Go to main content

Renaissance der Täuschung

Die 2020er Jahre erweisen sich als Epoche der unverhofften Wiederkehr. Der Landkrieg ist zurück auf der Weltbühne, der Nationalismus und der Protektionismus ebenso. In diesem Klima ideologischer Konfrontation erleben wir zugleich die Renaissance eines Begriffs, der seine größte Verwendungsbreite zur Zeit des Kalten Krieges zu haben schien: Propaganda.

Wenn wir von Propaganda sprechen, meinen wir damit gemeinhin jede Form politischer Massenkommunikation, die in irgendeinem Sinne manipulativ ist: indem sie gezielt die Unwahrheit sagt, indem sie komplexe Sachverhalte grob vereinseitigt, indem sie Argumente bis zur Unkenntlichkeit zuspitzt, oder indem sie schlicht irreführenden Nonsens produziert – eine Machttechnik, die der Philosoph Harry G. Frankfurt in seinem zeitlosen Buch „On Bullshit“ analysiert hat. Kellyanne Conway und ihre „alternativen Fakten“ lassen grüßen.

Propaganda ist nicht nur schillernd und vielgestaltig, sondern in unserem globalen Kommunikationsraum auch allgegenwärtig: vom rumänischen Wahlkampf, in dem russisch finanzierte Influencer einen Rechtsnationalisten quasi aus dem Nichts an die Umfragespitze katapultierten (oder ist das doch nur die Propaganda der EU?), bis in den entlegenen Westen Kenias, wo Chinas KP den Einwohnern kostenlose Satellitenanschlüsse spendiert hat und dort seither Staatsfernsehen aussendet. So begegnet uns Propaganda in Social-Media-Postings und Reels, in denen vermeintliche Wahlmanipulationen zu Ungunsten der AfD ‚dokumentiert‘ werden, ebenso wie auf Content- und Gaming-Plattformen, Magazinen und Kunstwerken oder Rapsongs, die den radikalen Islam glorifizieren.

Bemerkenswerterweise wird Propaganda in der aktuellen Debattenlandschaft jedoch vor allem als technologisches, weniger als strategisches als kommunikatives Problem betrachtet. Das lässt sich an den medialen Leitfragen ablesen: Wie kann sich der Westen gegen Russlands „Troll-Fabriken“ verteidigen und wie gegen das skalierte Des- und Misinformationspotenzial von Künstlicher Intelligenz, die im Millisekunden-Takt Deep Fakes und Bildmanipulationen ausspuckt? Was haben wir der Einflussnahme ausländischer Mächte auf die demokratische Willensbildung durch Online-Kampagnen entgegenzusetzen und der digitalen Korrosion pluralistischer Debattenkultur durch die Tik-Tok-Narrative interner Demokratiefeinde wie der AfD?

Häufig sucht man die Lösung dann in technologischen Schnellschüssen: Fact-Checker sollen Propaganda aufspüren und markieren, Algorithmen Propagandainhalte in den Social-Media-Feeds herabstufen. Falls das nicht greift, setzt man auf Community Notes – jenes Instrument, das Propagandist Elon Musk auf X (ehemals Twitter) ins Leben gerufen und das nun auch Mark Zuckerberg als menschliche Fact-Checker-Ersatz zu etablieren versucht.

Doch während die technologische Symptombekämpfung unmittelbare Linderungsversprechen bietet, übersieht sie leicht das strategisch-taktische Fundament, auf dem Propaganda stets ruht. Dabei liegen die großen Propagandaschlachten der Ost-West-Konfrontation gerade einmal 40 Jahre zurück. Es könnte also lohnen, den analytischen Blick zurückzuwerfen, um Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Gleichwohl sind die Unterschiede zwischen dem Kalten Krieg und unserer Gegenwart evident:

Erstens ist die schiere Menge propagandistischer Inhalte unvergleichlich höher – vor allem weil in der Plattformökonomie jeder Nutzer selbst ein Medienunternehmer ist und so ein potenzielles Millionenpublikum erreichen kann; der Erfolg von Selfmade-Propagandistinnen wie Naomi Seibt ist ein eindrucksvoller Beleg dafür.

Zweitens wird aufgrund dieser Skalierungspotenziale die Fähigkeit, propagandistische Inhalte als solche zu erkennen, immer wichtiger; aber genau hier schneiden viele Menschen sehr schlecht ab. Besondere Schwierigkeiten bei der Identifikation von Fake News und Co. haben nach einer aktuellen Studie ausgerechnet junge Menschen, aber auch schlecht gebildete und besonders konservative Bürger.

Drittens erschwert die Vielfalt propagandistischer Erzählungen die Orientierung, und dies gilt gerade für die überraschenden ideologischen Überlappungen, mit denen wir konfrontiert sind. Dazu zählt etwa das „Hufeisen“ der extremen Rechten und Linken, dessen Vertreter – wie Junge Freiheit und Junge Welt – bei aller (vermeintlichen) ideologischen Disparität als Multiplikatoren russischer Kriegslegitimation fungieren. Ebenso der libertäre Nationalismus, bei dem die Abwracker des Verwaltungsstaates, wie Javier Milei, sich im selben Boot wiederfinden wie der Import-Zoll-Fan Donald Trump. Antifeminismus ist ein ideologischer Aspekt der in der Propaganda von Akteuren wie autoritärer Regierungen, rechtsradikaler politischer Parteien, und islamischer Extremisten zu finden ist. Die Verwischung von doktrinären Trennlinien, das Aufbrechen von Querfronten macht die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Propaganda zu einem ebenso spannenden wie diffizilen Unterfangen.

Unbesehen dieser Pluralisierung ist evident, dass Propaganda eine der großen Bedrohungen für die pluralistischen Demokratien darstellt: Sie fördert Systemskepsis, (gewaltsamen) Extremismus und Gruppenpolarisierung. In einer Ära, in der ganze Bevölkerungsgruppen ihre politischen Informationen nicht mehr aus der verhassten „Systempresse“ beziehen, sondern aus den Filterblasen ihrer Telegram- und Facebook-Gruppen, sind ideologische Korrektive zur Mangelware geworden. Wer will, kann sich im Kokon seiner bevorzugten Accounts einspinnen, ohne Gefahr zu laufen mit missliebigen, weil anderslautenden Meinungen konfrontiert zu werden.

Bei der Frage wie Propaganda als Machttechnik, aber auch als technologisch-diskursiver Ermöglichungsstruktur entgegenzutreten ist, stehen Entscheidungsträger nicht nur vor dem Scherbenhaufen eines traditionellen Mediensystems im irreversiblen Niedergang, sondern sind auch durch eigene Kommunikationsdefizite beschränkt: Propaganda vereinfacht und spitzt zu, verängstigt, begeistert – jedenfalls emotionalisiert sie; der Wald-und-Wiesen-Mandatsträger ist davon weit entfernt. Die in diesem Befund mitgedachte und durchaus heikle Frage ist denn, ob sich unser demokratisches System nicht auch etwas von der Propaganda abschauen kann, ob der liberale Pluralismus mithin propagandistisch aufrüsten muss.

In diesem komplexen Themenfeld wollen wir bei Freiheit|Macht|Politik mit einem neuen Publikationszyklus Orientierung bieten: Mit einer Reihe von Beiträgen wollen wir das schillernde Phänomen Propaganda auf den Punkt bringen und in seinen Formen und Techniken systematisieren. Dafür brauchen wir das Rad nicht neu zu erfinden, sondern werden – ganz im Gegenteil – auch wichtige Lektionen aus der Geschichte ziehen. Den Anfang macht Christopher Degelmann mit einem Beitrag über Propaganda in der attischen Demokratie.

Tags
Demokratie
Technology

Contact

Contact us:

For more information how to publish with FMP, see here.