Gemeinwohlorientierte Energiepolitik ist keine Mehrheitspolitik
Gemeinwohlorientierte Energiepolitik bedeutet mehr als die Durchsetzung gesellschaftlicher Mehrheitsinteressen. Im Gegenteil bilden fundamentale Gerechtigkeitsgrundsätze ein notwendiges Korrektiv zu demokratischen Prozessen, schreibt Lena Siepker.
Die Energiepolitik ist eng verwoben mit weiteren Politikfeldern wie der Umwelt-, Wirtschafts-, Sozial-, Außen- und Sicherheitspolitik. Entsprechend vielfältig sind auch die mit der Energiepolitik verbundenen Interessenlagen und die auf die Ausrichtung der Energiepolitik wirksamen Kräfte. Besonders sicht- und spürbar wird die angesprochene Verwobenheit in der notwendigen energiepolitischen Auseinandersetzung mit den Auswirkungen gegenwärtiger Krisen (oder treffender: Katastrophen), allen voran und mit besonderer Dramatik dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sowie der schon lange bekannten, aber dadurch nicht weniger bedrohlichen Klimakrise.
Mit der Energiepolitik steht und fällt die Klimapolitik.
Die energiepolitische Ausrichtung Deutschlands muss also Antworten finden aus umweltpolitischer Sicht auf die Emission von Treibhausgasen, die dem Statistischen Bundesamt zufolge in Deutschland zu 69% der Energieerzeugung und dem Energieverbrauch zuzuschreiben sind (Stand 2021). Weitere 17% der Treibhausgasemissionen entstammten im Jahr 2021 dem Straßenverkehr, d.h. dem Verbrennen von Benzin, Diesel oder Autogas. Auch wenn – unter dem fragwürdigen Preis von Lützerath – ein Kohleausstieg bis 2030 anvisiert ist, machte im Jahr 2021 außerdem ein mit 33% beachtlicher Anteil der in Deutschland gewonnenen Energieträger laut Umweltbundesamt immer noch die besonders umweltschädliche Braunkohle aus. Umweltschädlich wirkt dabei nicht nur der Ausstoß von Treibhausgasen, sondern auch die großflächige Zerstörung von Ökosystemen.
Energie als mutidimensionales Politikfeld
Mit der Energiepolitik steht und fällt die Klimapolitik. Daneben sind die infolge des russischen Angriffskriegs stark angestiegenen Gas-, Fernwärme- und Strompreise eine Belastung für Unternehmen und private Haushalte. Insofern Energie einer der wichtigsten Produktionsfaktoren der Volkswirtschaft ist, gefährden die erhöhten Energiekosten das Wirtschaftswachstum, zu dessen Unterstützung sich die Ampelregierung wirtschaftspolitisch verpflichtet sieht. Private, insbesondere einkommensschwächere Haushalte sind zunehmend von Energiearmut betroffen oder bedroht, worauf wiederum eine sozialpolitische Antwort zu finden ist. Auf die Energievorkommen von Ländern angewiesen zu sein, in denen politische Regime gegen völkerrechtliche Konventionen, etwa die Souveränität von Staaten oder die Menschenrechtserklärung verstoßen, ist schließlich nicht nur ethisch hochproblematisch, sondern spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auch eine sicherheitspolitische Angelegenheit. Auch wenn die Bundesregierung Abstufungen verschiedener Staaten hinsichtlich ihrer moralischen und völkerrechtlichen Integrität betont, bleibt die kurzfristige (Teil-)Lösung für die Abwendung von russischem Gas, die Energiepartnerschaft mit der Erbmonarchie Katar, eine Lösung mit bitterem Beigeschmack.
Gemeinwohl als integrierendes Leitprinzip
Es bedarf keines großen Aufwands, um zu zeigen, dass – trotz mancher Synergien – diese verschiedenen Herausforderungen und die damit verknüpften Anforderungen an die Energiepolitik nicht ganz einfach unter einen Hut zu bekommen sind. Um im Rahmen der demokratischen Steuerung und Gestaltung der Energiepolitik nicht der Willkür oder der Durchsetzung schlichtweg besser organisierter Interessen zu verfallen, erscheint es notwendig, die Aushandlung der verschiedenen energiepolitischen Interessen einem tragfähigen Leitprinzip zu unterstellen. Als ein solches Leitprinzip kann das Gemeinwohl in Anschlag gebracht werden. Denn dem Gemeinwohl ist gerade nicht die Dominanz besonders durchsetzungsfähiger Partikularinteressen eingeschrieben, sondern die normative Ausrichtung daran, was am besten für das Gemeinwesen ist (und dabei – das ist eine Ergänzung, die sich nicht aus der Logik des Gemeinwohls, sondern aus anderen moralischen Prinzipien ergibt – anderen Gemeinwesen nicht schadet).
Orientierung am Gemeinwohl bedeutet, (reine) Mehrheitspolitik zu hinterfragen.
Das, was am besten für das Gemeinwesen ist, verliert aber die Interessen und Bedürfnisse der Mitglieder des Gemeinwesens und das demokratische Prinzip der Selbstbestimmung nicht aus dem Blick. Der Anspruch ist vielmehr, dass das, was als Gemeinwohl verstanden werden kann, in fairen demokratischen Willensbildungsprozessen zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft, d.h. den Bürger*innen auszuhandeln ist. Dieser Anspruch ist alles andere als banal, blickt man auf das strukturelle Problem der zunehmenden Ungleichverteilung politischer Beteiligung in der Bürgerschaft und die ungleiche Responsivität politischer Mandatsträger*innen gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen – v.a. zu Ungunsten von Bürger*innen mit geringeren Einkommen und niedrigeren Bildungsabschlüssen (vgl. dazu u.a. die politikwissenschaftliche Forschung von Armin Schäfer). In der politischen Praxis haben derzeit also nicht aller Bürger*innen gleichermaßen die Möglichkeit mitzubestimmen, was das Gemeinwohl ausmacht.
Gleichzeitig ist Gemeinwohl mehr als ein Kompromiss aggregierter Einzelinteressen, d.h. Gemeinwohl ist nicht schon das, ‚was die Mehrheit will‘. Sogenannten ‚integrativen Gemeinwohlmodellen‘ zufolge gibt es vielmehr inhaltlich begründete Grenzen dessen, was legitimerweise als Gemeinwohl bestimmt werden kann. Hierbei spielen etwa unverhandelbare Gerechtigkeitsgrundsätze eine Rolle sowie intersubjektiv nachvollziehbare, sachliche Wissensstände, hinter denen Gemeinwohlbestimmungen nicht zurückfallen dürfen. Die Gültigkeit objektiv begründbarer Grenzen dessen, was legitimerweise als Gemeinwohl bestimmt werden kann, wird nicht von allen Ansätzen der politischen Theorie akzeptiert.
Agonale Demokratietheorien betonen vielmehr die Partikularität und Vorläufigkeit jeder Position. Dass es sich beim Gemeinwohl um mehr handelt als um die schlichte Aggregation der vorliegenden Einzelinteressen, legt sich – trotz aller konzeptuellen Unterschiede und wenn auch auf grundlegend andere Weise – allerdings auch vor dem Hintergrund agonaler Ansätze nahe. Sie betonen die Notwendigkeit, verschiedene (politische) Positionen als solche anzuerkennen und zwar ohne diese bereits miteinander versöhnen und in Einklang bringen zu wollen. In einem Punkt konvergieren integrative Gemeinwohlmodelle also mit der Kritik agonaler Ansätze: Orientierung am Gemeinwohl bedeutet, (reine) Mehrheitspolitik zu hinterfragen.
Wie sieht eine gemeninwohlorientierte Energiepolitik aus?
Eine am Gemeinwohl orientierte Energiepolitik kann also nicht nur an den Interessen politischer Mehrheiten ausgerichtet sein, sondern unterliegt – im Anschluss an integrative Gemeinwohlmodelle – auch dem Maßstab unverhandelbarer Gerechtigkeitsgrundsätze und der Beachtung sachlich relevanter und wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse. Aus Sicht agonaler Ansätze wiederum sind unterschiedliche und möglicherweise konfligierende Positionen mit Blick auf die Gestaltung der Energiepolitik als solche zu hören und ernst zu nehmen, bevor der Versuch unternommen wird, diese in einem politischen Mainstream zu verschmelzen. Unbetroffen davon bleibt der grundlegende Anspruch fairer demokratischer Willensbildungsprozesse gültig, sodass die Einflusschancen derer auf die Gestaltung der Energiepolitik zu verbessern sind, die ihre Interessen aktuell nicht gleichberechtigt einbringen können. Zu denken ist dabei besonders an sozial benachteiligte Gruppen.
Gemeinwohlorientierte Politik als am Wohl des Gemeinwesens orientierte Politik bedeutet zudem, die Persistenz des Gemeinwesens im Blick zu haben und damit auch die Bedürfnisse und Interessen zukünftiger Mitglieder des Gemeinwesens in die Gestaltung der Energiepolitik einzubeziehen. Nicht unmittelbar aus dem Gemeinwohlkonzept selbst abzuleiten, aber angesichts grundlegender Gerechtigkeitsprinzipien außerdem geboten ist, wie bereits erwähnt, anderen Gemeinwesen, d.h. andernorts lebenden Menschen im Zuge der Verwirklichung des Gemeinwohls nicht zu schaden. Soll Energiepolitik am Maßstab des Gemeinwohls orientiert sein – und es wäre begründungsbedürftig, wenn sie das nicht wäre – , sind diese Anforderungen im Zuge der Aushandlung verschiedener Interessenlagen und Positionen zu berücksichtigen.
Eine gemeinwohlorientierte (Energie-)Politik hat damit einen nicht zu unterschätzenden disruptiven Charakter. Eine Konsequenz, die sich für die energiepolitische Ausrichtung Deutschlands aus der vorgestellten Gemeinwohlsystematik ergibt, ist etwa, die durch die Energiegewinnung und den Energieverbrauch verursachten Klima- und Umweltschäden drastisch reduzieren zu müssen, und zwar – neben weiteren Bemühungen um die Steigerung der Energieeffizienz und den Ausbau erneuerbarer Energien – auch durch eine absolute Begrenzung des Energieverbrauchs. Damit wird gleichzeitig die Gemeinwohl-Verträglichkeit des im gegenwärtigen Koalitionsvertrag verankerten Ziels ‚grünen‘ Wachstums infrage gestellt – selbst, wenn dieses Ziel durch politische Mehrheiten gestützt sein mag. Wissenschaftlich fundierte Evidenzen legen nämlich nahe, dass Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch nicht in einem Ausmaß zu entkoppeln sind, das ausreichend wäre, um festgelegte Ziele der Treibhausgasreduktion (im Klimaschutzgesetz angestrebt wird eine Treibhausgasneutralität bis 2045) zu erreichen: So zeigen beispielsweise vom BMWK aufbereitete Daten des Statistischen Bundesamts, dass der Energieverbrauch trotz Steigerung des Bruttoinlandprodukts (BIP) im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte gesunken ist, die Reduktion des Energieverbrauchs geschieht allerdings sehr viel langsamer als der Anstieg des BIP und Entwicklungen wie die zunehmende Verlagerung von Industrien in das Ausland senken zwar den inländischen Energieverbrauch, reduzieren aber nicht die durch inländische Wirtschaftsaktivitäten verantworteten Umwelt- und Klimaschäden.
Werden Klima- und Umweltschutzziele nicht erreicht, werden wiederum die Lebensmöglichkeiten von künftigen Mitgliedern unseres Gemeinwesens und schon jetzt unter Folgen des Klimawandels leidenden, andernorts lebenden Menschen weiter eingeschränkt und bedroht. Die zuvor beschriebenen Anforderungen an die Verwirklichung des Gemeinwohls (die Sicherung der Persistenz des Gemeinwesens und das Nicht-Schadens-Prinzip gegenüber anderen Gemeinwesen) würden damit nicht erfüllt und eine gemeinwohlorientierte Energiepolitik verfehlt.
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