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Die Ordnung der Freiheit

Veröffentlicht am
Autor
Josef Braml
Schlagwörter
Autoritarismus
Demokratie
Geopolitik

Westliche Staaten, allen voran die USA, sollten im globalen Systemwettbewerb selbstbewusster ihre freiheitlichen Ordnungen verteidigen und nicht versuchen, Chinas politische Steuerung von Wirtschaftsströmen nachzuahmen, empfiehlt der USA-Experte Josef Braml in einem grundlegenden Essay.

Um frei sein zu können, bedarf es eines gewissen Rahmens, einer Ordnung der Freiheit. Wenn die Welt zusehends aus den Fugen gerät und für immer mehr Menschen haltlos wird, ist es höchste Zeit, sie wieder gedanklich zu ordnen. Das „Denken in Ordnungen“ (Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie) ist grundlegend für unsere soziale Marktwirtschaft, die es zu verteidigen gilt. Denn in einer Welt ohne vertraute soziale Strukturen suchen Menschen andere Zufluchtsräume, die nicht im Sinne einer freiheitlichen Ordnung sind, lautet die Warnung von Ralf Dahrendorf, einem Vordenker des Liberalismus. Eine Welt ohne Halt und Regeln lädt selbst ernannte Ordnungshüter und Sinnstifter geradezu ein, für „Recht und Ordnung“ zu sorgen – auf Kosten der Freiheit.

C.H. Beck

Um die Gefahr zu verdeutlichen, muss man nicht gleich wieder die Schreckgespenster der jüngeren deutschen Geschichte bemühen. Es genügt, sich Demagogen wie Marine Le Pen, die Vorsitzende der rechtsextremen Partei „Rassemblement National“, zu vergegenwärtigen, die heute demokratische Ordnungen des krisengeschüttelten Europas gefährden. „Starke Männer“ wie Russlands Wladimir Putin treiben ihr Unwesen in Mitteleuropas östlicher Nachbarschaft und gefährden die europäische Sicherheitsarchitektur. Baschar al-Assad in Syrien oder Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten rechtfertigen ihre Tyrannenherrschaften nicht zuletzt damit, dass sie auch uns Sicherheit und Stabilität versprechen. Doch solche Ordnungen sind auf Sand gebaut, weil sie das Freiheitsstreben und die kreativen Potenziale ihrer Bürger nicht nutzen und auch nicht auf Dauer unterdrücken können.

Nur in einem demokratischen Regierungssystem können menschliche Grundbedürfnisse nach Freiheit, materieller Sicherheit und Schutz vor willkürlicher Gewalt auf Dauer befriedigt werden. Die Freiheit Einzelner, Wettbewerbswirtschaft und gewaltenteilende Demokratie sind aufeinander angewiesen. Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnungen beeinflussen sich gegenseitig und sind voneinander abhängig.

„Interdependenz der Ordnungen“

Wer Walter Euckens Konzept der „Interdependenz der Ordnungen“ begreift, der erkennt, dass auch Demokratien nicht davor gefeit sind, Freiheit preiszugeben: Wirtschaftliche Macht ist darauf zurückzuführen, dass der Staat es versäumt hat, den Wettbewerb durch einen Rechtsrahmen und Regulierungen zu schützen. Umgekehrt können mächtige Unternehmen und die von ihnen organisierten Interessengruppen die Politik, ja, die Spielregeln der politischen Auseinandersetzung in ihrem Sinne beeinflussen, um zu deregulieren und ihre Privilegien zu erhalten. So gibt es in den USA bereits eine besorgniserregende Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht vor allem in den Bereichen der Medien, Informationstechnologie, Finanzdienstleistungen, Rüstungs- und Ölindustrie. Sie beeinflussen die Politik, um durch Aufweichen rechtlicher Vorschriften, Steuererleichterungen und Subventionen noch mehr vom gesamtwirtschaftlichen Vermögen zu erhalten. Damit der Staat nicht zum Spielball von Einzelinteressen wird, sind Kontrolle und damit Begrenzung von wirtschaftlicher und politischer Macht unerlässlich.

Neben rechtsstaatlichen Garantien und politischer Gewaltenteilung (im Sinne liberaler Vordenker wie John Locke und Montesquieu) leistet ein staatlich konstituierter und regulierter Wettbewerb diese Kontrolle. Wenn Märkte offen gehalten werden, Privateigentum gesichert und Vertragsfreiheit gewährleistet sind und das Haftungsprinzip gilt, dann ist wirtschaftliche Macht instabil und gering. Eine sogenannte freie, sich selbst überlassene Marktwirtschaft, in der das Prinzip des Laissez-faire regiert, führt hingegen unweigerlich zur Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht – zur vermachteten Marktwirtschaft, in der Interessengruppen die Politik lenken.

Deshalb ist nicht ein Nachtwächterstaat gefordert, der im Sinne von Adam Smith die „unsichtbare Hand“ des Marktes gewähren lässt, sondern ein unabhängiger Staat, der mit Argusaugen darauf achtet, dass möglichst viel Wettbewerb herrscht, bei dem niemand über genügend Macht verfügt, um andere zu dominieren. Staatstätigkeit ist demnach eine Frage des Wie, nicht des Wieviel: „Ob wenig oder mehr Staatstätigkeit – diese Frage geht am Wesentlichen vorbei. Es handelt sich nicht um ein quantitatives, sondern um ein qualitatives Problem. Der Staat soll weder den Wirtschaftsprozess zu steuern versuchen noch die Wirtschaft sich selbst überlassen: staatliche Planung der Formen – ja; staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses – nein. Den Unterschied von Form und Prozess erkennen und danach handeln, das ist wesentlich“, verdeutlichten Walter Eucken und Franz Böhm 1948 im Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (ORDO). Wer diese Regeln beachtet, kann beides, Markt- und Staatsversagen, verhindern, erinnerte auch Lars Peter Feld, Professor für Wirtschaftspolitik und Leiter des Freiburger Walter Eucken Instituts.

Doch die Deregulierung der Finanzmärkte, die Aufhebung des Ordnungsrahmens, beförderte beides, Markt- und Staatsversagen. Das ist besonders problematisch, denn der Staat sollte als Hüter einer freien Wirtschaftsordnung die persönlichen Freiheiten und kreativen Potenziale Einzelner schützen und damit auch Entwicklung und Anpassungsfähigkeit der wirtschaftlichen und politischen Ordnungen an externe Veränderungen und Herausforderungen gewährleisten.

Globaler Systemwettbewerb

Im globalen Wettbewerb der Systeme scheinen zwar heute einige Autokratien und ihre gelenkten Volkswirtschaften erfolgreicher als westliche Demokratien und soziale Marktwirtschaften zu sein. Doch auf längere Sicht wird ihre grundlegende Qualität, das sich frei entfaltende kreative Potenzial ihrer Bürger und Unternehmen, es demokratisch verfassten Gesellschaften besser ermöglichen, sich an Veränderungen anzupassen, den neuen globalen Herausforderungen zu begegnen und die internationale, westlich geprägte Ordnung aufrechtzuerhalten.

Mittlerweile ist jedoch dieses Selbstbewusstsein abhandengekommen: Nicht etwa China hat wie erhofft die marktwirtschaftlichen und politischen Werte des Westens übernommen, sondern im Gegenteil kopiert allen voran die westliche Führungsmacht USA den Merkantilismus Chinas und setzt dabei auch seine Verbündeten unter Druck.

Heute besteht in Washington keine Hoffnung mehr, dass China im Zuge seines wirtschaftlichen Erfolgs sein politisches System nach und nach demokratisieren könnte. Dies bedeutet eine Abkehr von der bisherigen „Engagement“-Politik, die auf der Annahme beruhte, China würde sich in die von den USA dominierte westliche Ordnung als „responsible stakeholder“ einfügen. Den USA ist nunmehr jedes Mittel recht, um den Aufstieg Chinas einzudämmen oder gar zurückzudrängen. In diesem geo-ökonomischen Wettbewerb ist freies Wirtschaften nicht mehr das Ziel, sondern das Mittel zum geostrategischen Zweck. Wirtschaft wird als Waffe eingesetzt.

Geo-Ökonomie statt Freihandel

In dem immer dominanter werdenden geo-ökonomischen Denken der Weltmächte sind wirtschaftliche Verflechtung und weltweite Arbeitsteilung nicht mehr notwendigerweise Garant für Wohlstand und Frieden. Stattdessen werden sie zum Risiko, da Ungleichgewichte in der gegenseitigen Abhängigkeit ausgenutzt werden können. Wertschöpfungsketten und Handelsbeziehungen sind zur Waffe geworden: Sie werden zum Objekt geostrategischer Ambitionen. Interdependenz gilt nun nicht mehr als Frieden fördernd, sondern lädt heute zu Angriffen ein.

Interessenskonflikte, insbesondere zwischen den USA und China, werden (noch) unterhalb der Schwelle direkter militärischer Konfrontation mit geo-ökonomischen Mitteln ausgefochten. Handels-, Technologie- oder Finanzpolitik werden als Instrumente genutzt, um geostrategische Ziele zu erreichen. In der heutigen, dynamischen geo-ökonomischen Auseinandersetzung geht es um die Kontrolle von Strömen: insbesondere von Energie-, Rüstungs-, Industriegüter-, Finanz- und Datenströmen. Das Spiel der Kräfte auf freien Märkten wird politisch ausgehebelt und manipuliert.

Der Wettkampf zwischen den USA und China um die Ressourcen der Zukunft ist in vollem Gange und wird mit zunehmender Härte geführt. Deutschland und Europa sind zwischen die Fronten geraten. Nach dem Ansinnen der westlichen „Schutzmacht“ USA darf dem strategischen Rivalen China künftig auch nicht mehr durch wirtschaftlichen Austausch geholfen werden, ökonomisch und technologisch aufzusteigen.

Vielmehr soll mit allen Mitteln verhindert werden, dass China die USA in den technologischen Schlüsselbereichen überholt. Um Chinas ökonomische und militärische Modernisierung zu drosseln, forcieren die Vereinigten Staaten anstelle der bisherigen Politik der Einbindung und Integration eine Strategie der wirtschaftlichen „Entkoppelung“. Amerikas Unternehmenssektor wird seiner Regierung sekundieren und ebenso das „decoupling“ vorantreiben müssen. Immer mehr US-Firmen versuchen, auf Kosten der „Effizienz“, etwa der bisherigen international vernetzten „Just-in-time“-Produktion, mehr „Resilienz“ zu gewinnen. Dieses „Nearshoring“, „Reshoring“ oder „Friendshoring“ bedeutet, dass westliche Firmen ihre Lieferketten aus China wieder nach Hause verlagern. Einige Industriezweige, insbesondere im Technologiesektor, werden umso mehr unter Druck der US-Regierung geraten, dasselbe zu tun.

Es ist zu befürchten, dass die USA diesen kompromisslosen Kurs gegen China weiterfahren werden, weil sie auch selbst weniger zu verlieren haben als andere Länder. Während der globale Handel heute etwa 60 Prozent der weltweiten Wertschöpfung ausmacht, ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA nur zu einem Viertel vom Handel mit anderen Ländern abhängig.

Der wachsende Antagonismus zwischen den USA und China wird jedoch erhebliche negative Auswirkungen für andere Länder zeitigen, da die bilaterale Entkopplung einen umfassenderen Prozess der De-Globalisierung bewirkt. Deutschland ist eine der international verflochtensten und somit am meisten verwundbaren Volkswirtschaften der Welt. Um nicht zum Kollateralschaden des neuen weltumspannenden Konflikts zwischen China und den USA zu werden und sich in der neuen Weltordnung zu behaupten, muss Deutschland auf ein starkes und handlungsfähiges Europa setzen.

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