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Ungehört, unerhört oder überfordert?

Veröffentlicht am
Autor
Anna Grebe
Schlagwort
Demokratie

Anna Grebe analysiert, wie die Jugend zur Demokratie steht und warnt vor voreiligen Schlüssen.

38% in Thüringen, 31% in Sachsen, 31% in Brandenburg: Rund ein Drittel der Jung- und Erstwähler*innen haben bei den vergangenen drei Landtagswahlen für die Alternative für Deutschland (AfD) gestimmt. Die Zeitungen titeln: „Die Jugend wählt rechts.“ Die Berichterstattung über diverse Jugendstudien der vergangenen Monate befeuert zusätzlich ein pauschales Generationenbild von Jugend, das von Fremdzuschreibungen und Vorurteilen geprägt ist. Bei Politik, Medien und Verantwortlichen in Verbänden und Vereinen beginnt das große Rätseln: Was ist nur mit den jungen Leuten los?

Eins ist in jedem Fall nicht zu leugnen: Viele junge Menschen haben die AfD gewählt, weil sie deren rechte bis rechtsextreme Weltanschauung teilen. Doch auch wenn das Wahlverhalten dieser jungen Menschen besorgniserregend ist und die Frage nach dem Warum berechtigt ist – so bleibt doch bei aller medialen Skandalisierung eine aufrichtige Reflexion weitestgehend aus: Wie hängen ein liberales Demokratieverständnis auf der einen Seite und die lebensweltlichen Anforderungen an junge Menschen in Deutschland auf der anderen Seite zusammen? Und wer soll das überhaupt sein, „die Jugend“? Dazu hier einige Gedanken.

Generationenerwartungen

Ältere Generationen, aber auch Verantwortliche in der Politik, drücken ihr Unverständnis gegenüber dem Wahlverhalten junger Menschen auf unterschiedliche Art aus: Die einen stellen die Wahlalterabsenkung von 18 auf 16 in einigen Bundesländern und auf europäischer Ebene grundsätzlich in Frage; 16- und 17-Jährige, so das landläufige Argument, seien eben noch nicht in der Lage, ausgereifte politische Entscheidungen zu treffen. Andere Erwachsene erinnern sich wehmütig an die eigene Jugend in der 68-Generation und zeigen sich regelrecht enttäuscht darüber, wie wenig die gegenwärtig Jungen sich gegen die Alten auflehnen. Nicht so leben und nicht so wählen zu wollen wie die eigenen Eltern – vielfach beherrscht dieses Generationenbild den Diskurs um das Wahlverhalten junger Menschen bis heute. Ganz fair ist der Vergleich nicht.

Tatsächlich zeigt ein Blick in die Jugend-Studien: Gerade in dynamischen Zeiten und Krisen sehnen sich junge Menschen nach Stabilität und Sicherheit. Familie und Geborgenheit haben einen hohen Stellenwert. Die emotionale Bindung an Eltern und Erziehungsverantwortliche ist eng. In politischen Fragen trauen Heranwachsende eher Eltern, Familie und Freund*innen als sozialen Medien und Plattformen wie TikTok. Wenn überhaupt, dann nähern sich Jugend und Erwachsene in ihren Werten einander an – mit überraschenden Folgen: Oftmals neigen junge Menschen eher dazu, den Unmut und die Unzufriedenheiten mit der Demokratie als Gesellschaftsform von den Erwachsenen zu übernehmen, statt gegen die Alten zu rebellieren. Im Gegenteil: Wenn die Elterngeneration neue Jugendbewegungen wie Fridays for Future gegenüber den eigenen abwertet und ihre Forderungen ignoriert, dann führt das oft dazu, dass engagierte Kinder und Jugendliche sich aus Enttäuschung entpolitisieren.

Jungsein heute

Noch keine junge Generation in Deutschland ist hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Lebenslagen, Orientierungen und Zugehörigkeiten so vielfältig wie diese: 37% der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen haben eine Migrationsgeschichte, die sozio-ökonomischen Ausgangsbedingungen klaffen weit auseinander, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt trifft auf heteronormative Ansichten, städtische Realitäten treffen auf ländliche, Ost auf West. Kurzum: „Die Jugend“ ist alles, nur keine homogene Gruppe. Der 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung vom September 2024 konstatiert zudem: Jugend als eigenständige Lebensphase findet in „dynamischen und unsicheren Zeiten“ statt, die geprägt sind von der Klimakrise, von kriegerischen Bedrohungslagen, von den Versäumnissen der Corona-Politik, von einer digitalen Transformation und einer Überalterung der Gesellschaft. Jungsein heute – ganz einfach ist es nicht.

Was aber viele junge Menschen eint: das Gefühl, dass Themen und Perspektiven, die sie betreffen, in politischen Entscheidungen keine Rolle spielen. Echte demokratische Teilhabe scheint ihnen wenig greifbar. Echtes Mitwirken, zum Beispiel durch entsprechende Bestimmungen in den Kommunalordnungen der Länder (z.B. in Brandenburg, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein), bleibt noch zu oft ein Ding der Theorie. Anstelle einer Einladung zum aktiven Mitwirken stößt die junge Generation eher auf Abwehr: In der seit Jahren währenden Debatte um die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz zeigt sich die geballte politische Abwehr gegen die Anerkennung von Unter-18-Jährigen als eigenständige Subjekte mit einem Recht auf Teilhabe. Konservative Kreise brachten jüngst an: Wer jünger wahlberechtigt sein will, der müsse auch hinnehmen, im Straffall früher nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt zu werden. Ein echtes Partizipationsangebot sieht anders aus.

Doch trotzdem glauben laut der aktuellen Jugendstudie der Vodafone-Stiftung 71% der Befragten zwischen 14 und 20 Jahren, dass ihr Handeln grundsätzlich Einfluss hat – auf das Zusammenleben in der Gesellschaft sowie auf Demokratie in der Praxis. Das gibt Hoffnung – und lässt zugleich fragen: Welche nachhaltigen, inklusiven und vielfältigen Räume können wir dem politischen Handeln junger Menschen eröffnen?

Junge Demokratieerfahrungen

Durch die Ausweitung der Ganztagsbetreuung nehmen KiTa und Schule immer mehr Raum im Alltag junger Menschen ein. Dennoch sehen sich gerade diese prägenden Bildungsstätten nicht in der Pflicht (und aufgrund eines Personal- und Ressourcenmangels auch nicht im Stande), Heranwachsende in die Gestaltung von Räumen einzubeziehen. Im Gegenteil: Politische Bildung in Form von Politik- und Gemeinschaftskundeunterricht hat eher an Stellenwert eingebüßt. Immer kleiner werden außerschulische Räume, in denen junge Menschen Selbstwirksamkeit erfahren können, sich ausprobieren, soziale Aushandlungsprozesse gestalten, und: Fehler machen dürfen. Junge Menschen haben zusehends weniger Zugang zu Angeboten von gelebter Demokratie in der Jugendarbeit, Verbänden und Vereinen. Nicht nur fehlt es ihnen aufgrund von prekären Rahmenbedingungen selbst häufig an Zeit und personellen als auch finanziellen Ressourcen. Auch scheinen die vorgefundenen erwachsenen Strukturen bisweilen nicht zu erkennen, dass die Mitbestimmung junger Menschen einen demokratischen Wert an sich darstellt – ganz unabhängig von den konkreten Ergebnissen im Einzelfall.

Klar ist jedenfalls: Wenn nach den Landtagswahlen mal wieder der Ruf nach „mehr politischer Bildung“ ertönt, dann wird es nicht getan sein mit einer „Verfassungsviertelstunde“ an Schulen wie in Bayern. Politische Bildung im Sinne des Beutelsbacher Konsens ist mehr als eine punktuelle Intervention. Wenn sie einer gesellschaftlichen Desintegration und antidemokratischen Positionen entgegenwirken soll, muss politische Bildung Daueraufgabe sein.

Vom Kirschenpflücken oder Rosinenpicken

Für Parteien sind Bevölkerungsgruppen dann besonders interessant, wenn sie sich als Wählergruppen adressieren lassen. Kinder und Jugendliche sind deshalb nicht nur aufgrund ihres Alters nicht ausreichend relevant, sondern auch aufgrund der oben skizzierten Vielfalt vermeintlich schwer zu fassen. Dabei unterscheiden sich die Themen junger Menschen nur unwesentlich von den Themen Erwachsener – es genügt ein Blick auf die Themen aus Beteiligungsverfahren der vergangenen zehn Jahre: Es geht um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, um Wohnungspolitik, um Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik, um Mobilität, um Bildung, um Inklusion und Integration und um gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Dennoch widmet sich aktuell keine der demokratischen Parteien ausdrücklich den Perspektiven von Kindern und Jugendlichen als eigenständige Subjekte. Höchstens werden sie bei Familie oder Schule „mitgedacht“. Als Expert*innen in eigener Sache werden sie nicht anerkannt. Entsprechend führen Vorurteile oder Zuschreibungen an „die Jugend“ zu einer Entfremdung von etablierten Parteien als Ordnungs- und Strukturprinzip einer liberalen Demokratie. Politisches „Rosinenpicken“ ist die Folge: Beim sogenannten „cherry picking“ treffen Menschen Wahlentscheidungen eher themen- oder anlassbezogen und unabhängig vom grundsätzlichen Profil einer Partei. Ein reines Jugendphänomen ist das im Übrigen nicht. Wenn dann im eigenen Alltag die AfD zunehmend normaler wird, ihre Positionen in der Familie und (u.a. durch false balancing) in den Medien Fuß fassen und durch die (zweifelhafte) Kampagnenfähigkeit der AfD auf TikTok und Co. an Präsenz gewinnen – wen wird es noch wundern, wenn Jung- und Erstwähler*innen sich nicht im demokratischen Parteienspektrum beheimaten bzw. Positionen vertreten, die jenseits eines Links-/Rechts-Schemas zu verorten sind? Einzig bleibt die Frage, ob der Prozess auch wirklich unumkehrbar ist.

Demokratiebegeisterung für die Zukunft

Was junge Menschen jedenfalls nicht davon abhalten wird, rechte Parteien zu wählen: Ihnen noch weniger Mitbestimmungsmöglichkeiten zuzugestehen, ihre Lebenswelterfahrungen zu pauschalisieren oder sie auf ihre Rolle als künftige Fachkräfte oder Steuerzahler*innen zu reduzieren. Im Hinblick auf die Wahlen in Hamburg (Bürgerschaft), Nordrhein-Westfalen (Kommunalwahlen) und im Bund müssen Regierung, Parlament und Parteien nicht nur lernen, ihre Inhalte und Positionen besser zu kommunizieren, sondern auch dafür sorgen, dass sich die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen maßgeblich verbessern. Die Herausforderung: Eben weil Jugendpolitik als eigenständiger Ansatz alle Politikfelder betrifft, wird es nicht mehr genügen, junge Perspektiven in Symbolprojekten ohne Nachhaltigkeit und Wirkung abzufertigen. Wer das Verständnis von und die Liebe zur Demokratie fördern will, der muss neben einem Kampf gegen die Menschenfeindlichkeit extremistischer Parteien auch die Auseinandersetzung mit vielfältigen jungen Stimmen und deren Interessenvertretungen riskieren. Adultistische Sichtweisen haben in diesem Vorhaben keinen Platz.

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