Liberté, Égalité, Instabilité? Die politische Landschaft Frankreichs im Umbruch
Die Demokratie in Frankreich befindet sich in einem historischen Transformationsprozess, der die Rolle und den Einfluss politischer Parteien neu definiert, analysiert Alexandre Vesperini.
Obwohl Artikel 4 der französischen Verfassung Parteien als zentral für die Verwirklichung des Wahlrechts verankert, haben deren Legitimität und Mitgliederzahlen deutlich abgenommen. Eine Umfrage des CEVIPOF (Centre for Political Research at Sciences Po) von 2024 zeigt, dass nur 20 Prozent der französischen Bürger Vertrauen in politische Parteien haben – und die Mitgliedschaften in Parteien sind auf einem Allzeittief. Selbst das Rassemblement National unter Marine Le Pen, einst eine bedeutende politische Kraft, zählt heute nur noch rund 100.000 Aktivisten, was weit unter den Zahlen der früher dominierenden Parteien liegt.
Parteien in Frankreich
Das französische Parteiensystem wird durch das romanische Mehrheitswahlrecht (Mehrheitswahl in zwei Runden) geprägt, das dazu führt, dass große Parteien bevorzugt werden und kleinere Parteien es schwer haben, eigenständig Mandate zu gewinnen. Da in vielen Wahlkreisen eine absolute Mehrheit in der ersten Runde nicht erreicht wird, kommt es in der Stichwahl oft zu strategischen Bündnissen zwischen ideologisch nahestehenden Parteien, um gemeinsame Kandidaten zu unterstützen und so die Erfolgschancen gegen politische Gegner zu erhöhen.
Dieses System fördert keine festen Koalitionen, sondern begünstigt wechselnde Allianzen, die sich je nach politischer Lage und Wahlergebnis neuformieren. Französische Parteien sind im Vergleich zu Deutschland weniger stark organisiert und verfügen über deutlich geringere Mitgliederzahlen. Dies hängt eng mit dem Charakter der Fünften Republik als präsidentielle Demokratie zusammen, in der Parteien vor allem als Wahlkampfapparate dienen, während politische Führung und Entscheidungsfindung stark auf den Staatspräsidenten ausgerichtet sind.
Dennoch signalisiert diese Schwächung der Parteien keinen Zusammenbruch des gesellschaftlichen Engagements der französischen Bürger. Während die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen (34 Prozent im Jahr 2021) und Europawahlen (45 Prozent im Jahr 2024) niedrig bleibt, verzeichnen nationale Wahlen weiterhin eine hohe Wahlbeteiligung (80 Prozent bei der 2022er Präsidentschaftswahl und 60 Prozent bei den Parlamentswahlen im Jahr 2024). Dieser Gegensatz legt nahe, dass traditionelle Parteistrukturen an Attraktivität verlieren, die französischen Bürger jedoch weiterhin politisch aktiv sind – oft über lokale Initiativen und zivilgesellschaftliche Gruppen, anstatt etablierter Parteien. Dieser Trend hin zu individualisierter und organisierter politischer Beteiligung hat sich seit Ende des Kalten Krieges verstärkt und wurde zusätzlich durch den digitalen Wandel beschleunigt.
Historisch dominierte in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere bis Ende der 1980er-Jahre die Debatte um den Kommunismus das politische Leben. Während der Vierten Republik (1946–1958) positionierten sich Persönlichkeiten wie François Mitterrand in Bezug auf die Kommunistische Partei Frankreichs (Parti Communiste Français – PCF) strategisch – zunächst als Gegner, später als notwendiger Verbündeter, um die Unterstützung der Arbeiterschaft zu sichern. Auf der rechten Seite wurde politische Identität vorwiegend über die Abgrenzung zum Kommunismus definiert, während liberale (wie bei den Tories im Vereinigten Königreich) oder christdemokratische Ansätze (wie in Deutschland) kaum Berücksichtigung fanden. Mit dem Inkrafttreten des Maastricht-Vertrags 1992 und der zunehmenden europäischen Integration verlagerte sich der politische Diskurs weg von traditionellen ideologischen Kämpfen hin zu einer Polarisierung rund um europäische Themen. Die Parteien begannen, sich zum europäischen Projekt zu positionieren und stellten Themen wie die freie Marktwirtschaft und den freien Wettbewerb, die abnehmende Bedeutung nationaler Grenzen, den rechtlichen Vorrang europäischer Verträge, Menschenrechte sowie jüngst den ökologischen Wandel in den Mittelpunkt. In diesem neuen Kontext fanden die traditionellen Parteien der Rechten und nicht-kommunistischen Linken sowohl intellektuell als auch wahlpolitisch zueinander.
Von ideologischen Kämpfen zur europäischen Integration
Mit der Wahl Emmanuel Macrons 2017 wurde dieser pro-europäische Konsens endgültig etabliert. Auf der linken Seite waren innerparteiliche Spannungen bereits lange spürbar – wie durch den Austritt Jean-Luc Mélenchons aus der Sozialistischen Partei im Jahr 2008, bedingt durch Uneinigkeiten über die europäische Integration – was schließlich zum Aufstieg von La France Insoumise (LFI) führte. Unter der Führung Mélenchons hat sich die LFI zu einer dynamischen linken Kraft entwickelt, geprägt von zentralisierter Entscheidungsfindung, einem weitreichenden Netzwerk der Basis und einer robusten ideologischen Infrastruktur, die von Schulungszentren und hochkarätigen Konferenzen getragen wird. Demgegenüber hat die Sozialistische Partei dramatische Rückschläge erlitten: Aufeinanderfolgende Wahlniederlagen in den Jahren 2017 und 2022 führten zu einem Mitgliederschwund – von 173.000 im Jahr 2012 auf etwa 50.000 im Jahr 2024 –, auch wenn sie in wichtigen Großstädten und in parlamentarischen Gremien weiterhin Einfluss ausübt. Die Partei Les Écologistes, ehemals Konkurrentin der gemäßigteren Grünen (Europe Écologie Les Verts), propagiert eine radikalere Form von Ökologie mit Schwerpunkt auf Degrowth (Décroissance), wodurch sie ideologisch stärker der LFI nahesteht als klassischen ökologischen Parteien.
Auf der rechten Seite bleibt Marine Le Pens Rassemblement National die sichtbarste Kraft des Rechtsextremismus in Frankreich. Die traditionelle Rechte, verkörpert durch Les Républicains, – eine Partei, die aus dem Erbe General De Gaulles hervorgegangen ist und später von Jacques Chirac sowie Nicolas Sarkozy geführt wurde – verzeichnete einen deutlichen Rückgang auf weniger als 50.000 aktive Mitglieder. Dieser Abwärtstrend wurde durch interne Spaltungen noch verschärft; so führte etwa Eric Ciotti mit seinem Abspalten zur Gründung der Union des Droites pour la République, die heute etwa 10.000 Mitglieder zählt, zu einer weiteren Zersplitterung der Basis.
Im politischen Zentrum dominiert Emmanuel Macrons Partei – die unter Bezeichnungen wie En Marche!, La République en Marche und zuletzt als Renaissance auftrat – und profitiert von starken finanziellen Ressourcen sowie disziplinierter Führung durch Persönlichkeiten wie Gabriel Attal, Vorsitzender der Fraktion Ensemble pour la République in der Nationalversammlung. Dennoch leidet Renaissance unter internen Spannungen zwischen sozialliberalen und konservativeren Parteiflügeln, was zu einer Wahrnehmung als bloßes Vehikel persönlicher Machtinteressen statt einer Partei mit einem klar definierten Programm führt.
Die Zukunft der Demokratie in Frankreich
Protestbewegungen wie Les Pigeons (2012), die Unternehmer gegen geplante Steuererhöhungen mobilisierten, die Bonnets Rouges in der Bretagne (2013) zur Verteidigung gebührenfreier Autobahnen und die landesweiten Proteste der Gilets Jaunes (2018–2019) zeigen, dass sich neue Formen politischen Protests etablieren.
Das Fortbestehen und die Qualität der französischen Demokratie hängen maßgeblich davon ab, ob es den politischen Parteien gelingt, über veraltete Strukturen hinauszugehen und eine glaubwürdige politische Vision zu entwickeln, die sowohl demokratische Stabilität sichert als auch den Erwartungen einer Gesellschaft gerecht wird, die zunehmend politische Transparenz und partizipative Formen der Demokratie fordert.