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Mächtig oder machtlos?

Veröffentlicht am
Autor
Anna-Maija Mertens

Wie wir unsere gesellschaftliche Macht (nicht) definieren und danach (nicht) handeln – Statt sich der eigenen Rolle, Macht und Verantwortung in unserer Gesellschaft bewusst zu werden, verweisen viele Gruppen auf die eigene Machtlosigkeit – und machen es sich bequem. Um die gesellschaftlichen Herausforderungen zu meistern, brauchen wir ein selbstbewusstes Verständnis von Macht und einen transparenten Umgang mit deren Einsatz.

I. Wir haben ein Problem.

„Es muss aufhören, dass die Zivilgesellschaft die politische Agenda Deutschlands bestimmt!“ Mit diesen Worten eröffnete die sitzungsleitende Führungskraft ein Vorbereitungstreffen des hochrangigen Business20-Prozesses, in dem Akteure der internationalen Wirtschaft sich im Kontext der deutschen G20-Präsidentschaft im Jahr 2017 austauschten. Dafür gab es viel Zustimmung im Raum – offensichtlich war die allgemeine Überzeugung, dass die von der Politik anvisierten neuen Regelwerke, die der Wirtschaft demnächst „aufgebürdet“ würden, auf die Initiative und die Mitwirkung der Zivilgesellschaft zurückgingen. Es gebe keine Wertschätzung seitens der Politik für die Wirtschaft mehr, man sei vom Subjekt zum Objekt deklariert worden und nur für die Umsetzung am Ende des Prozesses zuständig – während die Zivilgesellschaft offenbar von der Politik hofiert würde und das Initiativrecht in der Politik habe.

2022 im Kontext der deutschen G7-Prozesses eine ähnliche Situation, nur andersherum: Wieder organisierten sich die verschiedenen „Engagement-Gruppen“ in Business7, in Civil7, in Women7 und weiteren Stakeholder-Gruppen, um die eigenen Interessen gegenüber der Bundesregierung und den G7-Staaten zu artikulieren. Im Civil7-Prozess, bei dem es um die zivilgesellschaftliche Perspektive auf Themen wie Armutsbekämpfung, Klima und Gerechtigkeit ging, wurde immer wieder laut gemutmaßt: Die Wirtschaft habe vermutlich bereits den direkten und intransparenten Weg zu den politischen Entscheidungsträgern genommen; offenbar sei die Politik ja der Wirtschaft hörig.

Beide Wahrnehmungen sind nicht korrekt. Sie sind zudem kontraproduktiv und führen nicht zu besseren gesamtgesellschaftlichen Lösungen, sondern nur zu verhärteten Fronten, zu einer Gegenüberstellung und zu einer Nullsummenspielkonstellation: Wenn die anderen gewinnen, können wir nur verlieren. Statt der eigenen Aufgabe und Rolle in der Gesellschaft bewusst zu werden, statt die eigene Macht und die entsprechende Verantwortung zu erkennen und danach zu handeln, wird auf die eigene Machtlosigkeit und die Macht anderer verwiesen.

Kann das Taktik sein? Kann es Teil des Machtkalküls sein, so zu tun, als sei man machtlos, um die anderen auszutricksen? Hat man Sorge, dass einem die Macht wieder weggenommen wird, sobald man zugibt, man verfügt über sie? Oder ist es vielmehr Ausdruck einer allgemeinen Schwierigkeit, in unserer Gesellschaft über die eigene Macht zu sprechen, weil man dann zugeben müsste, doch an Macht interessiert zu sein?

Dabei bräuchten wir gerade jetzt angesichts der aktuellen globalen Herausforderungen mächtige Akteure aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, die nicht gegeneinander, sondern in einer Wechselwirkung miteinander an gemeinsamen Lösungen für die Zukunft arbeiten würden.

Können wir das noch hinbekommen?

II. Wie eine Lösung aussehen könnte.

Das wesentliche Thema von Transparency International ist Macht. Nur wer Macht hat, kann sie missbrauchen. Korruption als „Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“ zu definieren bedeutet, sich mit Macht auseinanderzusetzen und die machtbezogenen Chancen und Risiken zu eruieren. Macht ist zwingend für die politische Gestaltung. Aber auch die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft brauchen im politischen Kontext Macht, um mächtig – sprich wirksam – die eigenen Interessen gegenüber der Politik zu vertreten. Macht ist somit ein Instrument der Gestaltung, ein unumgängliches Werkzeug, um den Gesellschaftsvertrag gemeinsam zu konzipieren und ihn sinnvoll gemeinsam umzusetzen. Wer die Macht hat, darf – aber sollte dann auch – mitgestalten, denn das Besitzen von Macht verpflichtet zur Verwendung der Macht.

Macht darf nicht unbegrenzt oder unreguliert sein. Sie muss objektiven Regelungen unterliegen. Mit ihr muss stets eine Verantwortung verknüpft werden, die in Rechenschaftspflichten, Beteiligung, Transparenz, etc. operationalisiert werden kann. Aber sie muss vorhanden sein, damit etwas bewirkt werden kann.

Dabei brauchen wir in unserer Gesellschaft Menschen, die Macht besitzen wollen, die mächtig sein wollen. Was müsste geschehen, damit wirksame und mächtige Akteure in unserer Gesellschaft stolz auf ihre Macht sind, dafür zu sorgen, dass unser Gesellschaftsvertrag sinnvoll und zweckmäßig definiert ist, und ihren Beitrag dafür zu leisten, dass er auch umgesetzt wird?

Es scheint, wir brauchen einen Kulturwandel, den man mit einer gesamtgesellschaftlichen Debatte über Chancen und Risiken von Macht, die Art und Weise der Machtausübung sowie einer Art Inventur der tatsächlichen Machtverteilung einleiten könnte.

III. Ein Beispiel: Das Lobbyregister

Diese Debatte brauchen wir auch und insbesondere, wenn wir Macht operationalisieren, d.h. sie bestimmten Akteuren der Gesellschaft zuweisen, sie mit Grenzen einrahmen und mit den notwendigen Kontrollen und Gegengewichten versehen. Und hier fangen die Schwierigkeiten an, weil wir unsere eigene Macht und die Macht der anderen benennen und beziffern müssen. Man nehme zum Beispiel das neue Lobbyregistergesetz. Die Intention dieses Gesetzes ist, das Lobbygeschehen in der Hauptstadt transparenter zu gestalten: Das Register soll Auskunft darüber geben, wer im politischen Berlin wofür und mit welchen Mitteln Interessenvertretung betreibt – wer also Macht im Kontext der politischen Entscheidungsfindung ausübt. Das Registergesetz hat einige Turbulenzen ausgelöst: Bereits die Frage, wer hier mit „Lobbyist“ gemeint sein könnte und sich folgerichtig eintragen soll, generierte eine heftige Diskussion. Insbesondere entstand eine große Verteidigungswelle zahlreicher Organisationen – von den Kirchen über die Arbeitgeber bis hin zu Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Nach ihrer Ansicht konnten sie mit diesem Gesetz nicht gemeint sein – entweder, weil sie ja über keine Macht verfügten, oder, weil sie ja nicht diese Art von (negativ konnotierter) Interessenvertretung betrieben wie die anderen. Im Gesetz definierte die Politik letztlich einen Katalog von Ausnahmen, die beispielsweise auf der Grundlage (angeblicher) verfassungsrechtlicher Vorbehalte aus dem Gesetz herausgenommen wurden und sich explizit nicht eintragen müssen.

Somit ist das Vorhaben von vorneherein ein Stück weit gescheitert: Das Lobbyregister soll ja ein technisches Instrument sein, um alle vorhandenen Interessen und Interessenvertretungen aufzulisten. Hier geht es nicht um die Bewertung oder Kategorisierung der Interessen, sondern um eine nüchterne Auflistung der diversen Interessen. Wie diese Interessen schließlich bewertet und wie sie in den Gesetzgebungsprozess zugelassen werden, ist die Sache der Volksvertreter*innen, die wir dafür gewählt haben. Dass nun bereits bei der Auflistung der Interessen – der Inventur – eine Vorbewertung vorgenommen wird, ist eine Vermischung und ein Bärendienst hinsichtlich der Transparenz des Lobbyismus. So haben wir keine Grundlage, um uns über alle vorhandenen Interessen auszutauschen. Folgerichtig wird jede weitere Ebene entsprechend schief sein.

Allerdings ist das Register in der jetzigen Form eh erst eine Art Angebot an die Politiker*innen, weil es einen Überblick über das Interessenangebot gibt und nichts über die Nachfrage seitens der Politik aussagt. Die tatsächliche Macht der Lobbyist*innen würde erst durch den sogenannten legislativen Fußabdruck deutlich, der dokumentiert, welche Interessenvertretungen tatsächlich zu dem legislativen Prozess zugelassen werden und welche Interessen somit in der Entscheidungsfindung gehört werden.

Beim Verbandssanktionengesetz – früher Unternehmensstrafrecht – wollten wiederum viele Unternehmen nicht mitwirken, weil das Gesetz eine „pauschale Vorverurteilung“ der deutschen Wirtschaft sei. Auch hier besteht das zentrale Problem darin, die eigene Macht zu verneinen. Die Macht der Unternehmen über das Verhalten der Mitarbeiter*innen ist faktisch, sollte also anerkannt werden, und für diese Macht trägt das Management die Verantwortung, wie vom Gesetzentwurf vorgeschlagen.

IV. Mehr Mut zur Debatte über Macht

Die Diskussion über diese und ähnliche Gesetzentwürfe wird durch die unklare und uneinheitliche Definition von Macht erschwert – oder dadurch, dass man die Diskussion über Macht vermeidet. Wenn wir uns einigen könnten, dass Macht unbedingt auch etwas Positives ist, könnten wir möglicherweise einen pragmatischeren Umgang damit finden. Denn eins ist klar: Der Gesellschaftsvertrag und dessen Einzelelemente, wie Gesetze, muss von allen gesellschaftlichen Akteuren definiert, getragen und umgesetzt werden. Nur wer an der Genese der Regelungen beteiligt war, ist nachhaltig auch an der konstruktiven Mitwirkung bei der Umsetzung interessiert.

Vor diesem Hintergrund ist es dringend geboten, dass wir einen gesellschaftlichen Dialog über Macht und ihre Chancen und Risiken führen. Und wir brauchen die Macht der jeweils „anderen“ – wenn die Wirtschaft bei der Umsetzung nicht mächtig mitwirkt, bleiben die Gesetzestexte, die die Zivilgesellschaft möglicherweise mitinitiiert hat, wirkungslos. Somit bedingt die Macht anderer auch unsere Macht – und zwar in einer positiven Korrelation.

Es geht also um eine gute und sinnvolle Rollenverteilung. Eine Gesellschaft braucht sowohl private Akteure, die effizient wirtschaften und so zum Allgemeinwohl beitragen, als auch Akteure, die sich dezidiert für übergreifende Themen des Allgemeinwohls einsetzen. Alle diese Akteure müssen die Möglichkeit haben, ihre Interessen zu artikulieren. Der Zugang sollte also nicht reguliert werden nach vermeintlich „guten“ und „schlechten“ Interessen, sondern nach dem gleichen und fairen Verfahren für alle. Die Abwägung dieser Interessen ist Aufgabe der dafür von den Wähler*innen legitimierten politischen Entscheidungsträger*innen.

Die sowohl von den Business20 als auch den Civil7 monierte fehlende Mitwirkungsmöglichkeit kann tatsächlich ein Problem sein – auch, wenn es nur eine Wahrnehmung ist. Denn sie führt zu Verdrossenheit und Passivität. Dabei ist es wichtig, dass alle Akteure der Gesellschaft sich nicht nur als Objekte der Regelungen, sondern als mächtige Subjekte verstehen, die über einen bestimmten Anteil an der Gesamtmacht verfügen, wenn gesellschaftsvertragliche Vereinbarungen getroffen werden. Und die sich an das kleine Einmaleins der Demokratie erinnern: sich gegenseitig wohlwollend zuhören, konstruktiv nach gemeinsamen Lösungen und Kompromissen suchen und für deren Umsetzung dann auch pragmatisch Verantwortung übernehmen. Nur mit aktiv gestaltenden gesellschaftlichen Akteuren können wir uns als Gesellschaft nachhaltig weiterentwickeln. Hierzu brauchen wir ein anderes Verhältnis zur Macht. Wir müssen auch in der Lage sein, stolz zu konstatieren, dass wir alle an Macht interessiert sind – als entscheidendes Mittel zum Zweck.

 

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