drohte die liberale Partei Ciudadanos, ihre Unterstützung für die konservative Minderheitsregierung zu entziehen, falls die konservative PP die vereinbarte Reform nicht umsetzte. Zur Einführung des Elterngelds in Deutschland hingegen war eine solche Eskalation nicht notwendig, da sich die Koalitionspartner damals an die detaillierten Absprachen des Koalitionsvertrags hielten.
Konflikt und Koalitionspolitik der Ampel
Im Gegensatz zur Elterngeldreform der großen Koalition kam es in der Ampelkoalition zu einer Eskalationsspirale öffentlicher Konflikte. Diese Entwicklung lässt sich mit Blick auf die oben identifizierten Einflussmechanismen besser verstehen.
Wie bei der Einführung des Elterngelds wurde auch zu Beginn der Ampelkoalition die Regierungsbildung genutzt, um zentrale Projekte der Partner zu vereinbaren. Der Koalitionsvertrag war umfangreich und enthielt klare Details zu den wichtigsten Vorhaben. Beispiele wie das Bürgergeld und das sogenannte Heizungsgesetz zeigen, dass sogar Reformen umgesetzt wurden, bei denen die Partner konträre Positionen vertraten. Der zentrale Wendepunkt war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das der Koalition die fiskalische Grundlage entzog. Damit konnte der Koalitionsvertrag nicht länger bindend sein, da nicht mehr alle vereinbarten Projekte finanziert und umgesetzt werden konnten.
Als der verhandelte Koalitionsvertrag als zentraler Einflussmechanismus seine Wirkung verlor, blieben den Koalitionspartnern nur wenige Optionen, um eigene Positionen durchzusetzen. Neben einer Politik der kleinsten gemeinsamen Nenner suchten insbesondere die Grünen und die FDP den öffentlichen Konflikt. Die SPD konnte im Gegensatz zu den beiden Partnern auf die Ressourcenkontinuität in der Ministerialverwaltung zurückgreifen: Viele SPD-Projekte wurden bereits frühzeitig umgesetzt, da sie auf Vorarbeiten aus vorherigen Legislaturperioden basierten – darunter zum Beispiel die Mindestlohnerhöhung und das Weiterbildungsgesetz.
Ohne eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrags blieb den Koalitionspartnern entweder eine Politik der kleinsten gemeinsamen Nenner oder der offene Konflikt.
Mit zunehmender Zeit kam es zu immer größeren öffentlichen Auseinandersetzungen. Insbesondere die FDP versuchte durch die Drohung, die Koalition zu verlassen, eigene Positionen durchzusetzen. Letztlich führte dieser öffentliche Streit erst zur koalitionsinternen Blockade und anschließend zum vorzeitigen Ende der Ampelregierung und wirft die Frage auf, ob Koalitionsregierungen in Deutschland künftig grundsätzlich durch derartige Konflikte geprägt sein werden.
Lektionen aus der Ampelregierung
Was können, so die abschließende Frage, zukünftige Koalitionen von der Koalitionspolitik der Ampel lernen?
1. Ein klarer Koalitionsvertrag bleibt essenziell
Ein gut definierter Koalitionsvertrag bleibt das wichtigste Instrument, um zentrale Projekte in Koalitionsregierungen abzusichern. Die nächste Regierung wird vor der Herausforderung stehen, die in Deutschland traditionell starke, nun aber verunsicherte Treue der Parteien zum Koalitionsvertrag wiederherzustellen. Dazu sollten fiskalische, rechtliche und administrative Grundlagen im Vorfeld einer Regierungsbildung möglichst genau abgestimmt werden, um spätere Konflikte zu minimieren. Ebenso wären für nicht vorhergesehene gravierende Änderungen – wie im Fall des Bundesverfassungsgerichtsurteils – Nachverhandlungen zu vereinbaren.
2. Ressourcen der Ministerialverwaltung nutzen
Parteien, die in der Vergangenheit Ministerien geleitet haben, können auf bestehende Vorarbeiten zurückgreifen. Diese Ressourcen, ob Konzepte oder Personal, erleichtern und beschleunigen die Umsetzung zentraler Projekte erheblich. Für die nächste Regierung ist daher zu erwarten, dass Projekte der Ampelkoalition noch umgesetzt werden – und zwar insbesondere jene, die in Ministerien erarbeitet wurden, deren politische Leitung auch der nächsten Regierung angehören wird.
3. Drohungen mit Koalitionsbruch sparsam einsetzen
Drohungen, eine Koalition zu verlassen, sollten nur mit größter Vorsicht eingesetzt werden. Die Erfahrungen der Ampelregierung lehren, dass Koalitionen, mehr als Minderheitsregierungen, durch öffentliche Drohungen und Konflikte großen Schaden nehmen.
Abschließend lässt sich feststellen, dass Parteien unterschiedliche Mechanismen haben um eigene Positionen in Koalitionsregierungen durchzusetzen. Eine Lehre aus dem Ende der Ampelregierung ist, dass die Eskalation der Konflikte dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgten, dass dem wichtigsten Einflussmechanismus der Koalitionäre die Verbindlichkeit nahm. Ohne eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrags blieb den Koalitionspartnern daher entweder eine Politik der kleinsten gemeinsamen Nenner oder der offene Konflikt, der letztlich zum Ende der Koalition führte. Erfahrungen aus Jahrzehnten Koalitionspolitik in Deutschland zeigen, dass zum Zeitpunkt der Regierungsbildung erzielte Kompromisse einem nachhaltigen und effektiven Mechanismus zur Durchsetzung eigener Positionen folgen, der in der öffentlichen Wahrnehmung gut vermittelbar ist und Konfliktpotential für die Regierungszeit reduziert. Diesen zentralen Mechanismus sollte die nächste Koalitionsregierung in den Mittelpunkt stellen.
Kontakt
Wollen Sie mit uns in Kontakt treten?
Weitere Information zu uns und wie Sie Ihren Beitrag bei FMP veröffentlichen können, finden Sie hier.