Energiepolitik ist die machtpolitische Gretchenfrage der Gegenwart
Die energiepolitische Debatte ist geprägt durch Dichotomien und scheinbare Dilemmatta: Wachstum vs Klimaschutz, politische Ethik vs geopolitische Autonomie. Dieses binäre Denken gilt es zu überwinden.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Energiepolitik sukzessive von einer Randnotiz der gesellschaftlichen Debatte zum Brennpunkt der großen politischen Herausforderungen unserer Zeit entwickelt. Bis in die 1970er und darüber hinaus stand das Motto „Strom kommt aus der Steckdose“ sinnbildlich für eine unter Entscheidungsträgern und Bürgern verbreitete Haltung unbekümmerter Indifferenz. Heute aber – unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der Energiepreiskreise und der globalen Klimakrise – sind uns die Leitfragen, die sich aus der kritischen Konvergenz zwischen der Energiepolitik und anderen Politikfeldern ergeben präsent wie nie:
- Wie kann die Energieversorgung von ressourcenarmen Staaten wie Deutschland gesichert werden, ohne sich in unverhältnismäßige Abhängigkeit zu potenziell feindlichen und ethisch suspekten Akteuren zu begeben?
- Wie lassen sich Energiekosten auf Ebene der Privathaushalte und (Klein-)Unternehmen steuern, um eine übermäßige Belastung benachteiligter sozialer Schichten zu vermeiden und so den gesellschaftlichen Frieden zu sichern?
- Kann der Energiehunger unserer Volkswirtschaften noch auf eine Art und Weise gestillt werden, die dem Erhalt unserer endlichen natürlichen Ressourcen und Umweltbedingungen Rechnung trägt?
- Und wie kann die volkswirtschaftliche Wettbewerbs- und Innovationfähigkeit in Hinblick auf Energieversorgung langfristig gewährleistet werden?
Das magische Viereck der Energiepolitik
Diese Fragen, die uns – zumal in ihrer systematischen Verknüpfung und wechselseitigen Abhängigkeit – brandaktuell erscheinen, sind nicht freilich neu. Der Wirtschaftswissenschaftler Martin Czakainski hat sie bereits 1993 in dem klugen Aufsatz Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1980 im Kontext der außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Verflechtungen unter dem Stichwort des „magischen Vierecks“ der Energiepolitik zusammengefasst. Die kontinuierliche Herausforderung, politische Güter wie Sozialverträglichkeit, Prosperität, Klima- und Umweltschutz sowie geopolitische Autonomie zu integrieren, hat Czaikinski bereits klar benannt.
Doch erst heute in den 2020ern scheint uns das ganze Ausmaß der demokratischen Zielkonflikte bewusst zu werden, für die die Energiepolitik mit ihren Herausforderungen pars pro toto steht. Entsprechend prägen eine Reihe von Dilemmata die Debatte und spalten unsere Gesellschaft in unversöhnliche Lager. Denn: Wer die Versorgungssicherheit des Gemeinwesens gewährleisten will, der muss bei der Auswahl seiner Energielieferanten geopolitische und ethische Erwägungen hintanstellen; wer die Wirtschaftlichkeit von Schlüsselindustrien und die Attraktivität des Standorts für Investoren erhalten will, der muss sozialpolitische Härten akzeptieren; und wer Klima-, Umwelt- und Artenschutz ernstnimmt, der muss sich langfristig vom volkswirtschaftlichen Wachstumsideal verabschieden und auf eine konsequente Degrowth-Strategie setzen. Wir müssen uns wohl oder übel entscheiden.
Oder?
Ebendiese Zuspitzungen, die in unserer hochpolarisierten Diskurslandschaft an der Tagesordnung sind, stehen für ein binäres Entweder-Oder-Denken, das der Demokratie in zweierlei Hinsicht fremd ist und daher keine gute Heuristik bietet.
Erstens ist demokratische Politikgestaltung die Kunst des graduellen Abwägens fundamental verschiedener, aber rational vergleichbarer Güter bezogen auf ein übergeordnetes Gesamtziel; nennen wir es das Gemeinwohl oder das nationale Interesse. Sie darf weder der technokratischen Utopie erliegen, wonach ein solches Ziel objektiv erkennbar und unabhängig von gesellschaftlichen Interessen existiere, noch in die Falle tappen, bestimmte Güter kategorisch vorrangig oder nachrangig zu behandeln. Das mündet nur in Dogmatismus und wirklichkeitsferner Ideologie. Demokratie überwindet Dichotomien durch Kompromiss und Ausgleich.
Zweitens dürfen und müssen wir aber auch von politischen Entscheidungsträgern mehr erwarten als die Verwaltung von Krisen im Rahmenwerk altbekannter und einander ausschließender Optionen. Es geht um Zukunfts- und Innovationsfähigkeit und damit verbundene Herausforderungen. Hierzu zählen unter anderem, auf der Sachebene, die Entwicklung kreativer Lösungen durch Erschließung neuer Energietechnologien (man denke nur an die Kernfusion, die hierzulande allzu gern als Budenzauber von Physikprofessoren zerredet wird) und, auf der Organisationsebene, das strategische Zusammen-Denken von Politikfeldern (Wirtschaft, Entwicklungszusammenarbeit, Forschung etc.) zur Entwicklung von Synergien jenseits parteipolitischer Konkurrenz. Dies gelingt freilich nur, wenn Entscheidungsträger keine Angst vor großen Erzählungen haben und gesamtgesellschaftliche Visionen aufzeigen können, die als Zielbild und Legitimationspunkt künftiger Politikentscheidungen fungieren. Dahinter steht letzten Endes die große Frage: Wie wollen wir gemeinsam leben – im Jahr 2030, 2050, 2100?
Dieser kurze Abriss zeigt: Die Gestaltung von Energiepolitik ist nicht nur die Gretchenfrage nach der Zukunftsfähigkeit demokratischer Politik – sie ist auch immer eine Machtfrage. Denn wer hier Einfluss nimmt, der wirkt mittelbar und unmittelbar in alle anderen Politikfelder hinein. Das Drehen einer regulatorischen Stellschraube, wie z.B. die Deckelung des Gaspreises ab einer Summe von 180 Euro pro Megawattstunde, zieht dutzende, hunderte Sekundäreffekte nach sich. Eine solche Verantwortung erfordert Fachexpertise, Reflexionsfähigkeit sowie Pragmatismus – und einen öffentlichen Diskurs, der selbst unproduktive Dichotomien überwindet und Impulse gibt.
Der erste Publikationszyklus von Freiheit|Macht|Politik im Jahr 2023 soll für diesen Diskurs einen differenzierten Anstoß geben. Mit zahlreichen Beiträgen von etablierten Praktikern und Theoretikern aus den verschiedensten Teilbereichen der Energiepolitik und angrenzen Themenfeldern werden wir in den kommenden Wochen die zukünftige energiepolitische Ausrichtung Deutschlands und der EU in den Blick fassen – und damit eine der größten Transformationsherausforderungen unserer Zeit. Den Auftakt macht der Tübinger Wirtschaftsgeograph und Autor des vieldiskutierten Buchs Nord Stream 2 – Das Beharren auf widerlegten Argumenten (2022, Springer) Gerhard Halder mit dem Aufsatz Energiebeziehungen: Lehren aus Vergangenheit?.
Wir sind gespannt auf eine inspirierende, pluralistische Debatte und freuen uns auf Kommentare, Denkanstöße und Beiträge.
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