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Zwischen Identität und Interesse: Von politischen Existenzen und falschen Essenzen im Wokeismus

Veröffentlicht am
Autor
Justus Seuferle
Schlagwörter
Identität
Kultur

Justus Seuferle zeichnet in seinem Beitrag die Entstehung des Wokeismus nach und analysiert den Mehrwert, den woke Politik für uns als Gesellschaft hat- und wo sie vielleicht etwas zu viel will.

Wieder einmal geht ein radikales Gespenst um die Welt – das Gespenst des Wokeismus. Doch was soll das eigentlich sein, was ist woke Politik? Die Debatte um das Woke ist vor allem in Amerika omnipräsent. Viele Begriffe, die dort, und auch hier, unsere symbolische Ordnung prägen, sind zu Kampfbegriffen geworden. Rasse, Geschlecht, Generation, Lebensstil und Sexualität. Ansichten zur Existenz oder Nichtexistenz von essentieller Geschlechtlichkeit ersetzen zuweilen sogar ökonomische Verteilungskämpfe. Dass eine Kulturalisierung der Politik diesen Grades riskant ist, versteht sich von selbst, zu sehr liegt der Fokus auf Themen, die das Leben weniger prägen als zum Beispiel der Lohn oder das soziale Netz, das riskiert eine politisch impotente Spaltung. Dennoch aber zeichnet die woke Bewegung sich durch eine große Sichtbarmachung von Ungerechtigkeiten aus, auch wenn sie zuweilen über das Ziel hinausschießt.

The Thing

Zuerst einmal, was ist das Woke überhaupt? Am besten lässt es sich wohl als eine Art politisches Gefühl oder ein politischer Reflex beschreiben, der verschiedene Anschauungsarten zusammenbringt, um auf die Gesellschaft zu blicken. Da wäre zuerst der Marxismus, oder wie es in den USA heute oft heißt, die conflict theory, die die Welt als durch Interessengegensätze gekennzeichnet sieht. Dann wären da die französischen Strukturalisten und Poststrukturalisten, vor allem Jacques Derrida und Michel Foucault. Ihre Sicht auf die Welt könnte man als eine Art idealistischen Marxismus beschreiben, in der Macht und die Kämpfe um die Macht die wichtigste Determinante sind, aber diese über Narrative, Semantiken, Sprache und a priori Ideen ausgefochten werden. Das Woke ist also eine sehr politische Brille, die in idealistischen a priori denkt und politische Kämpfe somit auf die Ebene der symbolischen Ordnung, der Symbole, der Narrative und der Konzepte, bringt. Die Geschichte aller bisherigen Symbole, Narrative und Sprache wird hier zu einem Gruppenkampf, der über die Ideen, die man übereinander hat, ausgefochten wird.

Für den Politologen Yasha Mounk ist das Woke eine Art Überschussreaktion auf korrekt beobachtete Probleme, die am Ende in einen Essentialismus münden, der mehr Probleme kreiert, als er löst. Woke ist für Mounk eine Bewegung, die mit alten liberalen Kategorien wie der Redefreiheit abgeschlossen hat, und es ist was Marx einst einen Vulgärsozialismus taufte. Statt sich auf die materiellen Konflikte zu werfen und den Universalismus des “Jedermann ist jemand”, der nicht durch Gruppenzugehörigkeit eingeschränkten Solidarität mit jedem von Ausgrenzung und Ungerechtigkeit betroffenen Individuums, zu befördern, wird das Woke oft aus Versehen essentialistisch und rutscht damit ins Identitäre, außerdem hält es sich oft an Pseudokämpfen auf, die nur wenig Einfluss auf das Leben der Masse haben. Auch für die Philosophin Susan Neiman sind das Linke und das woke Denken dahingehend verschieden, als dass das Woke den Universalismus für einen Tribalismus aufgibt und sich im Identitären verliert. Den Rechten stößt am woken vor allem die Moral auf, aber auch der Abgesang an den Westen und der Marxismus. Der Begriff ist im rechten Diskurs so geläufig, dass er bereits den Begriff Links, als Hauptgegner, entthront hat. Die Kritiker von links und rechts eint, dass sie in dem Phänomen eine neue Art der linken Politik vermuten.

Ideologie macht aus Geschichte Natur

Was woke Politik im Kern tut, ist eine Politisierung der symbolischen Ordnung herbeizuführen. Wie die 68er das Private zum Politikum erklärten, erklärt Woke die Sprache, die Symbole und die Narrative zur Politik. Zu Recht. Sprache ist mehr als reine Semantik und Narrative prägen unser aller Weltverständnis. Wie unsichtbare Brillen prägen sie unseren Alltag und sind wie sie sind weder vom Himmel gefallen, noch können sie nur so sein. Die in einer Gesellschaft genutzten Symbole, Narrative und auch die Sprache sind politisch, denn sie nutzen einigen mehr als anderen, für einige sind sie befördernd, für andere einschränkend oder gar unterdrückend. Der Rassismus zum Beispiel fängt nicht notwendigerweise mit Hass gegenüber dem als anders empfundenen an, sondern ist historisch das Ergebnis aus der falschen Taxonomisierung und Hierarchisierung der Welt in dann sogenannte Rassen.

Wie man in der Gesellschaft steht oder stehen kann, ist oft das Ergebnis der Art und Weise, wie die Gesellschaft einen liest; das zu politisieren ist mehr als legitim. Dekonstruktion nach Derrida ist die Denaturalisierung von als natürlich angenommenen Phänomenen. Es ist die Waffe gegen eine als Waffe fungierende Lebenswelt. Auch genutzte Konzepte wie Geschlechtlichkeit, Sexualität, Gesundheit und Körpergewicht sind wirkmächtig und nutzen manchen Gruppen mehr als anderen. Was das Woke bezweckt, ist die Konzepte in die politische Arena zu zerren und sie vor aller Augen neu auszuhandeln. Wie Roland Barthes es auf den Punkt brachte “Ideologie macht aus Geschichte Natur”, das Woke fungiert hier als Agent der Denaturalisierung.

Die These, die diesem dekonstruktiven Verlangen vorausgeht, ist dass Sprache, zumindest in Teilen, dem Denken vorausgeht und somit die Wirklichkeit eine eher soziale Konstruktion ist und daher veränderbar und verbesserbar ist. Was wir normal und außergewöhnlich nennen, was wir als Natur und was als künstlich sehen, wie wir Geschlechtlichkeit und Ethnie denken und symbolisieren, all das hat einen nicht zu vernachlässigen Einfluss. Die Politisierung dessen ist legitim und emanzipatorisch. Das, was Kritiker oft als Victimisation betiteln, ist in Wahrheit eine legitime Politisierung.

Man wird nicht als Kategorie geboren, man wird zur Kategorie gemacht

Wo sowohl die Kritiker, als auch die Proponenten des Woken aufpassen müssen ist die Frage, welche Kategorien man verwendet, um für ohnmächtige Gruppen einzustehen. Das Woke hat definitiv ein Problem mit Kategorien. Essentielle und existenzielle Kategorien hören sich oft gleich an, müssen aber streng unterschieden werden. Zu Recht wird von Mounk und Neiman kritisiert, dass das Woke oft ins Essentialistische abdriftet und Kategorien wie Rasse oder Geschlecht, deren Macht und Relevanz wir zurückdrängen wollen, weiter am Leben hält. Die radikale Rechte und die Woken teilen sich leider zu oft einen tribalistischen Wir-Begriff.

Es muss aber genau hingesehen werden, ob die Kategorie Rasse oder Geschlecht essentialistisch oder existenzialistisch gebraucht wird. Wird Rasse zum Beispiel nur als Kategorie der Diskriminierung verwendet, dann handelt es sich beim Sehen dessen oder beim Hervorheben dessen nicht um eine essentialistische Einverständniserklärung, sondern um eine Anerkennung des Gelesenwerdens oder des Diskriminiertwerdens. Die Aussagen amerikanischer Liberaler wie „I don’t see colour“ kann eben aus diesem existentialistischen Grund heraus abgelehnt werden, da sie verneint, dass es mit gewissen Unannehmlichkeiten verbunden sein kann, zum Beispiel als schwarz gelesen zu werden. Oder wie Hannah Arendt es ausdrückte: “Wenn Du als Jude angegriffen wirst, dann musst Du dich nicht als Mensch, sondern als Jude verteidigen”. Selbiges gilt für die Geschlechtlichkeit, “I don’t see gender” würde uns wohl eher nicht weiterbringen.

Strukturelle Kategorien wie Klasse, oder eben auch Rasse, als existenzielle Kategorie müssen sogar hervorgehoben werden, um eine Macht- und Freiheits-Synthese herbeiführen zu können. Wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts oder der von außen angenommenen Rasse diskriminiert wird, dann wird das durch die essentielle Nichtexistenz der genutzten Kategorie nicht egal. Etwas, das als wahr angenommen wird, ist in seinen Folgen real. Für Hexenverbrennungen braucht es keine Hexen.

Wenn das Woke allerdings Kategorien wie Geschlecht und Rasse essentialistisch nutzt, d.h. auf eine Art biologische oder tribalistische Schicksalsgemeinschaft anspielt, dann irrt es nicht nur, es repliziert rechtsradikale, identitäre und naturalistische Kategorien und handelt gegen seinen denaturalisierenden Impetus. Wie es Simone De Beauvoir formulierte: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht”. Wer Identität essentialisiert, der gleitet in die zu Recht kritisierte Identitätspolitik ab. Wer jedoch Kategorien nur existenziell anerkennt, strebt paradoxerweise nach politischer Emanzipation von der Kategorie.

Wer Menschheit sagt, der lügt

Viel klarer scheint aber zu sein, dass das Woke zuallererst als eine unausgereifte Reaktion oder Antithese auf den Managerialismus des Neoliberalismus verstanden werden muss. Als Reaktion auf die Idee, dass Politik eigentlich nicht mehr ist – und sein soll – als das Finden der Lösung für Probleme. Politik als Interessengegensatz zwischen z.B. Arbeit und Kapital wird vom Neoliberalismus verneint. Die oft kulturelle und identitäre Tribalisierung ist allerdings kein Ausweg, sondern eine politisch impotente Simulation von materieller Politik. Das Woke ist vielleicht nur die notwendige Antithese auf die konfliktlos gesehene und gestaltete Welt von Fukuyamas End-of-History Zeitalters.

Carl Schmitt fasste es treffend zusammen: „Wer Menschheit sagt, der lügt“. Rechtsidentitär wäre es, in essentialistische Kategorien abzudriften und einen tribalistischen Verteilungskampf oder Lebensraumkampf zu denken, der strukturelle Kampf der Klassen und anderer Interessenträger allerdings, das ist eine ureigene linke Idee und für die Emanzipation und als Anschauung sozialer Wirklichkeit unverzichtbar.

Conclusio

Nicht ganz zu Unrecht wird das Woke zurzeit von Links, Rechts und der Mitte heraus attackiert, das ist wohl auch eine Reaktion auf die großen Erfolge der Bewegung. Das Woke hat zurecht die a priori Ideen, die Narrative und die Sprache mit denen wir der Wirklichkeit begegnen, politisiert und sie somit erst der sozialen Verbesserung eröffnet. Es hat zurecht die neue Biedermeierzeit des gesellschaftlichen Gesamtinteresses herausgefordert und eine Politik des Interesses reetabliert.

Definitiv hat das woke Denken aber auch seine Abgründe und definitiv driftet es zu oft in identitäres Denken ab. Zu oft kreiert der Blick auf Kategorien wie Rasse und Geschlecht eine Art gutgemeinte Essentialisierung. Dieses Abdriften in die Identitätspolitik ist sicherlich weder hilfreich, noch ratsam, noch links. Das Woke ist allerdings dennoch in großen Teilen ein gerechtfertigter Versuch der Emanzipation. Wie das „alte“ linke Denken die Emanzipation von der ökonomischen Struktur gedacht hat, so denkt das Woke die Befreiung aus einer symbolischen, ideellen Struktur. Der Mensch soll aus unterdrückenden, unvorteilhaften und demütigenden Strukturen entlassen werden und die Autorität der Norm und der Mächtigen wird herausgefordert. Der existentielle Gruppenkampf um die symbolische Ordnung ist legitim, Erfolg wird er aber nur haben können, wenn er der Natur und der falschen Essenz abschwört.

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