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Die aufgewachte Schlafwandlerin: Europa muss handeln – jetzt und richtig!

Veröffentlicht am
Autor
Stéphane Beemelmans
Schlagwort
Geopolitik

Stéphane Beemelmans analysiert, warum Europas militärische Handlungsfähigkeit nur durch eine prinzipiengeleitete Rüstungsstrategie gesichert werden kann – und fordert dafür eine zentrale Rolle der Europäischen Verteidigungsagentur.

In meinem Beitrag „Wenn die Schlafwandler erwachen“ vom 27. Februar 2025 habe ich die Dringlichkeit hervorgehoben, dass Europa die eigene Sicherheit auch in die eigenen Hände nehmen muss. In Deutschland wurden jüngst  Änderungen des Grundgesetzes beschlossen und im EU-Rat wurden Vorschläge der Europäischen Kommission über 800 Milliarden Euro für Rüstungsausgaben dem Grunde nach gebilligt. Es stellt sich daher die Frage, wie diese in dem – glaubt man NATO, dem BND und vielen Mitgliedstaaten – bedrohungsseitig wohl unstreitigen und von der Kommission in ihrem Weißbuch zugrunde gelegten Fünf-Jahres-Horizont wirkungsvoll umgesetzt werden können. Wir stehen vor einer so bislang nicht bekannten Herausforderung: innerhalb kürzester Zeit viel Geld in den Aufbau einer europäischen Verteidigungsfähigkeit zu investieren, die den bis zum 20. Januar 2025 sicher garantierten Beistand des amerikanischen Nato-Partners ersetzt.

Wie beschränkt die Kompetenzen der EU-Kommission in Verteidigungs- und Rüstungsfragen auch sind, so muss sie doch angesichts des beachtlichen Volumens der zur Verfügung zu stellenden Mittel auf das Einhalten bestimmter Prinzipien achten: Additionalität, Komplementarität, Inter-Operabilität, logistische Versorgbarkeit und just-in-time-Verfügbarkeit. Soll diesen Prinzipien Geltung verschafft werden, braucht es eine starke Rolle der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA) als koordinierende und überwachende Instanz. Hierum nur soll es im Folgenden gehen, die außenpolitische Dimension der Verteidigung Europas steht auf einem anderen Blatt Papier.

Additionalität

Das Prinzip der Additionalität besagt, dass Finanzmittel der EU nur unter der Voraussetzung bereitgestellt werden, dass hierdurch keine öffentlichen Strukturausgaben eines Staates ersetzt werden („Zusätzlichkeit der Mittel“). Im Kontext der verstärkten Verteidigungsausgaben seitens der EU bedeutet dies folgendes: Das Aufweichen von Maastricht- (auf EU-Ebene durch Aktivierung der nationalen Ausweichklauseln) oder Schuldenbremsenkriterien (auf Bundes- und Landesebene durch die Änderung der Art. 109 und 115 des Grundgesetzes) muss zu einer verstärkten Sorgfalt beim Verwenden dieser zusätzlichen Spielräume führen. Diese dürfen nur für echte Rüstungs­investitionen genutzt werden, die die Verteidigungsfähigkeit des Kontinentes und der Armeen der Mitgliedstaaten erhöhen. Wenn wir etwas bewirken wollen, darf es keine Substitution von nationalen Mitteln durch EU-Mitteln geben.

Wichtig und unerlässlich ist der konkrete und nachprüfbare quantitative Fähigkeitsaufwuchs, denn nur dieser trägt zur Stärkung der Verteidigung Europas bei. Dieser Aufwuchs entsteht nur über ein Mehr an Finanzmitteln und nicht über einen Austausch der Geldquellen. André Loesekrug-Pietri hat kürzlich die Debatten in EU und NATO wie folgt sehr treffend charakterisiert: „99% of discussions are about the % of defence spending“. Hierin liegt ein gravierendes Problem der bisherigen Debatten, denen es an Zielstrebigkeit in der Sache leider gemangelt hat. Anders formuliert: Prozente indizieren für sich genommen keinerlei Wirkung, schon gar nicht in Zeiten von BIP-Degressionen.

Komplementarität

In gewisser Hinsicht ist die Komplementarität des Einsatzes der EU-Mittel zu den nationalen Verteidigungsprogrammen – wie im „White Paper for European Defence – Readiness 2030“ der EU-Kommission richtigerweise gefordert – in den Planungen angelegt. Zwar kann man sich darüber streiten, ob die EU das Wiederauffüllen von Munitionsdepots mitfinanzieren sollte. Sofern der Fokus aber auf den Auf- und Ausbau der entsprechenden industriellen Kapazitäten hinausläuft, wäre ein strategischer Mehrwert gegeben. Für die anderen identifizierten Mangelfelder muss gelten, dass die EU ihre Mittel für den qualitativen, auf den Bestand und dem Fehl der militärischen Ausrüstung der Mitgliedstaaten ausgerichteten Ausbau der Fähigkeiten der europäischen Armeen konzentrieren sollte. So verstanden würde das europäische Programm die Mitgliedstaaten darin unterstützen, den im Szenario eines Disengagements der US Army entstehenden Mangel an Breite und Tiefe der militärischen Fähigkeiten zu kompensieren.

Interoperabilität

Es besteht kein Zweifel, dass eine so breit aufgestellte, große und unter einer einheitlichen Führung stehende Armee wie die US Army ein Vielfaches an militärischer Wirkung entfalten kann, als die europäischen Armeen es mit ihren disparaten Ausrüstungen, Kulturen und Einsatzbedingungen können. Das ist gerade im Kontext der aus dem Ukraine-Krieg zu ziehenden Lehren zu sehen, wo sehr viel höhere Anforderungen am „Gefecht der verbundenen Kräfte“ gestellt werden, als es die einzelnen Armeen Europas je praktiziert haben. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass bestimmte kritische Fähigkeiten bislang fast nur von der US-Army vorgehalten und bereitgestellt wurden. Das zitierte Weißbuch benennt diese Mangel an verschiedenen Stellen.

Eine Behebung erfordert jedoch die Beschaffung von Rüstungsgütern, die mit dem derzeitigen Bestand an Waffen und Systemen bruchfrei interagieren können. Hier darf es keine Kompromisse geben, sonst führt – etwa unter Hinweis auf einzelne nationale Industriezweige – die Beschaffung zum Beispiel von einzelnen neuen strategischen Kommunikationssystemen dazu, dass passende Sende- und Empfanggeräte wiederum neu gekauft und auf die sie tragenden Plattformen neu adaptiert werden müssten. So entsteht ein potenziell langjähriges Vorhaben, das dem Postulat der schnellen Verteidigungsfähigkeit Europas eklatant zuwiderliefe.

Logistische Versorgbarkeit

Eine der großen Herausforderungen besteht in der Sicherstellung der Versorgung mit essenziellen Rohstoffen und Gütern. Eine „Sicherstellung“ ist in diesem Zusammenhang als Management von Risiken im Hinblick auf die jederzeitige Verfügbarkeit zu verstehen. Es ist unerlässlich, diese Risiken bestmöglich auszuschließen. Jedes Gut, über das man die vollständige Verfügungsgewalt besitzt und die notwendige Logistikkette sein Eigen nennt, ist jedem besseren Gut vorzuziehen, bei dem beides nicht gewährleistet ist. Genau das sind wohl die Gründe, die Portugal dazu bewogen haben, von der Bestellung von F-35-Kampfflugzeugen Abstand zu nehmen, und genau darauf sollte die EU mit ihrem Programm größten Wert legen. Dieses Kriterium spricht aber nicht nur gegen mancherlei Beschaffungen außerhalb Europas, es spricht auch gegen das in der Vergangenheit gerne praktizierte „national customizing“ bei „gemeinsamen“ Beschaffungsprogrammen. Die Versorgbarkeit mit Ersatzteilen ist beim Mehrzweckhubschrauber NH-90 mit seinen über 20 zumeist nicht zwingend erforderlichen unterschiedlichen Varianten ohne Zweifel kein Ruhmesblatt für die nationalen Beschaffungsorganisationen und hat ganz sicher keinen entsprechenden operativen Gegenwert.

Just-in-time-Verfügbarkeit

Die Situation, in der wir uns derzeit befinden, erfordert einen breiten Mix an zeitlich gestaffelten Maßnahmen. Alles, was fehlt und verfügbar ist, muss mit höchster Dringlichkeit beschafft werden. Es gibt schlicht keinerlei Ausrede dafür, dass an die Ukraine abgegebene Munition nicht uno actu nachbeschafft wird. Das zitierte Weißbuch weist in diesem Bereich die Bereitschaft aus, das Nötige zur Weiterentwicklung des Rechtsrahmens für öffentliche Beschaffungen zu tun. Die Möglichkeiten müssen dann aber auch genutzt werden. Es ist sinnlos nach privatem Wagniskapital für Rüstungsprojekte zu rufen, um dann keinerlei Verfahrenswagnis bei Vergaben einzugehen bereit zu sein.

Neben den sofort beschaffbaren Rüstungsgütern muss der eingeschlagene Weg von Forschungspartnerschaften über die European Defence Initiative verstärkt werden. Die Risiken für unseren Kontinent erfordern Entschlossenheit auf allen Ebenen – erfolgreiche Forschungsprojekte müssen in die Umsetzung gehen, auch das bedeutet verantwortungsvoller Umgang mit der eingegangenen Verschuldung.

Welche Rolle für Europa?

Vorab sei klargestellt, was auch die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch tut: Selbstverständlich muss der militärische Bedarf in den vorhandenen Strukturen von EU und NATO festgelegt werden. Das Geld zu dessen Deckung ist da, jetzt geht es um dessen sachgemäße Verwendung. Gerade in Ermangelung einer klaren Kompetenz für die Verteidigung muss die EU diese Mittel umso sorgfältiger und zielgerichteter verwenden. Wer von der EU einen Finanzierungsbeitrag oder neue Finanzierungsquellen (wie Eurobonds) fordert, muss akzeptieren, dass diese auf die Einhaltung bestimmter Kriterien achtet. Nur so kann die von der EU-Kommission beschworene „Readiness 2030“ erreicht werden. Dabei kann es – anders als es im Weißbuch anzuklingen scheint – nicht ausschließlich darum gehen, die von den Mitgliedstaaten für sich erkannten Defizite und Bedarfe zu decken. Es muss klar sein, dass die EU nur einen gemeinsamen Ansatz, und nicht die Gesamtheit der einzelnen Ansätze unterstützten sollte. Wenn sie nicht darauf besteht, sollte sie sich auch aus der Finanzierung heraushalten. Wenn sie das aber erfolgreich tut, wird sie einen historischen Beitrag zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Verteidigungsbinnenmarktes geleistet haben. Sie sollte dabei auch darauf hinwirken, dass mit EU-Mitteln finanzierte Projekte einer europäischen – und nicht nationalen – Exportkontrolle unterfallen, um ökonomische und politische Vorteile aus diesen ziehen zu können.

Die EU-Kommission sollte zudem alle ihre verfügbaren Kräfte bündeln. Gerade angesichts der einmaligen Dimension des „ReArm Europe Plan“ sollte die Gelegenheit genutzt werden, die Europäische Verteidigungsagentur mit der Koordinierung und dem Monitoring der Beschaffungsprogramme zu betrauen. Die im Weißbuch von der Europäischen Kommission den Mitgliedstaaten angebotene Unterstützung als „Zentrale Beschaffungsinstanz“ für die Umsetzung des „ReArm Europe Plan“ („central purchasing body“) sollte in den folgenden Diskussionen mit diesen fest vereinbart und gegebenenfalls ebenfalls der EVA als Aufgabe übertragen werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass gemeinsame Beschaffungen einheitlich und ohne Ansehung eventueller Partikularinteressen vorgenommen werden, die immer negative Kosten- und Zeiteinflüsse nach sich ziehen, ganz zu schweigen von der uneinheitlichen Auslegung des Vergaberechts in den einzelnen Mitgliedstaaten. Das Weißbuch beschreibt angemessen, wie es zu den disparaten Strukturen gekommen ist. Wenn die EU-Kommission das darin vielfach angebotene „Koordinierungsangebot“ nicht auch zugleich als „Lenkungsaufgabe“ versteht, wird der Zeitrahmen bis 2030 nicht erfolgreich eingehalten werden können. Was daraus aber mit europäischen Mitteln finanziert werden soll, muss die Kommission im Hinblick auf die oben genannten Kriterien entsprechend den Europäischen Finanzierungsregeln validieren und bis zur Lieferung begleiten. Dabei könnte es angesichts der beschränkten personellen Ressourcen von EVA und EU-Kommission angeraten sein, sich kurzfristig intern und extern für die Strukturierung und Durchführung der einzelnen Programme unterstützen zu lassen, um einerseits „Europe first“ in Abgrenzung zu rein nationalstaatlichen Ansätzen und andererseits die Zielerreichung zu gewährleisten. Diese Aufgabe gilt dabei nicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten, sondern auch gegenüber der Industrie. Hier darf nicht mehr die Flagge zählen, sondern die Fähigkeit zur Kooperation und Lieferfähigkeit entlang den festgestellten „capability gaps“ im gewünschten Zeitraum. Es ist an der Zeit, nationale Industriepolitik der europäischen Verteidigungspolitik unterzuordnen. Es wäre wünschenswert, wenn die Industrie sich die Chancen des „ReArm Europe Plan“ zunutze machen würde und ihren Beitrag zu gemeinsamen, in der kontinentalen Dimension skalierbaren Rüstungsprojekten leisten würde.

Im Hinblick auf die zu erwartende Kritik an dem hier vorgeschlagenen europäischen Vorgehen sei den Mitgliedstaaten – gerade Deutschland und Frankreich – zugerufen, dass die bisherigen multinationalen Projekte wie A400 M, NH-90 oder Tiger mit ihren vielfältigen Problemen, Zeit- und Kostenüberschreitungen jedenfalls nicht als Blaupause für die nun anstehenden Projekte dienen. Auch das parallele Entwickeln von hochwertigen Rüstungsgütern im Fall der konkurrierenden Eurofighter und Rafale hat eher zu einem Verschwenden, denn zu einem Bündeln von Ressourcen geführt. Jetzt kann es nur darum gehen, es diesmal besser zu machen. Die Disparität und Lückenhaftigkeit des militärischen Arsenals der europäischen Mitgliedstaaten und die oben erwähnten multinationalen Projekte der Vergangenheit eignen sich wahrlich nicht als Beleg für die Richtigkeit und Effizienz des nationalstaatlichen Ansatzes. Auch ist nur eine neutrale dritte Instanz in der Lage, verfahrenshemmende Partikularinteressen bei den nach dem Weißbuch umzusetzenden Gemeinschaftsprojekten zu verhindern und dabei immer und immer wieder auf das festgelegte Ziel – ReArm Europe 2030 – hinzuweisen und die europäischen Mittel insoweit zu konditionieren.

Die EU-Kommission zeigt im Weißbuch eine der immensen Aufgabe angemessene Ambition, Europas Verteidigungsfähigkeit kurzfristig auf das notwendige Niveau zu bringen. Nun müssen die europäischen und nationalen Organe nachziehen. Dabei wird es darauf ankommen, auch dann zu handeln, wenn die sich beteiligenden Staaten („Willings“) nur teil-identisch mit den Mitgliedstaaten sind. Es darf jedenfalls keine Blockademöglichkeit für „unwillige Mitgliedstaaten“ geben.

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