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Gibt es eine Zukunft für die großen Parteien Großbritanniens?

Veröffentlicht am
Autor
Alex Challoner

Dieser Essay ist eine deutsche und editierte Übersetzung, das englische Original lesen Sie hier.

Schlagwort
Demokratie

Alex Challoner analysiert, wie die zunehmende Fragmentierung und die sich wandelnde Wählerlandschaft Großbritanniens traditionelle Parteistrukturen erschüttern.

Die Parteienlandschaft im Mehrheitswahlsystem Großbritanniens bildete über Jahrzehnte hinweg eine der großen Konstanten in der wechselvollen Nachkriegsgeschichte Europas: Labour versus Tories – das Parteienduopol des linken und des rechten Lagers – war nicht nur Garant für einen kontinuierlichen Austausch der Regierungselite, sondern konnte auch breite Bevölkerungsschichten über Mitgliedschaften einbinden.

Diese Zeiten sind seit Mitte der 2000er vorbei. Der Trend zeigt – wie anderorts auch – unvermindert in Richtung Pluralisierung und Fragmentierung. Längst haben sich Parteien wie die rechtspopulistische Reform UK und die Liberal Party als ernstzunehmende Konkurrenten positioniert, und zwar mit dramatischen Folgen für die gesellschaftliche Bindungswirkung der einstigen Duopolisten.

Unlängst verkündete der Vorsitzende von Reform UK, Nigel Farage, dass die Mitgliederzahl seiner Partei die der Konservativen übertroffen habe. Dies wurde in einem öffentlichen Schlagabtausch zwischen den beiden Parteiführern um die Weihnachtszeit 2024 heftig dementiert. Ganz gleich, wie genau das Zahlenverhältnis aussieht – der Mitgliederzuwachs von Farages Rechtspopulisten ist eine bemerkenswerte Entwicklung, insbesondere da die Mitgliederzahlen sowohl der Konservativen Partei als auch der Labour Party seit 2021 dramatisch gesunken sind. Seit 2017 ist die Labour-Mitgliedschaft von 564.000 auf 370.000 gefallen, während die Konservativen, die 2021 noch 200.000 Mitglieder hatten, nun bei 131.000 liegen.

Um zu verstehen, wie politische Parteien in der heutigen Zeit relevant bleiben können, lohnt sich ein Blick darauf, dass die Mitgliederzahlen beider Parteien insbesondere dann stark zurückgingen, wenn sie weniger charismatische, stärker verwaltende und zentristische Führungspersönlichkeiten hatten. Ein Sprecher der linken Gruppe Momentum machte die Labour-Führung für den Rückgang der Mitgliederzahlen verantwortlich. Konkret seien es „die bewussten Entscheidungen der Labour-Führung, transformative und populäre Maßnahmen abzulehnen, die notwendig wären, um Großbritannien wieder aufzubauen […] sowie Angriffe auf Pluralismus und die Rechte der Parteimitglieder, um die Linke zu schwächen und unabhängige Stimmen innerhalb der Partei zu bedrohen.“

Auf der anderen Seite stieg die Labour-Mitgliedschaft unter dem linksgerichteten Jeremy Corbyn auf das Dreifache. Als Boris Johnson den Vorsitz der Konservativen übernahm, erlebte die Partei den größten Mitgliederzuwachs innerhalb eines Jahres seit 1948. Doch die Wahl Kemi Badenochs zur sechsten Parteivorsitzenden seit 2016 im vergangenen November bestätigte den anhaltenden Niedergang der Konservativen. Selbst Parteimitglieder räumen das Problem ein. Ein Mitglied des Schattenkabinetts sagte: „Wir brauchen mehr Mitglieder und Unterstützer, die bereit sind, für uns zu kämpfen. Bei den Parlamentswahlen waren wir vor Ort oft unterlegen, insbesondere gegen die Labour-Partei, die über ein jüngeres und mobilieres Netzwerk von Freiwilligen verfügt. Das ist eine Herausforderung für die Zentrale der Konservativen Partei.“

Der Politikprofessor Tim Bale von der Queen Mary University weist darauf hin, dass die Konservativen seit den 1950er Jahren um ihre Mitgliederzahlen besorgt sind, da sich Parteimitgliedschaften nur unter außergewöhnlichen Umständen massiv steigern lassen.

Polarisierung und Fragmentierung

Obwohl Umfragen gelegentlich Schwankungen zeigen, werden Labour und die Konservativen wohl weiterhin die politische Landschaft dominieren. Doch beide stehen vor erheblichen Schwierigkeiten. Die Konservativen müssen sich mit der Herausforderung durch Reform UK auseinandersetzen, dessen konservative Ausrichtung sowohl junge Wähler als auch frühere Johnson-Anhänger von 2019 anspricht. Labour hingegen musste bei den letzten Wahlen Sitze an unabhängige Kandidaten abgeben und verlor Unterstützung in muslimischen, schwarzen, asiatischen sowie allgemein jugendlichen Wählergruppen. Die Partei positioniert sich weiterhin als moderates Gesicht des Wandels.

Ein weiteres Problem für beide Parteien ist die zunehmende Fragmentierung des politischen Systems. Kleinere Parteien haben eine beispiellose Anzahl an Sitzen im Unterhaus errungen, und Umfragen zeigen, dass sie zusammen 40 % der Stimmen auf nationaler Ebene erhalten – verglichen mit 60 %, die zwischen Labour und den Konservativen aufgeteilt sind. Wähler, die sich auf bestimmte Themen konzentrieren (wie Gaza oder Klimawandel), könnten das Wachstum von Unabhängigen, der Workers’ Party oder den Grünen fördern – zulasten von Labour. Die Konservativen hingegen stehen vor der Frage, ob sie sich stärker an die liberal-konservativen Wählergruppen anlehnen, die zu den Liberaldemokraten gewechselt sind, oder versuchen, Reform UK-Anhänger zurückzugewinnen.

Die meisten Experten sind sich einig, dass kleinere Parteien bei den Kommunalwahlen im Mai 2025 weitere Gewinne auf Kosten der großen Parteien erzielen werden. Diese Wahlen sind der erste Stimmungstest nach der Parlamentswahl im Juli 2024. Der Aufstieg der kleineren Parteien ist ein anhaltender Trend, der sich 2025 voraussichtlich nicht umkehren wird.

Brexit bleibt ein Problem

Ob es einem gefällt oder nicht – der Brexit ist nach wie vor ein wesentlicher Grund für die Schwäche der Konservativen. Die Partei wird zwar als diejenige gesehen, die den Brexit umgesetzt hat, aber viele Wähler verbinden ihn mit wirtschaftlichem Missmanagement. Für Labour bleibt Brexit ebenfalls eine heikle Angelegenheit: Für viele überzeugte „Remain“-Wähler ist die Position des neuen Labour-Premiers Keir Starmer zur Beziehung Großbritanniens mit der EU nicht ausreichend pro-europäisch.

Zudem verstärkt der Brexit nationale Spaltungen. Das Potenzial für ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum bleibt bestehen, solange die Scottish National Party (SNP) regiert. In Wales haben jüngste Umfragen gezeigt, dass die walisisch-nationalistische Plaid Cymru Labour überholt hat, während Reform UK ebenfalls knapp vor Labour liegt. Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im November könnte zudem zusätzlichen Druck auf die neue Labour-Regierung ausüben – sie muss sich entscheiden, ob sie engere Beziehungen zu den Republikanern in den USA oder einen Neustart mit der EU anstrebt.

Wirtschaftliche Herausforderungen

Nigel Farage brachte es während des Wahlkampfs mit einer simplen, aber effektiven Botschaft auf den Punkt: „Trotz hoher Steuern funktioniert nichts.“ Hohe Preise für Grundbedarfsgüter, fehlender bezahlbarer Wohnraum, marode öffentliche Dienstleistungen und eine bröckelnde Infrastruktur sorgen für Unmut. Umfragen zeigen immer wieder, dass die britische Bevölkerung wenig Vertrauen in die Fähigkeit der großen Parteien hat, diese Probleme zu lösen. Labour setzt weiter auf Umverteilung und öffentliche Investitionen, während die Konservativen marktorientierte Lösungen bevorzugen – auch wenn der Brexit letztere Strategie geschwächt haben könnte.

Wahlrechtsreform

Schließlich müssen sich die großen Parteien eingestehen, dass sie in einer neuen Realität leben. Die letzte Wahl hatte das schlechteste Proporzverhältnis zwischen Sitzverteilung und abgegebenen Stimmen in der britischen Geschichte. Eine Partei, die nur 34 % der Stimmen erhielt, sicherte sich 63 % der Sitze, während eine Partei mit 14 % Stimmenanteil nur 0,8 % der Sitze bekam. 30 % der Wähler stimmten nicht für die Konservativen, Labour oder die Liberaldemokraten – ein historischer Rekord. Dies zeigt, dass viele Wähler eine Alternative suchen, sei es rechter Populismus (Reform UK), Klimafokus (Grüne) oder Unabhängigkeitsbewegungen (Plaid Cymru, SNP).

Die Debatte über das britische Mehrheitswahlrecht („First Past the Post“) könnte sich verschärfen, insbesondere wenn Wähler das Gefühl haben, dass das System ihre Meinungen nicht mehr widerspiegelt. Proportionale Repräsentation oder andere Wahlrechtsreformen könnten an Bedeutung gewinnen. Letztlich wird die Zukunft der britischen Parteienlandschaft wohl von größerer Fragmentierung, sich wandelnden Wählergenerationen und wirtschaftlichen Herausforderungen geprägt sein. Die traditionellen Parteien müssen sich anpassen – oder riskieren, weiter an Bedeutung zu verlieren.

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Demokratie

Dieser Essay ist eine deutsche und editierte Übersetzung, das englische Original lesen Sie hier.

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