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Was wir tun, wenn wir nichts tun: Wie Rituale Gemeinschaft erschaffen

Veröffentlicht am
Autor
Barbara Stollberg-Rilinger
Schlagwort
Politik

Jeden Morgen um neun Uhr steht die Ukraine still und schweigt. Barbara Stollberg-Rilinger erklärt, wie Rituale Gemeinschaft erschaffen – und wann sie scheitern.

Im dritten Jahr der russischen Invasion vom Februar 2022 stehen jeden Morgen um neun Uhr in der gesamten Ukraine alle Menschen für eine Minute still und schweigen. Die Autos halten an und die Menschen steigen aus; selbst im Bus erheben sich alle von ihren Plätzen, um die Opfer der Invasion zu würdigen. Das wiederholt sich jeden Tag um die gleiche Zeit überall im Land. Selten habe ich ein derart eindrucksvolles Ritual erlebt.

Das ukrainische Gedenkritual, das von der israelischen Schweigeminute für die Opfer des Holocaust inspiriert ist, macht exemplarisch deutlich, was das eigentlich ist, ein Ritual, wie es funktioniert und worauf seine Wirkmacht beruht – oder wann es scheitert. Tatsächlich sind Rituale ubiquitär, auch heute noch. HistorikerInnen und EthnologInnen haben bisher noch keine Gesellschaft, keine Gemeinschaft gefunden, die ohne Rituale auskäme.

Ein Ritual stellt – unter bestimmten Bedingungen – her, was es symbolisch darstellt.

Trotzdem genießen Rituale heute gemeinhin keinen besonders guten Ruf. Viele verstehen darunter die erstarrte, gedankenlose Wiederholung äußerer Formen, sinnleere Routinen, bestenfalls Folklore, womöglich sogar Relikte archaisch-magischen Denkens. Misstrauen gilt insbesondere politischen Ritualen, die gern als „reine Symbolpolitik“ geschmäht werden, womit das Gegenteil von vernünftigem, nüchternem, effizientem Handeln gemeint ist. Damit überschätzt man allerdings die instrumentelle Rationalität und unterschätzt die symbolische Dimension, die dem sozialen Handeln eben auch immer zu eigen ist. Schon Max Weber, der Theoretiker der „Entzauberung der Welt“, hat vor dem Missverständnis gewarnt, dass die Menschen in der Moderne immer rationaler geworden wären in dem Sinne, dass symbolisch-rituelles Handeln zunehmend durch Handeln aufgrund rationaler Einsicht ersetzt worden sei. Vielmehr, so Weber, beruhten gerade rationale Ordnungen auf der Fügsamkeit der einzelnen in das immer sich Wiederholende. Die rationale Basis moderner Ordnungen sei den Beteiligten verborgener als die magischen Prozeduren eines Zauberers.

Man kann das, was kollektive Rituale ausmacht, mit Pierre Bourdieu auch als „soziale Magie“ bezeichnen. Damit ist gemeint, dass ein Ritual durch seine bloße, in wiederholbaren äußerlichen Formen vollzogene Ausführung eine bestimmte Wirkmacht entfaltet – zum Beispiel eine Gemeinschaft konstituiert, eine Statusänderung herbeiführt, eine Verpflichtung stiftet. Ein Ritual ist ein Akt, der erzeugt, was er bezeichnet. So lautete nicht zufällig schon die mittelalterliche Definition der christlichen Sakramente: Taufe, Eucharistie, Heirat und so fort. Ein Ritual stellt – unter bestimmten Bedingungen – her, was es symbolisch darstellt.

Die Wirkmacht kollektiver Rituale beruht wesentlich auf gemeinsamer Anwesenheit im selben Raum zur selben Zeit. Rituale erzeugen in der Regel bei den Anwesenden die inneren Gefühle, die sie darstellen: zum Beispiel Gefühle der Zusammengehörigkeit, der Trauer oder auch der Scham. Sie entfalten sozusagen eine emotionale Ansteckungswirkung. Allerdings muss das keineswegs immer und bei allen Beteiligten so sein. Wesentlich für das Verständnis von Ritualen ist aber gerade, dass es für ihre soziale Wirkung in gewissem Maße gleichgültig ist, was einzelne Beteiligte sich dabei denken, ob sie sich innerlich davon distanzieren und halbherzig oder „unaufrichtig“ bei der Sache sind – solange sie das Ritual nur richtig ausführen und nicht etwa durch äußerlich sichtbare Zeichen erkennen lassen, dass sie es nicht ernst nehmen. Die soziale Leistung eines Rituals liegt gerade darin, dass es seine kollektive Wirkung von den schwankenden Emotionen und inneren Motiven der Beteiligten löst und auf ein bestandssicheres soziales Fundament stellt. Es kann ja beispielsweise sein, dass Braut oder Bräutigam schon beim Jawort an einen anderen denken und nicht wirklich vorhaben, sich an ihr Treueversprechen zu halten. Verheiratet sind sie anschließend trotzdem. Oder: Ein Akt öffentlicher Entschuldigung ist für die, die verletzt worden sind, eine Genugtuung, auch wenn sie nicht sicher wissen können, wie ehrlich er gemeint ist. Entscheidend ist, dass alle wechselseitig für einander Zeugen ihres Handelns sind. Innere Übereinstimmung mit dem äußerlich Gezeigten ist bei einem Ritual nie garantiert – aber man kann festgelegt werden auf das, was man vor den Augen anderer gezeigt hat. Das Ritual kann nicht erzwingen, dass alle Beteiligten sich an die dadurch gestifteten Erwartungen auch tatsächlich halten. Aber es hat zur Folge, dass die Beteiligten zukünftig ihr eigenes Handeln an dem ausrichten, was öffentlich sichtbar gezeigt worden ist.

Das funktioniert allerdings nicht immer. Denn es setzt voraus, dass die Mehrheit der Beteiligten grundsätzlich an die Ernsthaftigkeit ihres Handelns glaubt. Wenn das nicht mehr der Fall ist, sondern alle stillschweigend wissen, dass sie nur eine leere Form aufführen und niemand vorhat, sich daran auch zu halten, dann ist das ein ernstes Anzeichen dafür, dass die kollektive Ordnung gefährdet ist. Dann verhält es sich wie mit des Kaisers neuen Kleidern und es bedarf nur eines kleinen Anstoßes, die rituell erzeugte Konsensfassade zu durchbrechen, und zwar ebenfalls vor aller Augen, damit die kollektive Fiktion zusammenbricht. Denn ähnlich wie ein Spiel funktioniert auch ein kollektives Ritual nur, wenn alle einander wechselseitig prinzipiell unterstellen, dass sie nicht falschspielen. Das heißt natürlich nicht, dass ein Einzelner nicht falschspielen kann, solange er sich nicht erwischen lässt. Etwas ganz anderes ist es, wenn keiner der Spieler sich mehr an die Regeln hält und alle nur so tun. Dann ist das ganze Spiel zerstört.

Zurück zu dem eingangs erwähnten Ritual der Ukrainerinnen und Ukrainer. Die soziale Magie der alltäglichen landesweiten Schweigeminute zum Gedenken an die Kriegsopfer liegt darin, dass diese rituelle Geste – auf äußerst friedliche und freiwillige Weise – eine Gemeinschaft symbolisch darstellt und dadurch zugleich performativ herstellt. Was jeder und jede Einzelne in jedem einzelnen Moment dabei denkt und empfindet, ob manch eine(r) zerstreut und nicht recht bei der Sache ist, spielt keine Rolle. Allen, selbst Außenstehenden teilt sich die kollektive Wirkung trotzdem mit. Es spielt auch keine Rolle, dass die symbolische Botschaft, die durch das Schweigen vermittelt wird, vage bleibt und nicht explizit ausbuchstabiert wird. Im Gegenteil, gerade darin liegt die Stärke eines Rituals. Es ist nicht wichtig, wessen genau jede(r) Einzelne gedenkt und wo jede(r) Einzelne sich politisch verortet; wichtig ist, dass alle über die politischen Gräben hinweg zur selben Zeit das Gleiche tun und einander dabei wechselseitig Zeugen sind. Durch das Ritual versichern sich alle jeden Tag aufs Neue ihres gemeinsamen Willens – ohne sich politisch einig sein zu müssen, worin genau dieser Wille eigentlich besteht und worauf genau er gerichtet ist. Angesichts politischer Skandale und stetig wachsender Opferzahlen steht es allerdings in den Sternen, wie lange diese bescheidene und unaufwendige rituelle Geste noch dazu beitragen wird, den kollektiven Widerstandswillen der Ukrainerinnen und Ukrainer lebendig zu halten.

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