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Von Worten zu Taten: Olaf Scholz klebrige Zeitenwende

Veröffentlicht am
Autor
Kristina Spohr
Schlagwörter
Demokratie
Geopolitik

Olaf Scholz Zeitenwende war mehr als bloße Rhetorik – aber ein echter strategischer Wandel steht noch aus, argumentiert die Historikerin Kristina Spohr.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 erwachte Deutschland abrupt aus seinem Schlummer. Die Regierung Scholz war gezwungen, Deutschlands Rolle in internationalen Angelegenheiten und sein „Sonderverhältnis“ zu Russland neu zu bewerten. Der Kanzler hatte bisher fast nichts Bemerkenswertes zu internationalen Angelegenheiten gesagt. Nun fand er sich unter scharfer Beobachtung, zumal ihm der Vorwurf zahlreicher Kritiker anhaftete, in Fragen politischer Führung zu zurückhaltend sein.

Im Angesicht des Krieges nahm sich der Bundeskanzler einen kurzen Moment Zeit, um seine Optionen zu überdenken, bevor er am 27. Februar im Bundestag in die Offensive ging. Dort verkündete er im Rampenlicht der Weltmedien eine neue Ära der deutschen Außenpolitik: Die „Zeitenwende“. Er bekundete Deutschlands Absicht, die Vernachlässigung der militärischen Verteidigungskapazitäten nach dem Ende des Kalten Kriegs und seine Passivität in den Außenbeziehungen hinter sich zu lassen. Berlin würde mit seinen Verbündeten stehen, um Putins Russland abzuschrecken und zu konfrontieren. Die Politik der „Zeitenwende“ war somit ein klarer Bruch mit der vormaligen Moskau-Politik Berlins (und zuvor Bonns).

In seiner revolutionären Rede sprach sich der Kanzler für eine Reihe von Sanktionen gegen Russland aus. Er versprach die Bundeswehr besser auszustatten und „ab sofort“ mehr als zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben im Rahmen des NATO-Ziels auszugeben sowie ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro bereitzustellen, um diese Erhöhung umzusetzen und Deutschland wieder zu bewaffnen. Darüber hinaus brach er mit dem nach dem Krieg in Deutschland geltenden Tabu der Waffenexporte in Kriegsgebiete und verkündete nun die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, damit Kiew seine Souveränität verteidigen konnte. Und schließlich machte er klar, dass Deutschland unabhängig von russischer Kohle, Öl und Gas werden müsse.

Mit dieser Initiative – für die Scholz an jenem Tag von fast allen Abgeordneten tosenden Applaus erhielt – hatte er in auf einen Schlag zu zahlreichen Sorgen, die die Politik Deutschlands nach dem Kalten Krieg fast drei Jahrzehnte lang verfolgt hatten, ein Fait accompli geschaffen. Auf der Welle der öffentlichen Unterstützung während der schlimmsten Krise Europas seit dem Zweiten Weltkrieg vereinte der Kanzler die lange skeptischen links-pazifistischen Strömungen sowohl innerhalb der Sozialdemokratischen Partei als auch der Grünen und zwang sie dazu, eine abrupte und vollständige Umkehr der deutschen Sicherheitspolitik zu akzeptieren. Und es schien, als wäre Berlin auch bereit, seine traditionelle Ordnung der politischen Prioritäten zu opfern, nämlich die Verfolgung seiner Handelsinteressen – einschließlich mit autokratischen Regimen – über eine auf Werten und Normen basierende Außenpolitik hinweg.

Offensichtlich war ein Moment tiefer Krise notwendig, um die deutsche Trägheit zu beenden.

Die Rede zur „Zeitenwende“ wurde als historischer Meilenstein gelobt – zu Hause ebenso wie in den großen NATO-Hauptstädten, wo der Mangel einer ernsthaften Sicherheitspolitik des vereinten Deutschlands seit Jahren beklagt wurde. Endlich schien sich ein neues, pragmatisches Deutschland abzuzeichnen, das bereit war, Verantwortung für die europäische Sicherheit zu übernehmen und als führende politische Macht zu handeln. Im Westen herrschte erstmal die aufrichtige Überzeugung, dass Deutschland nun seinen „Zivilmachtstatus“ hinter sich lassen würde, der auf der strategischen Kultur militärischer Zurückhaltung nach dem 2. Weltkrieg beruhte.

Ebendiese Tradition, die ursprünglich von den Siegermächten der damals halb souveränen Bundesrepublik auferlegt wurde, hatte sich – trotz einiger rechtlicher Änderungen des Verfassungsgerichts zu Auslandseinsätzen nach der Wende – auch nach 1990 fortgesetzt, als die Einheit  des Landes wiederhergestellt worden war und seine volle Souveränität wiedererlangt hatte. Es ist bemerkenswert, dass die Deutschen in den Vertragsverhandlungen über „die abschließende Regelung“ der deutschen Frage einer künftigen Bundeswehr zugestimmt hatten, die mit einer reduzierten Gesamtstärke von 345.000 Männern und Frauen operieren würde und nicht aus der Summe ihrer Teile bestehen würde, d.h. aus den west- und ostdeutschen Streitkräften (etwa 545.000 plus 175.000 Soldaten). Bis 2022 hatte die Größe der Bundeswehr weiter abgenommen, auf etwa 182.000 Soldaten. Diese Reduzierung der deutschen Truppen von den 1990er bis in die 2020er Jahre war nicht nur eine Verbeugung vor der Friedensschaffung nach dem Krieg oder eine Beruhigung der historischen Ängste Deutschlands Nachbarn, sondern auch ein bewusster Schritt im Bestreben, eine bessere, weniger konfliktgeladene Nach-Mauer-Welt zu bauen.

Im Angesicht von Russlands (Neo-)Imperialismus erschien Deutschlands „Kultur der Zurückhaltung“ jedoch auf einmal anachronistisch. Offensichtlich war ein Moment tiefer Krise notwendig, um die deutsche Trägheit zu beenden. Und vielleicht konnte nur ein sozialdemokratischer Kanzler den linken Teil der Bundesrepublik mit sich ziehen, während Berlin seine historische Wende weg von seiner traditionellen pazifistischen Haltung hin zu einer (Wieder-)Herstellung und einem Ausbau deutscher Verteidigungskapazitäten und -Kompetenzen begann.

Die psychologische Veränderung, die Scholz‘ Rede von der deutschen Bevölkerung verlangte, war sicherlich außergewöhnlich. Für die Sozialdemokraten von Scholz und viele Grüne war es eine bittere Pille, selbst bevor der 100-Milliarden-Euro-Verteidigungsfonds im Juni 2022 in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Die starken Spannungen innerhalb und zwischen den Koalitionsparteien, die diesen politisch-rechtlichen Prozess begleiteten, könnten einer der Gründe gewesen sein, warum sich Scholz kurz nach seiner kühnen Rede wieder auf defensive und zeitweise kryptische Kommunikation zurückzog, wenn nicht gleich auf schlichtes, ungeschicktes Schweigen. Mit Rücksicht auf die Vergangenheit und die möglichen Verdächtigungen anderer Länder, schränkte er sicherlich bald seine Vorstellungen von Deutschlands zukünftiger militärischer Macht in der Öffentlichkeit ein. In einem Interview mit dem TIME-Magazin im April 2022 erklärte er: „Wir müssen stark genug sein. Nicht so stark, dass wir eine Gefahr für unsere Nachbarn darstellen“, sagte er, „aber stark genug“.

Im Frühling reiste Scholz nicht allein nach Kyjiw, sondern wartete stattdessen auf eine gemeinsame Sommerreise zusammen mit Macron und dem italienischen Premierminister Mario Draghi. Unterdessen lud Präsident Wolodymyr Selenskyj seinen deutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier (SPD) abrupt aus, wegen dessen „engen [vergangenen] Verbindungen zu Russland“, als er Außenminister war. In diesem Durcheinander aus ungeschickter und widersprüchlicher Kommunikation sowie zögerlichen und schleppenden deutschen militärischen Anstrengungen wurde Scholz‘ wahrgenommene zögerliche Maßnahmen in Reaktion auf den Krieg breit kritisiert.

Dabei ist nicht zu leugnen, dass Kanzler Olaf Scholz seit jenem Tag Ende Februar 2022 gelegentlich die Bühne betreten hat, um seine europäischen Kollegen aufzurufen, geschlossen und gemeinsam gegen die russische Aggression vorzugehen. Putins Handlungen haben also zweifellos einen zweiten Kanzler in Scholz offenbart – einen, der entschlossen und kühn zu sein kann, wenn er denn will. Tatsächlich stecke immer schon mehr in dem leise sprechenden Hamburger, als es den Anschein hatte. Während des Wahlkampfs 2021 von einem spöttischen konservativen Rivalen für sein „schlumpfiges Grinsen“ verspottet, hatte Scholz sofort zurückgeschlagen: „Ich finde Schlümpfe super. Die sind klein, listig und gewinnen immer“ . Aber jenseits seines trockenen Humors und seiner schnellen Auffassungsgabe, bleibt festzuhalten, dass den großen Worten nur wenige bedeutende Taten gefolgt sind.

Erst nach viel Zögern begann Berlin, schwere Waffen in die Ukraine zu liefern, und tat alles, um diese Maßnahmen nicht an die große Glocke zu hängen. Scholz schien zu glauben, dass er sich gut geschlagen hat: stur an seinem geheimen Scholz’schen Drehbuch festhaltend, sich nicht den Forderungen anderer beugend, nie ein Risiko eingehend. Wie er später im Bundestag erklärte, hatte er alles „richtig“ gemacht. Sicherlich, bei einer zutiefst umstrittenen Frage, hielt er letztlich die SPD und die Koalition zusammen; und er kann argumentierten, dass es ihm gelungen ist, die amerikanische Regierung davon zu überzeugen, der Ukraine ihre Abrams 1-Panzer bereitzustellen. Aber es war die Entscheidung Washingtons, die die völlige Lähmung im Kanzleramt beendete und damit die deutschen Lieferungen überhaupt erst freigab.

Der Prozess der transformativen Veränderung steht in Deutschland gerade erst am Anfang.

Insgesamt ist bemerkenswert, dass Olaf Scholz mit seiner Zeitenwende-Rede die Bundesbürger erst wieder mit der Sprache des Krieges vertraut gemacht – einer Sprache, die nach 1990 fast vollständig (mit Ausnahme in Bezug auf die Jugoslawienkriege bzw. die dt. Beteiligung beim NATO-Militaereinsatz im kosovo 1999) von der Sprache des Handels verdrängt wurde. Angesichts der tief verwurzelten Ängste der Deutschen, dass ihr Land in einen scheinbar entfernten Krieg hineingezogen wird, waren erstaunlicherweise bis Ende Januar 2023 etwa 44 Prozent der Bevölkerung dafür, Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken, während 45 Prozent dagegen waren. All dies ist keine geringe Leistung, wenn man bedenkt, dass Scholz sich kaum darauf vorbereitet hatte, ein „außenpolitischer“, geschweige denn ein „Kriegskanzler“ zu sein.

Die harte Realität ist jedoch, dass der Prozess der transformativen Veränderung in Deutschland gerade erst am Anfang steht. Die Deutschen wissen, dass sie als Nation üben müssen, in einem immer volatileren und komplexeren sicherheitspolitischen Umfeld zu denken und zu handeln; dass sie sich mit proaktiver Abschreckung und Verteidigung erneut vertraut machen müssen. Dabei darf man nicht ignorieren, dass 2022 das NATO-Zwei-Prozent-Ausgabenziel nicht erreicht wurde und die Bundeswehr mit erheblichen Problemen bei Ausrüstung, Personal und Bereitschaft zu kämpfen hat. Die Wiederbelebung der transatlantischen Beziehungen und die Stärkung der Europäischen Union, die Scholz versprochen hatte, sie ist noch lange nicht erfolgt.

Daher steht das endgültige Urteil über Olaf Scholz‘ Weltpolitik noch aus. Trotz aller rhetorischen Bemühungen, eine deutsche außenpolitische Revolution herbeizuführen, wirkten seine stille Vorsicht, seine Sturheit und die strukturellen Beschränkungen, denen Deutschland immer ausgesetzt war, als Bremse. Die deutsche Kriegsschuld, die Auswirkungen der Politik „nie wieder Krieg“ gepaart mit dem „Zivilmachtstatus“ und die Vermächtnisse des deutsche-russischen „Sonderverhältnisses“ sowie die immerwährenden Komplikationen der deutschen Koalitionspolitik haben alle weiterhin den Handlungsspielraum Deutschlands eingeschränkt. Das gilt ebenso für die nie endenden Verdachtsmomente seiner Nachbarn gegenüber den deutschen Einsatzmöglichkeiten – wirtschaftlich, politisch und potenziell militärisch. Deshalb hat sich die „Zeitenwende“ zwar immerhin als mehr denn als bloße Ankündigungspolitik entpuppt – aber ein echter Umbruch, eine strategische Neuausrichtung auf die politischen Herausforderungen der Gegenwart ist sie bislang nicht geworden.

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