Im Schatten der Demokratiekrise: Warum CEOs nicht unsere Volksvertreter sind
Christian Blum argumentiert in seinem Essay, dass wirtschaftliche Macht und politische Legitimation nicht miteinander verwechselt werden dürfen.
Die große Krise der europäischen Demokratien ist nicht nur eine Performanzkrise – Reformstau, Überregulierung, Kompetenzgerangel –, sondern auch eine Vertrauenskrise. Laut dem Edelman Trust Barometer 2025 ist das EU-weite Vertrauen in politische Institutionen und Amtsträger seit Jahren im Sinkflug. Nur Medien schneiden noch schlechter ab. Ausgenommen von diesem dramatischen Vertrauensverlust sind ausgerechnet: Unternehmen. Eine globale 2021er Studie mit fast 400.000 Teilnehmern ergänzt das Bild: 73 % der Befragten sehen Firmen in der zentralen Verantwortung, das Gemeinwohl aktiv zu fördern. Vorbei scheinen die Zeiten von kapitalismuskritischen Bewegungen wie Occupy, Attac und Co., die Konzerne vor allem als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung ansahen. Der neue Tenor ist: Die Unternehmer sollen uns retten – weil es die Politiker nicht können.
Diesen Umstand mag man, je nach ideologischer Grundierung, begrüßen oder beklagen. Aber dahinter steht eine spannende ethische Frage: Welche moralische Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl haben Unternehmen heutzutage? Das Antwortspektrum lässt sich in zwei Lager aufteilen: Minimalismus und Maximalismus – wobei die Minimalisten über lange Zeit den akademischen, aber auch den politisch-praktischen Diskurs beherrscht haben.
Vom Unternehmenslenker zum Weltenretter
Minimalistische Autoren wie der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman und der Unternehmensethiker George G. Brenkert argumentieren dafür, dass sich die moralische Verantwortung von Unternehmen darin erschöpft, offenkundig sittenwidriges Geschäftsgebaren wie Kinderarbeit, Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung zu unterlassen; für alles Weitere, sprich die aktive Förderung des Gemeinwohls, sind sie schlicht nicht zuständig. In der praktischen Philosophie nennt man diese Position in Anlehnung an den Aufklärer Immanuel Kant eine Fokussierung auf negative Pflichten.
Dieses ethische Verantwortungsspektrum ist für Theoretiker jüngeren Datums, so etwa Onora O’Neill und Florian Wettstein, viel zu gering. Ihre Gegenargumentation nimmt klassischerweise die eines logischen Schlusses an:
- Es gibt ernste Probleme in der Welt, wie z. B. Armut, Kriege und Krankheiten;
- jeder Akteur, der über die Ressourcen und Kenntnisse verfügt, um diese Probleme zu verbessern, hat eine moralische Verantwortung, dies zu tun, vorausgesetzt, die Kosten, die er selbst zu tragen hat, sind nicht übermäßig hoch;
- Unternehmen verfügen über die Ressourcen und Kenntnisse, um diese Probleme zu verbessern, ohne dass übermäßig hohe Kosten entstehen;
- daher sollten Unternehmen diese Probleme lösen.
Unternehmen stehen damit in der Verantwortung, nicht nur negative moralische Pflichten zu befolgen – sprich, offenkundig moralisch Schlechtes zu unterlassen –, sondern zudem das Gemeinwohl beziehungsweise korrespondierende Werte und Güter zu fördern. Das mag auf eine aktive unternehmerische Rolle bei der Armuts- und Krankheitsbekämpfung hinauslaufen, auf die Förderung von Alphabetisierung und Bildung, die Stärkung von Diversität und Inklusion oder die Eindämmung von Fluchtursachen. In jedem Falle unterliegen Unternehmen demnach – wiederum in der Begrifflichkeit Kants – einer positiven moralischen Pflicht, und zwar einer, die sich unmittelbar aus ihren enormen ökonomischen Machtressourcen ableitet. Um es in der Sprache der Spiderman-Comics zu sagen: „With great power comes great responsibility.“
Dass sich diese Position mit der aktuellen öffentlichen Meinung deckt, ist offenkundig. Aber sie korrespondiert auch einer subtilen Schwerpunktverschiebung in der Außenkommunikation von Weltkonzernen. Geradezu vorbildlich lässt sich das an der Transformation von Googles Code of Conduct nachvollziehen: Bis ins Jahr 2015 lautete der Ethik-Grundsatz des Unternehmens bekanntermaßen „Don’t be evil“, also „Sei nicht böse.“ Im Zuge einer Restrukturierung wurde dieses Motto ersetzt durch „Do the right thing“, „Tu das Richtige“. Über die internen Gründe zu spekulieren, ist müßig. Aber offensichtlich bildet die Veränderung des Code of Conduct eine Reorientierung weg von einer minimalistischen hin zu einer zumindest potenziell maximalistischen Ethik ab. Anstatt der negativen moralischen Pflicht, Böses zu unterlassen, sehen sich Google und seine Muttergesellschaft Alphabet nunmehr in der Verantwortung und in der Autorität, aktiv das Richtige zu tun. Zahlreiche andere Unternehmen, insbesondere jene, die der Benefit Corporation (B Corp)-Bewegung angehören und sich auf ein ausdrücklich gemeinwohlorientiertes Modell betriebswirtschaftlicher Wertschöpfung verpflichten, haben unterdessen gleichgezogen.
Dass es jenseits intrinsischer moralischer Motivation genuin betriebswirtschaftliche Gründe für CEOs gibt, eine aktive Rolle bei der Förderung des Gemeinwohls zu reklamieren – ob nun aufrichtig oder als reines Lippenbekenntnis – liegt auf der Hand: Längst preist der Kapitalmarkt bei der Evaluierung von Unternehmen soziopolitische und ökologische Kriterien mit ein; und in hochumkämpften Marktsegmenten mit wenig Differenzierungsmöglichkeiten über Kundennutzenvorteile bildet Gemeinwohlorientierung mitunter das entscheidende Alleinstellungsmerkmal. So verbindet sich, in der Argumentationslogik maximalistischer Unternehmenslogiker, das Richtige mit dem Nützlichen.
Wirtschaftliche Macht als politische Legitimation?
Gute Nachrichten möchte man denken: Im Angesicht der Entscheidungsschwäche von Politikern und tieferliegender Bedenken hinsichtlich ihrer Kompetenz können Unternehmen in die Handlungslücke vorstoßen und endlich wieder die Gemeinwohlorientierung der europäischen Nationen in den Blick fassen – mit Billigung der öffentlichen Meinung und gestützt durch sauber-syllogistische Theoriebildung. Das wäre zugleich Wasser auf die Mühlen all jener ultralibertären Staatsskeptiker vom Schlage eines Javier Milei, die den ganzen administrativen Apparat am liebsten gleich komplett abwracken wollen. Diesen Traum träumte in den 1970ern schon einmal der Anarchokapitalist Robert Nozick in seinem provokanten Gegenentwurf zu John Rawls‘ bedeutender Theorie der Gerechtigkeit.
Daimler, Krupp und Co. haben bereits in den 1930ern das Handlungsschema ethischer Flexibilität perfektioniert.
Aber es gibt da ein paar Probleme: Erstens haben Unternehmer und Unternehmen kein Mandat im Sinne einer kollektiven Autorisierung, um sich zu Sachwaltern des Gemeinwohls aufzuschwingen; als Marktakteure hat sie keiner gewählt, und keiner kann sie abwählen. Ihren gemeinwohlbezogenen Handlungsspielraum in den Bereich des Politischen auszudehnen bzw. jenen gewählter Repräsentanten zugunsten des Kapitals einzuschränken, hieße, demokratische Kontrolle aufzugeben.
Zweitens ist fraglich, ob ausgerechnet Wirtschaftsakteure kompetent in Gemeinwohlbelangen sind, und zwar in fachlicher und moralischer Hinsicht. Es ist sicher ganz richtig, dass deutschen Verwaltungsbeamten und Parteikadern ein auch nur grundständiges Verständnis von betriebswirtschaftlichem Projekt- und Prozessmanagement sowie von Wertschöpfungsmodellen guttun würde. Aber umgekehrt heißt das nicht, dass Expertise in der Führung gewinnorientierter Marktakteure zur gemeinwohlorientierten Politikgestaltung befähigt. Dessen unbesehen lassen aktuelle Positionierungen der US-Tech-Branchenvertreter in der Causa Trump ebenso wie die ideologischen Verirrungen eines Elon Musk oder der neue Bro-Habitus von Mark Zuckerberg („maskuline Energie“) Zweifel daran aufkommen, ob Konzernlenker per se als Fackelträger einer maximalistischen Verantwortungsethik taugen. Als Deutscher sollte man freilich nicht zu sehr mit den Fingern zeigen. Daimler, Krupp und Co. haben bereits in den 1930ern das Handlungsschema ethischer Flexibilität perfektioniert.
Der dritte und letzte Punkt läuft darauf hinaus, dass der ethische Maximalismus die Funktionsbestimmung von Unternehmen verkennt. Diese sind, qua gesamtgesellschaftlicher ökonomischer Rolle – Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen – stets nur indirekt für das Gemeinwohl verantwortlich. Direkte Verantwortung trägt die Politik, die durch Intervention in die Wirtschaft als eigenständige Gesellschaftssphäre Sorge trägt, dass unternehmerisches Handeln der Daseinsvorsorge des Gemeinwesens dient und dabei idealerweise profitabel ist, ohne dass durch ausbeuterische und andere unethische Praktiken die soziale Kohäsion gefährdet würde. Wer diese Aufgabenteilung verkennt bzw. überwinden will, reißt gleichsam die Hürden zwischen Politik und Wirtschaft ein; das „Absterben des Staates“ lässt grüßen. In diesem Projektziel kamen seit jeher Marxisten und Anarchokapitalisten zusammen – mit zweifelhaftem Erfolg.
Was bleibt nach all diesen Sticheleien gegen die öffentliche Meinung, ethische Maximalisten und Konzernlenker? Vielleicht jenes: Die Unternehmen werden uns nicht retten – und sie sollen uns auch nicht retten. Das müssen wir schon selber tun, indem wir Politiker wählen, aber auch abwählen, indem wir das Partizipationsspektrum der modernen pluralistischen Demokratie nicht nur auszunutzen, sondern auch ausweiten und indem wir den öffentlichen Diskurs über das Gemeinwohl sachlich, empathisch und verantwortungsvoll mitführen. Das wird schwer genug.
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