Schwach weil sie stark ist: die SCO als geopolitisches Sicherheitsventil
Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) ist keine Alterantative zur Nato, sondern kanalisiert Rivalitäten in Eurasien und fungiert als geopolitisches Sicherheitsventil, analysiert Eldaniz Gusseinov.
Während im Westen der Niedergang der liberalen Ordnung beklagt wird, wächst östlich des Urals ein anderes Modell: die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO). Sie ist kein Bündnis mit klaren Gegnern, sondern ein Forum der Paradoxien. Ihre Macht beruht darauf, dass sie schwach ist: gerade, weil niemand die anderen dominieren darf, können Rivalen wie Indien und Pakistan im selben Raum bleiben. Der „Shanghai-Geist“ – Vertrauen, Gleichberechtigung, Nichteinmischung – ist weniger gelebte Realität als politisches Vokabular, aber genau darin liegt die Funktion der SCO: Sie ist Labor für eine postwestliche Ordnung, in der Konsens wichtiger als Effizienz.
Vom Grenzkonflikt zur Weltordnung
Die SCO wurzelt in den Grenzkonflikten der 1990er Jahre. Russland, China und drei zentralasiatische Nachbarn; Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan suchten damals eine Plattform, um die sowjetisch-chinesische Grenze zu befrieden. Die 2001 gegründete SCO wuchs schnell: Usbekistan kam hinzu, später Indien und Pakistan (2017), Iran (2023) und Belarus (2024). Heute versammelt sie fast die Hälfte der Weltbevölkerung, über ein Viertel des globalen BIP und eine Landmasse vom Gelben Meer bis nach Minsk.

Offiziell zielt die SCO auf Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und kulturelle Verständigung in Eurasien. Doch während sie einst vor allem als Sicherheitsformat zur Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus fungierte, verschiebt sich der Fokus heute zunehmend auf wirtschaftliche Vernetzung. Hinter Schlagwörtern wie „Shanghai-Geist“ und „multipolare Weltordnung“ steht heute der Versuch, einen eigenständigen eurasischen Raum aufzubauen, der sich von westlich dominierten Institutionen abgrenzt.
Doch diese Expansion macht die SCO keineswegs zu einem ideologisch geschlossen Block nach Art des Kalten Krieges. Wer offizielle Verlautbarungen liest, erkennt eine gewisse Monotonie: seit Jahren wiederholen sich dieselben Formeln über „eine gerechtere Weltordnung“ oder „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“.
In der letzten Erklärung der Organisation wurde festgehalten, dass alle Mitglieder der SCO den Angriff Israels und der USA auf den Iran während des 12-tägigen Krieges verurteilen. Zuvor hatte sich Indien geweigert, sich solchen Erklärungen anzuschließen. Eine derart offene Stellungnahme ist vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Organisation zu beobachten. Dies zeigt, dass die Mitglieder der SCO die Organisation nutzen, um Regeln für eine neue multipolare Weltordnung zu gestalten.
Auf dem jüngsten Gipfel in Tianjin mit 23 Staats- und Regierungschefs klangen die Phrasen vertraut, aber zugleich deutete sich Verschiebung an: Afghanistan, einst Dauerthema, wurde viel weniger erwähnt, nicht mehr primär als Bedrohung, sondern zunehmend im Kontext der transafghanischen Korridore, wie es Usbekistans Präsident Mirziyoyev betonte. Diese Verschiebung von Sicherheit hin zu Logistik verweist auf die neue Logik: Transportwege sind die eigentliche Bühne des Wettbewerbs. Das Ziel der SCO-Mitglieder ist nicht mehr die militärische Stabilisierung Afghanistans, sondern dessen wirtschaftliche Einbindung als Transitkorridor. Zentralasien, China und Russland wollen über transafghanische Projekte – etwa die Korridore Termez–Peshawar oder Torgundi–Herat – Zugang zu südasiatischen Märkten schaffen und zugleich westlich oder einseitig US-dominierte Routen umgehen. Afghanistan wird damit zum Bindeglied zwischen der zentralasiatischen und der südasiatischen Infrastrukturstrategie und nicht mehr so häufig als Sicherheitsrisiko wahrgenommen.
Zentralasien als Taktgeber
Die SCO erklärt regelmäßig, dass Zentralasien ihr „Kern“ sei. Dahinter steht mehr als Symbolik. Die Region nutzt die Plattform, um eigene Projekte zu lancieren. So wurde im Jahr 2025 ein „Universelles Zentrum zur Bekämpfung von Sicherheitsbedrohungen“ beschlossen, das auf der bestehenden Regionalen Anti-Terror-Struktur in Taschkent (RATS SCO) aufbauen soll. In Duschanbe entsteht ein Antidrogenzentrum, in Bischkek ein Zentrum gegen transnationale Kriminalität. Sicherheit lässt sich institutionalisieren, auch wenn die Organisation keine Beistandsklausel wie den Nato-Artikel 5 kennt.
Ökonomisch bleibt die SCO dagegen schwach. Seit Jahren wird ein Entwicklungsbankprojekt diskutiert, zuletzt in Tianjin, doch geeinigt wurde sich lediglich auf eine „Deklaration“, nicht die Einrichtung einer echten Bank. Während BRICS und OIC längst solche Banken gegründet haben, bleibt die SCO hier zurück. Auf dem letzten Gipfeltreffen der SCO wurde die Gründung einer SCO-Entwicklungsbank beschlossen, doch die praktische Umsetzung bleibt bislang unklar. Dasselbe Muster zeigt sich bei den großen Korridoren: vom Mittleren Korridor über das Nord-Süd-Netz bis hin zur China-Kirgistan-Usbekistan-Bahn. Diskutiert wird viel, umgesetzt wird wenig. Doch gerade darin liegt der Nutzen für die fünf Staaten Zentralasiens (Turkmenistan ist kein SCO-Mitglied, aber wird oft zu den Sitzungen eingeladen): Sie können Themen setzen, Aufmerksamkeit bündeln und Kapital mobilisieren, ohne sich exklusiv an Moskau, Peking oder Neu-Delhi zu binden.
Pardoxien und Konsens
Das Prinzip des Konsenses ist das Herz der SCO. Es verhindert einerseits Dominanz und produziert andererseits Blockaden. In Tianjin blockierte Indien beispielsweise den Antrag Aserbaidschans auf Beitritt, Pakistan daraufhin den Armeniens. Früher hatte Tadschikistan jahrelang den Beitritt Irans verzögert. Doch diese Bremswirkung ist zugleich ein Schutzmechanismus. Sie zeigt, dass selbst kleine und ärmere Mitglieder Gewicht haben.
Die SCO ist eine Bühne; sie bringt Staaten zusammen, die sich über vieles uneinig sind, und verwandelt diese Uneinigkeit in ein Narrativ: Eine multipolare Ordnung ist möglich. Ihre Erklärungen sind oft Wiederholungen, doch ihr Kernauftrag besteht im Offenhalten von Gesprächsräumen zwischen Rivalen.
Sehr aufschlussreich sind die von China eingebrachten Initiativen, die in die Erklärung von Tianjin aufgenommen wurden. Zugleich zeigt sich ein Gleichgewicht mit den von Russland und Indien vorangetriebenen Konzepten. Im Dokument bekräftigten die Teilnehmer den Wunsch nach einer „Gemeinschaft mit geteilter Zukunft für alle der Menschheit“, die China aktiv fördert, und der Entwicklung eines Dialogs im Rahmen der Leitidee „Eine Erde. Eine Familie. Eine Zukunft“, die von Indien ins Leben gerufen wurde.
Es entsteht der Eindruck, dass einzelne Mitglieder der SCO diese Konzepte im Rahmen einer reformierten UNO unter den Schlüsselideen oder sogar unter den neuen Grundprinzipien der globalen Organisation verankern möchten.
Für Russland hatte dabei vor allem die Festschreibung des Prinzips gleicher und unteilbarer Sicherheit in Eurasien besondere Bedeutung.
Das Konsensprinzip ermöglicht es China und Russland, zu zeigen, dass sie nicht beabsichtigen, die Arbeitsweise der Organisation oder die Ausgestaltung einer neuen Ordnung in Eurasien durch die SCO zu diktieren. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, wie dem Krieg in der Ukraine, wirkt dies faktisch automatisch zugunsten der beiden Staaten und verdeutlicht die Prinzipien der Organisation in der Praxis.
Was bleibt für den Westen?
Die SCO ist weder eine zweite NATO noch eine neue UNO. Ihre reale Funktion ist subtiler: Sie ist Sicherheitsventil und Normlabor zugleich. Im Sicherheitsbereich kanalisiert sie Rivalitäten, ohne sie zu lösen. Im ökonomischen Bereich testet sie Formate wie Abrechnungen in Landeswährungen oder digitale Zollprozesse, die langfristig Lieferketten robuster gegen Sanktionen machen können. Im ökonomischen Bereich testet die SCO zunehmend Formate wie Abrechnungen in Landeswährungen oder digitale Zollprozesse, die langfristig Lieferketten robuster gegen Sanktionen und externe Schocks machen könnten. Parallel dazu diskutieren Mitgliedsstaaten über die Vernetzung nationaler Zahlungssysteme und über Pilotprojekte zur Nutzung digitaler Währungen, wobei insbesondere China den e-Yuan aktiv als grenzüberschreitendes Abrechnungsinstrument fördert. Diese Ansätze zielen darauf ab, den Handel innerhalb des eurasischen Raums unabhängiger von westlich dominierten Finanzinfrastrukturen zu gestalten und regionale Wertschöpfungsketten schrittweise zu vertiefen. Im normativen Bereich bietet sie eine Sprache, die im Globalen Süden zunehmend Resonanz findet.
Für Europa und Deutschland heißt das: beobachten statt überhöhen. Doch Ignoranz wäre gefährlich. Wer die SCO abtut, übersieht ein Netzwerk, das leise Standards setzt und Räume verschiebt. Gerade weil sie schwach ist, ist sie für viele Staaten attraktiv, und darin liegt ihre paradoxe Stärke.
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