Angriff auf den Volkssouverän
Dominik Meier und Christian Blum beantworten die Frage, wie mit der „Alternative für Deutschland“ umgegangen werden muss.
Der Erfolg der Alternative für Deutschland und anderer rechtsextremer Parteien in ganz Europa führt die liberale Demokratie scheinbar in einen Zielkonflikt: Einerseits muss sie dissentierende Interessen – auch solche, die unmoralisch oder anstößig sind – zulassen, um die Freiheit der gleichberechtigten politischen Willensbildung nicht zu tangieren. Andererseits muss sie den Fortbestand eben jener ergebnisoffenen, gleichen und freien Souveränitätsausübung schützen, mithin der Abschaffung oder zumindest substanziellen Schwächung der Demokratie auf demokratischem Wege vorbeugen. Beide konträren Imperative des demokratischen liberalen Rechtsstaats lassen sich nicht nur demokratietheoretisch begründen; sie sind vor allem direkte Ableitungen aus den Totalitarismus-Erfahrungen im Deutschland des 20. Jahrhunderts.
Ein falsches Dilemma
Es scheint demnach unumgänglich, sich für ein Horn des Dilemmas zu entscheiden. Seit einiger Zeit mehren sich Stimmen deutscher Intellektueller, prominent vertreten durch die Philosophen Rainer Forst und Stefan Gosepath, die die Option der Offenheit des demokratischen Verfahrens und der weitestmöglichen Toleranz favorisieren. Schließlich liege das Wesen der Politik in Dialog und Widerspruch, und es gelte auch Meinungen zu ertragen, die einem zuwider seien. Schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der Staatsrechtler Hans Kelsen die Demokratie als diejenige Staatsform bezeichnet, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt. Es scheint ihr tragisches Schicksal zu sein, dass sie auch ihre ärgsten Feinde an ihrer eigenen Brust nähren muss. Zudem bietet das alte Böckenförde-Diktum, wonach der liberale Staat durch exekutiven Zwang seine eigenen Grundlagen (ohnehin) nicht garantieren könne, Schützenhilfe.
Aus der Vogelperspektive der philosophischen Studierstube klingt das alles schlüssig – nur hat es mit der politischen Realität nicht eben viel zu tun. So ist das Wesen der Politik nicht der Dialog, sondern die institutionalisierte, an Ämter gebundene Verregelung und Ausübung von Macht, die in der Demokratie – und das macht ihr Proprium aus – abschließend an die Kontrollfunktion der gleichberechtigten Bürger rückgekoppelt ist. Es gibt also keine politisch-moralische Pflicht, sich mit den Meinungen und Positionen anderer auseinanderzusetzen, erst recht nicht, wenn es sich um offenkundig grundrechtswidrige Umsiedelungsphantasien, wie jene vom November 2023 in Potsdam, handelt.
De facto erzeugen die AfD und andere Extremisten oder Neonazis kein Dilemma.
Von Gegnern und Feinden
Das Potsdamer Treffen hat die rote Linie zwischen einem politischen Gegner, mit dem andere demokratische Akteure im fairen, regelbasierten Wettbewerb stehen und einem politischen Feind, der mit seinen Zielen und der Bereitschaft zum systematischen Regelbruch außerhalb des Wettbewerbs steht, klar definiert. Wer Millionen Deutschen, die nach einer ebenso wirren wie bösartigen Doktrin „nicht deutsch genug sind“, die Staatsbürgerschaft entreißen will, beabsichtigt erstens die existenzielle Schädigung des Gemeinwesens. Denn: Die Grenzziehung eines Gemeinwesen erfolgt immer nach außen, zu anderen Staaten hin. Die Grenzziehung erfolgt eben gerade nicht nach innen. Eine Grenzziehung nach innen bedeutet bewusste Spaltung, die finale Folge heißt Implosion des Gemeinwesens oder Bürgerkrieg.
Wer entscheidet, Mitglieder aus einem Gemeinwesen auszugrenzen, diese zu staatenlosen Wesen zu machen, entledigt sich des konstituierenden Elements eines gelungenen gemeinschaftstragenden Narrativs.
Zweitens, und dieser Punkt wiegt aus demokratietheoretischer Sicht noch schwerer, ist das Potsdamer Treffen eine Attacke auf die Gleichheit als Prinzip demokratischer Willensbildung. Demokratische Willensbildung bedeutet in nuce, dass jeder Bürger dieselbe formell-numerische Chance haben muss, seine Interessen in der Politikgestaltung direkt oder indirekt geltend zu machen – ohne Ansehung seiner ethnischen Wurzeln, seines Glaubens, seiner Sexualität und so weiter. Wer diesen Gleichheitsgrundsatz aufheben will, so wie die Potsdamer Verschwörer, der negiert zugleich das Wesen der Demokratie.
Wehrhaft nach innen
Dieser doppelte Angriff stellt einen politischen Ernstfall dar, der die Wehrhaftigkeit der Demokratie herausfordert. Denn der Staat muss, pace Böckenförde, natürlich seine Grundlagen garantieren: indem er Volksverhetzer verfolgt, Terroristen dingfest macht und, ja, indem er auch Parteien verbietet. Die offene Flanke der Demokratie gegenüber Demokratiefeinden entsteht erst dann, wenn man einem weltfernen Ideal diskursiver Demokratie anhängt und den Liberalismus zu einer Satire seiner selbst verzerrt.
De facto erzeugen die AfD, andere Extremisten oder Neonazis nämlich kein Dilemma. Es ist ganz richtig, dass die Demokratie selbst notwendig blind gegenüber dem politisch-moralischen Gehalt, der in den Willensbildungsprozess eingespeist wird, ist; aber der Rechtsstaat als ihr Hüter ist es nicht. Er muss mit der Macht, die er innehat, Sorge tragen, dass die demokratischen Verfahren keine undemokratischen Ergebnisse zeitigen, dass sie sich vermöge ihrer Blindheit nicht selbst abschaffen, und zu diesem Zwecke muss er ihre Feinde auch bekämpfen können.
Hierin liegt zugleich die entscheidende Klassifikation der AfD: Sie ist in ihrer völkischen Radikalität, die demokratische Gleichheit und Zugehörigkeit zum Gemeinwesen negiert, kein politischer Gegner, den man „stellen“ sollte oder dem man anderweitig Rechtfertigungen für die eigene Position schuldig wäre. Sie ist ein Feind der Demokratie, und also solcher muss sie auch behandelt werden.
Das bedeutet aber keineswegs, die Sorgen und Ängste der Menschen, die sich extremistischen Parteien zuwenden, nicht sehr ernst zu nehmen. Kommunikative Brandmauern zu errichten und sich in rhetorischen Schützengräben zu verstecken, stellt keine politische Lösung dar. Die AfD ist primär keine kommunikative Kampagnenherausforderung, sondern eine inhaltliche Herausforderung.
Der Imperativ des demokratischen Rechtsstaats
Dazu gehört auch die selbstkritische politische Einsicht, dass die politischen Entscheidungsträger wie auch unsere Zivilgesellschaft in den vergangenen 20 Jahren, vielen grundlegenden Reformen und Zustandsdiskussionen über unser Gemeinwesen ausgewichen sind. Diese Versäumnisse lasten nun umso schwerer auf unseren Schultern.
Ein politisches Ziel, das inhärent rassistisch und illiberal ist, kann unmöglich mit unser politischen Ordnung vereinbar sein.
Die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie zeigt sich vor allem auch darin, endlich den politischen Mut aufzubringen, zentrale und überholte politische Strukturen in unserem Land zu reformieren. Wer diesen Mut nicht hat, den einst unsere parlamentarischen Mütter und Väter nach dem 2. Weltkrieg aufbrachten, sollte sich über ein rasant steigendes Protestwählertum nicht wundern.
Die Menschen erwarten pragmatische Lösungen für ihre dringendsten Herausforderungen. Demonstrieren am Sonntag ist für die Selbstvergewisserung unseres Gemeinwohlnarrativs wichtig, benötigt aber letztlich aktives und überzeugendes inhaltliches Handeln. Einem immer mehr dysfunktional sich entwickelndem politischen System gelingt es dagegen kaum mehr, seine Feinde abzuwehren.
Die zivilisatorisch verwöhnten Demokraten der Bundesrepublik haben es vielleicht verlernt, dass es neben politischen Gegnern – mit denen man sich nach klaren Spielregeln die Macht teilt, mit denen man sich einigt, die man zivilisiert mit Argumenten beharkt – eben auch jene starken Feinde gibt. Diese missachten nicht nur die Spielregeln des demokratischen Wettstreits, indem sie ganzen Bevölkerungsgruppen demokratische Grundrechte absprechen; sie spielen ein gänzlich anderes Spiel. Und dieses Spiel ist umso gefährlicher, da wir unsere rechtsstaatlichen Hausaufgaben zu lange vernachlässigt haben.
Denn ein politisches Ziel, das inhärent rassistisch und illiberal ist, kann unmöglich mit unser politischen Ordnung vereinbar sein. Diese Erkenntnis explizit zu machen und daraus klare handlungspraktische, exekutive Schlussfolgerungen zu ziehen, das ist der tatsächliche Imperativ des demokratischen Rechtsstaats.
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