Endet Marine Le Pens Kandidatur hier?
Trotz aller Bemühungen, ihre Partei neu auszurichten, ist es Marine Le Pen bislang nicht gelungen, an die Macht gewählt zu werden. Das sollte sich 2027 ändern – bis jetzt. Thaima Samman und Jean-Pierre Malbec analysieren, wie Le Pen an diesen Punkt gelangt ist und was als Nächstes passieren könnte.
Das Urteil eines Gerichts, das eine der Spitzenkandidatinnen der nächsten Präsidentschaftswahl wegen der Veruntreuung von EU-Geldern von der Kandidatur ausschließt, ist lediglich das jüngste Beben in dem tiefgreifenden politischen Wandel, den Frankreich im vergangenen Jahrzehnt erlebt hat.
Das Urteil, unabhängig davon, ob es in der Berufung bestätigt wird oder nicht, stellt die Dynamik der französischen Präsidentschaftswahl auf den Kopf – einer Wahl, die das Fundament des derzeitigen politischen Systems und der Institutionen Frankreichs bildet.
Weniger als zwei Jahre vor der Wahl im Jahr 2027 ist ihr Ausgang völlig ungewiss. Das Urteil ist ein Wendepunkt, der Menschen und Parteien, die zuvor nie davon geträumt hätten, dass dies eine reale Möglichkeit sein könnte, neue Chancen für den Einzug in die Stichwahl, und damit letztlich für den Zugang zum höchsten politischen Amt im Land, eröffnet.
Ein Rückblick
Eines der Hauptmerkmale – und zugleich eine Stärke – Frankreichs war über mehr als 60 Jahre hinweg die Stabilität seiner Institutionen und seines politischen Lebens. Dieses war rund um zwei große Regierungsparteien aus der Mitte-rechts- und Mitte-links-Strömung sowie deren verbündete Satellitenparteien organisiert. Zwei große Blöcke bzw. Parteien – die Sozialistische Partei (Mitte-links) und die „gaullistische“ Rechte – wechselten sich, je nach Wahlerfolg, an der Macht ab. Dabei sammelten sich mitunter Satellitenparteien um sie: die Kommunistische Partei im Falle der Sozialisten und traditionellere rechtsgerichtete Parteien (nach europäischen Maßstäben) im Falle der Gaullisten.
Frankreich hat, wie alle liberalen Demokratien, in diesen vergangenen Jahrzehnten politische Umbrüche erlebt. Das Hervortreten einer rechtsextremen Partei, die schon 2002 in die Stichwahl der Präsidentschaft gelangte, war bereits ein erstes Anzeichen für das, was kommen sollte. Der 2017er Sieg Emmanuel Macrons, eines politischen Neulings, der sich als einen neuen Weg jenseits der traditionellen Rechts-Links-Gegensätze präsentierte, war die erste institutionelle Manifestation dieses Wandels, und markierte das Ende des traditionellen französischen Parteiensystems.
Ein weiteres Zeichen für diesen Wandel ist die schrittweise Implosion der historischen Regierungsparteien und der kontinuierliche Aufstieg von Marine Le Pens Rassemblement National (RN). Der RN ging seit 2014 bei jeder Europawahl als stärkste Kraft hervor und wurde zudem nach den vorgezogenen Parlamentswahlen 2024 zur größten Partei in der französischen Nationalversammlung.
Beschleunigung des Wandels der politischen Landschaft durch die vorgezogenen Parlamentswahlen 2024
Durch die Auflösung der Nationalversammlung nach einer deutlichen Wahlniederlage bei den Europawahlen im Juni 2024 verstärkte Emmanuel Macron die politische Zersplitterung und Verunsicherung noch.
Die Dynamik, die den Europawahlen zugrunde lag, deutete auf ein sehr starkes Abschneiden oder sogar einen Sieg der extremen Rechten bei den vorgezogenen Parlamentswahlen hin. Diese Entwicklung wurde jedoch durch die Mobilisierung aller anderen politischen Parteien und der übrigen Wählerschaft im Rahmen einer „republikanischen Front“ gestoppt, die den Weg der extremen Rechten zur Macht blockieren sollte.
Another surprise was that parties on the left stopped their infighting and brokered an electoral alliance to secure the votes needed to make it to round two. They succeeded and came in first, but not with the numbers needed for an absolute majority in the National Assembly, which is where the future government must look to for its majority.
Eine weitere Überraschung war, dass die linken Parteien ihre Streitigkeiten beilegten und ein Wahlbündnis schmiedeten, um genügend Stimmen für den Einzug in die zweite Runde zu sichern. Dies gelang ihnen, und sie gingen als stärkste Kraft hervor – allerdings ohne die nötige Stimmenzahl für eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung, auf die sich eine künftige Regierung stützen muss.
Nach diesen Wahlen hat sich die französische Parteienlandschaft um drei große Blöcke gefestigt:
Das rechtsextreme RN ist gestärkt, aber zugleich auch geschwächt aus den Wahlen hervorgegangen. Mit 123 Abgeordneten von insgesamt 577 (ein Zuwachs von 40%), stellt es den homogensten Block in der Nationalversammlung. Doch die Aussicht auf eine Machtübernahme, die zum Zeitpunkt der vorgezogenen Wahlen greifbar schien, ist in Wirklichkeit in weite Ferne gerückt. Die Wahlergebnisse haben gezeigt, wie weit der RN noch gehen muss, um die starke Ablehnung durch fast 70% der Wählerschaft zu überwinden – die bereit ist, für Kandidatinnen und Kandidaten mit ganz anderen Überzeugungen zu stimmen, nur um dem RN den Weg zur Macht zu versperren.
Ein klassischer rechtsgerichteter Block hat sich um die ehemalige präsidentielle Mehrheit gebildet, der heute das marktfreundliche, pro-europäische Wählersegment repräsentiert. Trotz inhaltlicher Nähe und gemeinsamer Werte mit den „gaullistischen“ Parteien gelang es der ehemaligen präsidentiellen Mehrheit nach den Wahlen 2022 nicht, ein Machtbündnis mit diesen einzugehen. Eine Zweckallianz ermöglichte es jedoch, eine Regierungsvereinbarung auszuhandeln und einige Führungspositionen in der Nationalversammlung zu besetzen, darunter auch das Amt des Präsidenten.
Die linksgerichtete Koalition Nouveau Front Populaire ging zwar als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor, war jedoch nicht in der Lage, eine Vereinbarung zur Teilung der Macht zu schließen oder die fehlenden Abgeordneten zu gewinnen, um eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung zu bilden.
Doch jeder dieser Blöcke ist an seinen Rändern durchlässig: Die Mitte-Links-Kräfte könnten sich durchaus mit den Mitte-Rechts-Kräften zusammenschließen, und ein Teil der konservativen Rechten hat sich bereits mit der extremen Rechten verbündet.
Marine Le Pens Weg in den vergangenen zwei Jahrzehnten
Marine Le Pen ist seit über zwei Jahrzehnten die unangefochtene Führungsfigur ihrer Partei und der gesamten französischen Rechten am äußersten Rand des politischen Spektrums, auch wenn sie 2021 das Amt der Parteivorsitzenden offiziell an ihren damaligen Stellvertreter Jordan Bardella übergab.
Als Tochter von Jean-Marie Le Pen, dem historischen Anführer und früheren Vorsitzenden des Front National, die von ehemaligen Mitgliedern der Waffen-SS und neonazistischen Sympathisanten gegründet wurde, und als seine designierte politische Erbin, hat sich Marine Le Pen nach und nach und mit Erfolg von ihrem familiären und politischen Erbe distanziert.
At the same time, she is sticking to her narrative on her pet subjects, namely immigration, Islam, security issues, and national preference and has shown a talent for winging it.
Sie gab der Partei 2018 ein neues Gesicht und schrieb ihre Geschichte weg von der Position als Randpartei neu, indem sie einige ihrer konservativen Werte ablegte und stattdessen auf sozialen Populismus setzte, teils sogar mit Überschneidungen zu wirtschaftspolitischen Forderungen der Linken am Rande des politischen Spektrums, und sich ganz auf populäre Strömungen stützte. In rein opportunistischer Manier erklärte sie sich zur Befürworterin des Rechts auf Abtreibung, nahm eine wohlwollend neutrale Haltung zur Ehe für alle ein und verzichtete zuletzt darauf, ihren Abgeordneten eine Parteilinie zur Sterbehilfe vorzuschreiben. Inzwischen vertritt sie eine ausgesprochen israelfreundliche Linie, und ihre demonstrative Ablehnung des Antisemitismus hat ihr sogar Sympathien in Teilen der jüdischen Gemeinschaft eingebracht. Kurz gesagt: In ihrem Streben nach politischer Legitimität und Respektabilität hat sie alles abgelegt, was etablierte politische Anführerinnen und Anführer von einer Zusammenarbeit mit ihr abhalten könnte, und führt ihre Abgeordneten mit harter Hand, um Rückfälle in alte Muster zu verhindern. Gleichzeitig hält sie an ihren Kernthemen fest –Einwanderung, Islam, innere Sicherheit und nationale Vorzugsbehandlung – und beweist dabei ein bemerkenswertes Improvisationstalent.
Bisher hat Marine Le Pens Strategie zur Erweiterung ihrer Wählerschaft dem RN nicht den entscheidenden Durchbruch verschafft, weder in Form der zusätzlichen 10 bis 20 Prozent Stimmen, die zum Wahlsieg nötig wären, noch durch die Bildung der politischen Allianzen, die für den Gewinn nationaler Wahlen erforderlich wären. Zudem könnte sich die „Koalition der Gegner“, die sie in allen jüngeren Wahlen unter dem Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen erfolgreich besiegt hat, weiterhin wirksam neu formieren. Dennoch befindet sich Marine Le Pen heute, dank der Schwäche aller anderen Parteien und des Momentums, den sie seit der (relativen) Niederlage des RN bei den vorgezogenen Wahlen 2024 aufgebaut hatte, in einer so günstigen Ausgangslage für einen Sieg 2027 wie noch nie zuvor.
Das Urteil vom 31. März 2025 gegen Marine Le Pen et al.
Ein Pariser Gericht befand Marine Le Pen im Fall der Scheinbeschäftigungen im EU-Parlament durch die FN, der Vorgängerin des RN, der Veruntreuung öffentlicher EU-Gelder für schuldig. Das Gericht sprach gegen sie ein fünfjähriges Amtsverbot aus – mit sofortiger Wirkung und auch im Falle eines Einspruchs, gemäß einer einstweiligen Vollstreckungsanordnung. Zudem wurde sie zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, von der zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden, während die verbleibenden zwei Jahre im Hausarrest verbüßt werden sollen. Hinzu kommt eine Geldstrafe in Höhe von 100.000 Euro. Auch 23 weitere Mitglieder des RN, darunter ehemalige Europaabgeordnete, wurden verurteilt.
Marine Le Pen hat bereits angekündigt, dass sie alle rechtlichen Mittel ausschöpfen wird, um gegen dieses Urteil vorzugehen, unter anderem durch einen Antrag beim Verfassungsrat auf ein sogenanntes vorrangiges vorläufiges Urteil zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ihrer sofortigen Disqualifizierung als Kandidatin für politische Ämter.
Die Justiz hat die Lage bewertet und ergreift Maßnahmen, um noch vor Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs im März 2027 zu einer endgültigen Entscheidung zu kommen. Theoretisch ist derzeit noch alles möglich: von der Bestätigung oder Aufhebung der Disqualifizierung durch die verschiedenen Instanzen und Institutionen, an die sie sich wenden kann, bis hin zu widersprüchlichen Entscheidungen, die die Unsicherheit bis zuletzt aufrechterhalten würden.
Die einzige Gewissheit zum jetzigen Zeitpunkt ist, dass das erstinstanzliche Urteil ihre Reputation erheblich beschädigt und ihre Chancen, die nächste Präsidentschaftswahl zu gewinnen, deutlich beeinträchtigt.
Ein Urteil, das die Dynamik der kommenden Präsidentschaftswahl verändert
Auch wenn Marine Le Pen durch das Urteil geschwächt ist, ist sie noch nicht endgültig aus dem Rennen. Selbst wenn das Berufungsgericht die sofortige Vollstreckung ihrer Disqualifizierung nicht bestätigt, ist es sehr wahrscheinlich, dass ihre Verurteilung wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder bestehen bleibt. Damit könnte sie zwar theoretisch weiterhin kandidieren – jedoch in einem grundlegend veränderten politischen Umfeld, und ihre Aussichten auf einen Wahlsieg wären ernsthaft beeinträchtigt.
Nach anfänglicher Unsicherheit in den Medien und bei politischen Führungspersonen über die angemessene Reaktion auf das Urteil deutet die geringe Beteiligung an der Protestkundgebung am darauffolgenden Wochenende, die unter dem Motto „gegen diesen Angriff auf die Demokratie“ von RN-Führungskräften organisiert wurde, darauf hin, dass dieses Narrativ im Land nicht gut ankam.
Darüber hinaus hatte das gute Abschneiden von Jordan Bardella in Umfragen, die ihn als Kandidaten für die erste Runde der Präsidentschaftswahl testeten, eine bemerkenswerte Bumerangwirkung innerhalb der Partei. Die Tatsache, dass ein glaubwürdiger Alternativkandidat zu Marine Le Pen denkbar erscheint, widerspricht dem Argument, das Urteil sei politisch motiviert gewesen, um die Wahlchancen der Partei zu „zerschlagen“. Dennoch verfügt der derzeitige Parteivorsitzende und „König der sozialen Medien“ nicht über dieselbe Reichweite oder Legitimität wie sie. Zwar zeigen die jüngsten Prognosen für die erste Runde der Wahl im Jahr 2027 keinen großen Abstand zwischen den beiden, doch ist eine Sichtbarkeitskampagne zum Aufbau politischer Glaubwürdigkeit etwas völlig anderes als die Ausdauer, die es braucht, um einen effektiven Präsidentschaftswahlkampf durchzustehen. Bardella wird sich zunächst innerhalb des RN behaupten und seine eigene politische Familie einen müssen – eine Partei, die ihm nicht dieselbe Loyalität und Gefolgschaft entgegenbringt wie Marine Le Pen. Darüber hinaus müsste er sich mit anderen Führungspersönlichkeiten der äußeren Rechten außerhalb des RN arrangieren. Und nicht zuletzt wäre es gewagt, Marine Le Pens Reaktion vorherzusagen, sollte ihr politischer Zögling tatsächlich in Reichweite eines Wahlsiegs kommen – oder ob ihre Unterstützung dann nicht eher einem Kuss des Todes gleichkäme.
Am Scheideweg
Bis zu dem Urteil war dem RN über Marine Le Pen ein Platz in der Stichwahl der Präsidentschaftswahl so gut wie sicher. In einem politischen Umfeld, in dem keiner der großen Blöcke allein gewinnen kann und inmitten einer tiefgreifenden Neuausrichtung der politischen Landschaft, könnte das politische Leben in Frankreich eine völlig neue Richtung einschlagen – womöglich ohne, dass einer der Finalisten der Präsidentschaftswahlen von 2017 und 2022 im Jahr 2027 noch siegfähig ist. Es dürfte noch mindestens einige Monate dauern, bis klar wird, welche Kandidatinnen und Kandidaten und politischen Lager in dieser neuen Konstellation tatsächlich Chancen auf den Wahlsieg haben – ob nun Marine Le Pen, Jordan Bardella oder jemand ganz anderes.
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