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Kunst und die bedrohte Freiheit – der Kampf gegen die Tyrannei des Realen

Veröffentlicht am
Autor
Dominik Meier

Dieser Text ist eine leicht angepasste Fassung einer Rede, die der Autor zur Eröffnung der Art Gaucín 2023 hielt.

Schlagwort
Kultur

Das Verhältnis zwischen Kunst und Freiheit ist ein schwieriges, aber extrem aktuelles Thema. Und dies nicht nur wegen des Kriegs in der Ukraine und der postpandemischen Zeiten, in denen wir leben. Dieser Tage werden zahllose Menschen wegen ihrer Kunst verfolgt und verurteilt. Aber ebenso viele werden wegen Ihrer Kunst wertgeschätzt und gefeiert.

Jedes Kunstwerk hat auch immer seine persönliche Geschichte mit seinem Künstler und seinem Betrachter. Deshalb lohnt der Blick auf die Künstler selbst: Jeder Künstler kennt beim Schaffen die eigenen Kämpfe im Alltag zwischen innerer und äußerer Freiheit, zwischen den inneren und äußeren Abhängigkeiten, in denen das Leben eines Künstlers oder jeden anderen Menschen steckt. Diese Kämpfe und Abhängigkeiten erzeugen eine innere Spannung.

Diese innere Spannung, sei diese kreativ oder depressiv, lässt sich in den Worten des berühmten Soziologen Erving Goffman zusammenzufassen: „Wir alle spielen Theater“. Jeder spielt verschiedene Rollen und übernimmt unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen im täglichen Leben. Die eine ist Bürgermeisterin, Lehrer, Ärztin, Handwerkerin oder eben Künstlerin. Wir leben alleine, sind verheiratet, in einer Patchworkfamilie oder in einer Künstlercommunity. In unserer Freizeit spielen wir Fußball, musizieren, meditieren oder wir malen vielleicht.

Die Bühne des Lebens ist bunt, vielschichtig, spannend, leider auch oft gefährlich und schmerzhaft. Das Leben ist vor allem aber sozial strukturiert, nach Regeln organisiert und staatlich kontrolliert. Aber es ist auch geprägt von Widersprüchen, Paradoxien und Missverständnissen.

Der Ursprung dieser Widersprüche liegt für den Menschen in der Moderne im Begriff der Freiheit. Diese existentielle Bedeutung des Begriffs der Freiheit lässt sich in eine berühmten Erzählung kurz zusammenfassen. Natürlich spielt die Erzählung in der Schweiz.

Wir gehen kurz ins Jahr 1765. In den Oktober. Der Künstler des Wortes, Jean-Jacques Rousseau, ist auf der Flucht. Er lebt für einige Wochen auf der fast menschenleere Insel St. Pierre auf dem Bieler See. Oft nimmt er das Ruderboot, legt sich auf den Boden des Boot und träumt. „Reverie“, nennt dies Rousseau. Er erlebt nur sich selbst. Nichts außer sich selbst. Rousseau lebt seine eigene Existenz. Es ist eine reine Existenz. Was für uns heute trivial klingt, wie aus einer Soap Opera, war damals die Beschreibung der Geburtsstunde des Individuums. Diese Erzählung ist für den Philosophen Sloterdijk in seiner berühmten Rede über „Stress und Freiheit“ aus dem Jahr 2011 ein Moment, in dem „das moderne Individuum auf die Bühne tritt“. Keine Leistungen, keine Verpflichtungen, keine Ansprüche auf Anerkennung eines Anderen. Es ist die Realität jenseits des täglichen Theaterspiels. Jeder Einzelne kann zum „Ich“ werden, indem er sich von den „Ketten der Gesellschaft“ befreit.

Hubert Robert, Public domain, via Wikimedia Commons

Diese Erzählung ist damit auch eine Beschreibung des Ideals eines modernen Künstlertums. Sie ist eine heroische Zuspitzung gesellschaftlicher Erwartungen und Projektionen auf die Figur des Künstlers, der mithin selbst zur Kunstfigur wird: Die Existenz des Künstlers in der Moderne ist individuell, jeder Bezuf auf Leistungen und Verpflichtungen wird ausdrücklich verneint.

Auch wenn Rousseau hier einen fiktiven Idealzustand beschreibt, müssen wir von diesem ausgehen, um die Widersprüche und Paradoxien zu verstehen, mit denen jeder Künstler in der Gegenwart zu kämpfen hat. Sein persönliches Erschaffen von Kunstwerken ist immer als Auseinandersetzung zu diesem Idealzustand der Freiheit zu beschreiben. Wer bin ich als Künstler? Diese Frage ist immer eine Auseinandersetzung mit dem eignen, ebenso persönlichen wie gesellschaftlichen Alltag. Oder noch einfacher ausgedrückt: Inwieweit möchte ich das Theaterspiel mitspielen?

Denn dieser Idealzustand des Künstlertums ist ein Gegenentwurf, ein NEIN, zur Massengesellschaft und bedingungslosen Vergemeinschaftung. Denn jede Massengesellschaft funktioniert nur, wenn alle mitspielen. Sloterdijk nennt die Entdeckung des Individuums auf dem Bieler See und das NEIN sagen zur Gesellschaft einen „Aufstand gegen die Tyrannei des Realen“. Es ist der Versuch einer Befreiung aus den Ketten der Gesellschaft.

Die Tyrannei der Realität bedeutet, dass die Anforderungen und Belastungen des Alltags uns oft gefangen halten. Unsere Massengesellschaft erwartet, dass wir uns bedingungslos einspannen lassen und uns ihren Anforderungen und Zwängen unterordnen. Struktur, Routine, Konventionen schaffen Erwartungssicherheit – aber für viele, insbesondere für die Kreativen, Abenteurer und Unangepassten unter uns, bedeuten sie vor allem Ödnis und Monotonie.

Genau dagegen wendet sich das moderne Künstlertum als Ideal. Nur wer den Widerspruch zwischen der künstlerischen freiheitlichen Existenz einerseits und den gesellschaftlichen Ketten mindestens erkennt, schafft seinen Ausgangspunkt, um Kunstwerke zu gestalten.

Um noch einmal zur Metapher der rousseau’schen Bootsfahrt zurückzukehren und diese gleichsam zu erden: Niemand kann für immer auf dem Wasser bleiben, sondern er muss irgendwann und zumindest zeitweilig an Land zurückkehren. Aber er sollte drei Imperative aus diesem Boot mitnehmen:

Erstens, vergesst nicht! Vergesst niemals diesen Urzustand moderner Freiheit, diesen Zustand ohne Zwänge, die Bedingungslosigkeit einer reinen Existenz. Nur so gelingt es, ein künstlerisches und persönliches Zeichen gegen die Tyrannei des Realen zu setzen.

Zweitens, engagiert Euch! Das Engagement ist eine Konsequenz der Freiheitserfahrung. Wer den Hauch der Freiheit gespürt hat, weiß, wie schwierig es ist, diese Freiheit zu schützen. Es liegt in unser aller Verantwortung, diese Freiheit der Kunst zu bewahren, zu schützen und zu fördern! Diese Aufgabe dürfen wir niemals der Politik alleine überlassen! Wir sollten gemeinsam für die Kunst und unsere bedrohte Freiheit eintreten. Lasst uns unsere Künstler unterstützen, ihre Werke schätzen und ihre Stimmen hören. Nur so können wir sicherstellen, dass die Kunst nicht zu einer bedrohten Freiheit wird.

Drittens, zeigt Haltung! Wer die Freiheit kennengelernt hat, kennt ihre Zerbrechlichkeit. Freiheit ist auch eine Haltung. Es ist die Haltung zwischen Aufstand und Demut seinen Weg zu finden. Diese Entscheidung sagt viel über den Menschen. Diese Entscheidung sagt viel über seine Größe.

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Kultur

Dieser Text ist eine leicht angepasste Fassung einer Rede, die der Autor zur Eröffnung der Art Gaucín 2023 hielt.

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