Warum reden wir über die Schuldenbremse?
Deutschland befindet sich seit Anfang 2021 in einer Stagnation. Nach der Erholung vom Pandemie-Schock, der das Wirtschaftsleben in den Jahren 2020 und 2021 stark beeinträchtigt hatte, verharrt die gesamtwirtschaftliche Leistung seit nunmehr drei Jahren auf dem Niveau des Jahres 2019. Dem in den letzten beiden Jahren nur schwach expandierenden Dienstleistungssektor, auf den rund 70 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Produktion in Deutschland entfallen, gelingt es gerade so, die enormen Einbrüche in der Bauwirtschaft und den seit Frühjahr 2023 anhaltenden Rückgang in der Industrie auszugleichen. Die Industrie leidet unter den geopolitischen Konflikten und der damit einhergehenden schwächeren Weltwirtschaft. Zum Jahresanfang 2025 war keine Entspannung bei den weltpolitischen Konflikten zu erkennen. Vielmehr verfestigte sich die geoökonomische Blockbildung, was in Kombination mit dem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit durch die hohen Energie- und Arbeitskosten dem deutschen Außenhandel zusetzt. Hinzu kommen mit der Wiederwahl von Trump zum US-Präsidenten die Risiken einer unwägbaren und konfrontativen Politik der USA ab dem Jahr 2025.
Die bewegungslose Konjunktur in den Wirtschaftsbereichen der Volkswirtschaft geht mit einer ernsten Investitionskrise in Deutschland einher. Vor allem die Ausrüstungsinvestitionen, zu denen Investitionen in Maschinen, Geschäftsausstattungen und Nutzfahrzeuge zählen, liegen seit nunmehr fünf Jahren durchgehend unter dem Niveau vor Ausbruch der Pandemie. Die direkten Produktions- und Geschäftsbelastungen sowie die Verunsicherungen infolge der geopolitischen Verwerfungen erklären die zurückgenommene Investitionsneigung. Dazu kommen die Verunsicherungen im Kontext der energiepolitischen Transformation und der unklare wirtschaftspolitische Kurs in Deutschland.
Die akkumulierten Ausfälle bei den Bruttoanlageinvestitionen infolge der Pandemie, der geopolitischen Konflikte und in Teilen aufgrund der Regierungstätigkeit in Deutschland beliefen sich gemäß einer IW-Schätzung vom Jahresanfang 2020 bis zur Jahresmitte 2024 auf rund 210 Milliarden Euro. Die aufgeführten Verunsicherungen werden aber auch weiterhin das Investitionsklima in Deutschland belasten. Auch für 2025 wird ein Rückgang der realen Bruttoanlageinvestitionen erwartet.
Diese immensen Investitionsverluste beeinträchtigen zum einen die konjunkturelle Dynamik. Sie bremsen zum anderen langfristig empfindlich das Produktionspotenzial der deutschen Volkswirtschaft. Die Investitionsschwäche in den letzten Jahren wird in Abbildung 1 sichtbar. Demnach lagen die preisbereinigten Bruttoanlageinvestitionen im Zeitraum 2020 bis 2023 mehr oder weniger auf dem Niveau der vorhergehenden Betrachtungsperiode. Dagegen waren in den drei Zeitabschnitten zuvor jeweils zum Teil sehr deutliche Anstiege bei den realen Investitionen zu verzeichnen.
Für eine Analyse des in einer Volkswirtschaft für Produktion und Einkommen zur Verfügung stehenden Kapitalstocks kommt es jedoch nicht nur auf die laufende Kapitalbildung in Form der Investitionen an. Den Investitionen müssen die Abgänge aus dem Kapitalstock gegenübergestellt werden. Abgänge entsprechen den Anlagegütern, die wegen Verschrottung und Funktionsverlust nicht mehr im Produktionsprozess eingesetzt werden und somit keine Produktionswirkung mehr entfalten können. Besondere Ereignisse, wie die Transformation im Rahmen der Wiedervereinigung, Hochwasserschäden, die Stilllegung von Zechen oder Kraftwerken hatten außergewöhnliche Auswirkungen auf den Kapitalstock in Deutschland.

In Abbildung 1 werden für Deutschland ab dem Jahr 1991 zum einen das Niveau der realen Bruttoanlageinvestitionen sowie zum anderen die absoluten Abgänge beim Kapitalstock gezeigt. Die zum Teil deutlich ansteigende, aber auch zeitweise stagnierende Investitionstätigkeit war seit Anfang der 1990er Jahre von einem durchgehenden Anstieg der Abgänge begleitet. Dies reflektiert auch die Investitionszyklen in den 1960er Jahren und Ende der 1980er in Westdeutschland sowie Anfang der 1990er Jahre in Deutschland, die zeitversetzt zu entsprechenden Zyklen bei den Abgängen führen.
Abbildung 1: Zugänge und Abgänge beim Kapitalstock in Deutschland
Investitionen und Abgänge beim Kapitalstock in Milliarden Euro
Jahresdurchschnittliche und preisbereinigte Werte gemäß einer Rückrechnung der nominalen Werte von 2023 mit dem Kettenindex für die preisbereinigten Werte der Bruttoanlageinvestitionen und der Abgänge. Die Krise im Jahr 2020 und die darauffolgende Erholung im Jahr 2021 werden (analog zu den Jahren 2009 und 2010) einem Zeitraum zugeordnet. Quelle: Statistisches Bundesamt; Institut der deutschen Wirtschaft
Die derzeit hohen Abgänge aufgrund hoher Investitionen in der Vergangenheit erfordern heutzutage hohe Ersatzinvestitionen. Während sich die Abgänge in der ersten Hälfte der 1990er Jahren erst auf knapp 40 Prozent der laufenden Bruttoinvestitionen beliefen, waren es in der jüngsten Dekade gut 70 Prozent. Entsprechend ging die Differenz zwischen Investitionen und Abgängen deutlich zurück – mit den entsprechend immer schwächer werdenden Effekten auf die Entwicklung des Kapitalstocks. Für die Entwicklung des absoluten Kapitalstocks kommt es letztlich darauf an, ob und in welchem Ausmaß die laufenden Investitionen die Abgänge übertreffen. Selbst merklich ansteigende Investitionen lassen nicht unbedingt auf eine Zunahme des Kapitalstocks schließen.
Die aktuelle Investitionsschwäche dämpft somit noch stärker als in den vorhergehenden Zeitabschnitten die Kapitalstockdynamik in Deutschland in Anbetracht der anhaltend ansteigenden Kapitalabgänge und der zugrundeliegenden Veraltung und Obsoleszenz des Produktionskapitals.
Die Folgen der in Abbildung 1 dargestellten Entwicklung von Investitionen und Kapitalabgängen in Deutschland in den letzten Dekaden auf die Dynamik des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks und dessen Wachstumseffekte sind aus Abbildung 2 ablesbar. Dabei wird ein Growth Accounting-Ansatz zugrunde gelegt, mit dem das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Leistung mit den Beiträgen der zentralen Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und dem technischen Fortschritt erklärt werden kann. In Abbildung 2 wird zum einen das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts – als Indikator für die gesamtwirtschaftliche Leistung und das damit einhergehende Produktionseinkommen – dargestellt. Zum anderen wird der Beitrag des Produktionsfaktors Kapital zu diesem Wachstum ausgewiesen. So war beispielsweise im Zeitraum 2016 bis 2019 ein jahresdurchschnittliches Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 1,8 Prozent zu verzeichnen. Der Wachstumsbeitrag des Produktionsfaktors Kapitals belief sich dabei auf 0,5 Prozentpunkte pro Jahr. In der ersten Hälfte der 1990er Jahr belief sich der Kapitalimpuls dagegen noch auf jährlich 1 Prozentpunkt.
Die zumeist positive Differenz zwischen dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und dem Wachstumsbeitrag des Kapitals erklärt sich aus einem Zuwachs beim Arbeitseinsatz und/oder dem Wachstumseffekt des technischen Fortschritts. Ein durchgängiges Muster ist allerdings nicht zu erkennen. Insgesamt betrachtet resultieren über die vergangenen Dekaden hinweg die Produktionszuwächse in Deutschland zur Hälfte aus dem technischen Fortschritt. Die andere Hälfte kommt aus den Investitionen und der damit einhergehenden Kapitalstockbildung. Der Faktor Arbeit hat zwar das Wirtschaftswachstum sehr deutlich von 2005 bis zur Pandemie begünstigt. Dagegen stehen jedoch Rückgänge beim Arbeitsvolumen in den vorhergehenden 15 Jahren sowie am aktuellen Rand. Im Gesamtblick auf die Zeit seit 1991 kamen keine Wachstumsbeiträge aus einem zusätzlichen Arbeitseinsatz.
Abbildung 2: Rückläufige Kapitalimpulse zum Wachstum in Deutschland
Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts in Prozent und jahresdurchschnittliche Beiträge der Kapitalstockbildung in Prozentpunkten

Worauf die hier angelegte Betrachtung abzielt, sind die immer schwächer werdenden Kapitalimpulse in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre. Im Vergleich zu Westdeutschland im Zeitraum 1960 bis 1990 fällt der Rückgang noch gewaltiger aus. Nach rund 1 Prozentpunkt in den 1990er Jahren und rund einem halben Prozentpunkt in den folgenden beiden Dekaden führt die schwache Investitionstätigkeit in den letzten Jahren in Kombination mit den weiter ansteigenden Abgängen dazu, dass nur noch rund ein Drittel Prozentpunkt des gesamtwirtschaftlichen Produktionswachstums aus dem zusätzlichen Einsatz des Faktors Kapital stammt. Zu den schwächer werdenden Kapitalimpulsen kommt derzeit bereits ein negativer Wachstumseffekt des Faktors Arbeit. Vor allem in den kommenden zehn Jahr wird der Bremseffekt des Faktors Arbeit aufgrund der demografischen Entwicklung noch stärker negativ zu Buche schlagen. Aus dem technologischen Fortschritt kamen in den vergangenen vier Jahren hierzulande keine Wachstumsimpulse mehr. Auch dies ist neben der Kapitalschwäche ein besorgniserregender Befund.
Die Hintergründe für die aktuelle Investitionsschwäche in Deutschland – tatsächliche Beeinträchtigungen und Verunsicherung durch die Geopolitik, Verschlechterung der Standortbedingungen und der Wettbewerbsfähigkeit sowie Unsicherheiten durch die anstehende Transformation und über die dafür notwendigen Rahmenbedingungen – wurden bereits angesprochen. Die Investitionstätigkeit war aber bereits seit geraumer Zeit in Anbetracht der wachsenden Ersatzbedarfe durch die Veraltung des bestehenden Kapitalstocks offensichtlich nicht ausreichend. Zumindest wenn es darum ging, die Wachstumsbeiträge des Kapitalstocks auf dem vormalig höheren Niveau zu halten.
Abbildung 3: Private und öffentliche Investitionen in Deutschland
Entwicklung der realen Bruttoanlageinvestitionen des Staates und der Nichtstaatlichen Sektoren; Index 1991=100
Nichtstaatlichen Sektoren: Kapitalgesellschaften, Private Organisationen ohne Erwerbszweck und private Haushalte. Quellen: Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen
Abbildung 3 zeigt, dass sowohl die privatwirtschaftliche als auch die staatliche Investitionstätigkeit in Deutschland in den vergangenen Dekaden immer wieder stark unterbrochen wurde. Für die Investitionsrückgänge im Unternehmensbereich kommen die ökonomischen Krisen – Strukturkrise 2001 bis 2005; Finanzmarktkrise 2008/2009 sowie die Pandemiekrise – in Betracht. Bei den staatlichen Investitionen sind die politischen Entscheidungen auf den föderalen Ebenen (Bund, Länder und Kommunen) ursächlich. Beachtlich ist beim Blick auf die öffentlichen Investitionen die im Gesamtkontext der letzten Dekaden positive Entwicklung im Zeitraum 2014 bis 2020. Gleichwohl dürften in dieser Zeit auch hohe Abgänge beim staatlichen Kapitalstock eingetreten sein – etwa über marode Infrastrukturen – die letztlich den ansteigenden Investitionen stark entgegengewirkt haben.
Das Wirtschaftswachstum in Deutschland wurde also in den letzten Dekaden immer „kapitalärmer“. Die Wachstumsbeiträge des Faktors Kapital belaufen sich derzeit auf nur noch ein Drittel des Impulses in den 1990er Jahren. Die laufenden Neuinvestitionen müssen immer mehr die Veraltung und die Abgänge aus dem Kapitalstock kompensieren. Zudem haben die aktuellen Krisen zu einer anhaltenden Investitionsschwäche geführt. Neben diesen aktuellen Investitionsdefiziten und den damit einhergehenden Verlusten an Kapital und entsprechendem Produktionspotenzial besteht aufgrund von großen Herausforderungen ein immenser Investitionsbedarf in Deutschland.
- Der demografische Wandel und der dadurch absehbare Rückgang an Erwerbspersonen erfordert einen Mehreinsatz an Kapital und technologischem Wissen, um das Produktionspotenzial und den damit einhergehenden Lebensstandard überhaupt erst auf dem gegenwärtigen Niveau halten zu können.
- Die fortschreitende Digitalisierung der gesamten Volkswirtschaft (Staat, Unternehmen und Haushalte) und der allgemeine technologische Fortschritt erfordern – neben den direkt dafür notwendigen Investitionen in immaterielles Kapital (Forschung/Entwicklung, Datenbanken) – auch Investitionen in komplementäres Sachkapital und Infrastrukturen. Als Beispiele zählen mit Blick auf Künstliche Intelligenz etwa Rechenzentren und die dafür erforderliche Energieinfrastruktur.
- Durch den absehbare Klimawandel sind einerseits volkswirtschaftliche Schäden und andererseits vielfältige gesellschaftliche und ökonomische Anpassungen und Transformationen zu erwarten. Die klimapolitischen Ziele und der damit verbundene „Strukturwandel auf Termin“ erfordern zum einen zusätzliche Investitionen und zum anderen eine Reallokation von Investitionen und des damit einhergehenden Kapitalstocks. Dies gilt für Unternehmen, Haushalte und den Staat.
- Die geopolitische Zeitenwende begründet ebenfalls neue unternehmerische und öffentliche Anlageinvestitionen. Dazu zählen etwa im privatwirtschaftlichen Bereich notwendige Aufwendungen für eine eventuelle Reorganisation der Produktionsprozesse zum Absichern internationaler Lieferketten und einer höheren ökonomischen Resilienz. Die Aggression von Russland und die insgesamt von hohen Unwägbarkeiten geprägte globale Geopolitik erfordern massive Investitionsausgaben im öffentlichen Sektor für militärische Ausrüstungen. Diese müssen auch aufgewachsene Defizite wegen unzureichender Investitionen in der Vergangenheit kompensieren.
- Dies gilt auch für die dringend notwendige Modernisierung und den Ausbau der vielfältigen öffentlichen Infrastrukturen in Deutschland. Neben den Verkehrsinfrastrukturen sind Versorgungsinfrastrukturen (z.B. Energienetze, digitale Infrastruktur) eine wichtige Voraussetzung für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktionieren eines modernen und auf Fortschritt ausgerichteten Landes.
Diese aufgezeigten Herausforderungen durch den demografischen Wandel, den Klimawandel, den digitalen und technologischen Wandel sowie durch den geoökonomischen Wandel haben bereits Einfluss auf die vielfältigen Investitionsprozesse der Volkswirtschaften. Darüber hinaus schaffen sie voraussichtlich erhebliche Investitionsbedarfe für die nächsten Jahrzehnte. Je nach Abgrenzung der Infrastrukturbereiche und der Handlungszeiträume gehen Schätzungen sogar in Richtung einer vierstelligen Milliardenzahl. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Finanzierung. Das gilt zum einen für die privatwirtschaftlichen Investitionen in Deutschland, deren Rentabilität im Kontext des internationalen Standortwettbewerbs bewertet wird.
Zum anderen bedingen die aufgezeigten Herausforderungen hohe zusätzliche öffentliche Investitionen in Deutschland. Das hat eine Diskussion über eine angemessene und zielführende intergenerative Finanzierung dieser Zukunftsinvestitionen ausgelöst. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung geht es darum, ob die Schuldenbremse in Deutschland reformiert oder sogar abgeschafft werden sollte. Seit dem Jahr 2009 gilt in Deutschland – neben der europäischen Vorgabe durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt für das laufende Defizit und die Staatschuldenquote – für Bund und Länder eine Schuldengrenze. In wirtschaftlich normalen Zeiten begrenzt diese die Nettokreditaufnahme des Bundes auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und für die Bundesländer sogar auf null. Dies soll die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sichern und ausufernde Staatsschulden vermeiden. Die aufgezeigten und dringend notwendigen Investitionsbedarfe in Deutschland in den nächsten Jahren lassen sich mit dieser Auflage offensichtlich nicht finanzieren. Der Verzicht auf die Investitionen würde die Volkswirtschaft und den Staat erheblich schwächen. Reformvorschläge liegen mittlerweile vor – auch vom Institut der deutschen Wirtschaft. So könnten mit einem gesamtstaatlichen Infrastruktur- und Transformationsfonds die erforderlichen Investitionsmittel aufgebracht werden, ohne für die Normalhaushalte von Bund und Ländern die nationale Schuldenbremse abzuschaffen oder die Fiskalregeln der EU zu verletzen. Die Notwendigkeit dieser Diskussion und die Dringlichkeit einer Lösung sollten mit diesem Beitrag untermauert werden.
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