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Zum Verhältnis von Freiheit und Macht in Bibel und Gegenwart

Veröffentlicht am
Autor
Ingo Schütz
Schlagwörter
Identität
Kultur

Geht die Ausübung von Macht einher mit der Einschränkung von Freiheit? Die Vermutung liegt nahe und lässt sich durch den Blick auf tatsächliche autokratische Regime scheinbar ebenso schnell nachvollziehen wie durch das Gefühl diktatorischer Unterdrückung in der gegenwärtigen Corona-Krise. Die Fragestellung soll verschärft werden, indem sie nicht anhand de facto immer noch demokratisch zu legitimierender Machtinstanzen analysiert wird, sondern anhand einer absoluten, also von jedem Begründungszwang zunächst losgelösten Instanz. Gemeint ist die Kirche zusammen mit der Bibel als Grundlage jüdischen und christlichen Glaubens. Sie soll zu zeigen helfen, dass Macht im Gegenteil zur ersten Vermutung positiv und befreiend verstanden wird, was umgekehrt Schlussfolgerungen für die Nutzung von Machtverhältnissen in unserer Gegenwart zulässt.

Die Behauptung mag zunächst irritieren. Im ersten Teil der christlichen Bibel, dem so genannten Alten Testament, zugleich als „Tanach“ die Heilige Schrift des jüdischen Glaubens, werden 623 Ge- und Verbote gezählt, die das Leben auf teils drakonische Art zu regeln scheinen. Während viele Einzelgebote die Ordnung des religiösen Lebens und des Kultus betreffen, wirken andere in ihrer kasuistischen Drastik brutal: „Wenn jemand eine Frau nimmt und ihre Mutter dazu, der hat eine Schandtat begangen; man soll ihn mit Feuer verbrennen und die beiden Frauen auch, damit keine Schandtat unter euch sei.“ (Levitikus 20,14) Religiös gesprochen scheint Gott, kulturtheoretisch scheint eine religiöse Herrscherklasse vermittels der Projektion auf die Gottheit durch die Gebote ein Machtsystem etabliert zu haben, das jeglicher individuellen oder kollektiven Freiheit entgegensteht.

Auch im zweiten Teil der christlichen Bibel, dem Neuen Testament, ergibt sich durch verbindliche Aussagen in Form von Sittenspiegeln (z.B. Galater 5,16ff) etc. ein ähnliches Bild, allen anderslautenden Freiheitsbeteuerungen (etwa das paulinische „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“, Galater 5,1) zum Trotz. In der Kirchengeschichte schreibt sich das Machtsystem über die heiligen Texte hinaus bis heute fort. Auch in der Gegenwart werden die Kirchen, allen voran in unserem Kulturkreis die römisch-katholische, in einer Außenperspektive als der Freiheit widerstehend wahrgenommen.

Dabei lässt sich zeigen, dass gerade die biblischen Normen keineswegs den Entzug von Freiheiten intendieren, sondern auf die Eröffnung von Lebensräumen zielen. Durch einen dialektischen Dreischritt gelingt es, den scheinbaren Widerspruch synthetisch aufzuheben. Die kirchliche, wie auch die gesellschaftliche, Wirklichkeit muss sich an den Schlussfolgerungen messen lassen und kann von ihnen profitieren.

I. Biblische Mythen von Macht und Freiheit

Am Anfang der mythischen, die Welt deutenden Erzählung im ersten Schöpfungsbericht der Bibel (Genesis 1,1-2,3) steht das Chaos, das gebändigt werden muss, um menschlichem Leben einen verlässlichen Rahmen zu bieten. Kunstvoll komponiert erkennt man, wie Lebensräume zunächst eröffnet und dann gefüllt werden, wie also „Irrsal und Wirrsal“ (Übersetzung von Buber/Rosenzweig) geordnet werden – Luther übersetzt das hebräische „tohu wa wohu“ mit „wüst und leer“ (Genesis 1,2) – damit das Leben gelingen kann. Die Dinge selbst sind zunächst lebensfeindlich. Dann aber ereignet sich Macht im Schöpfungshandeln Gottes, die dem Leben dient, ohne zu Unfreiheit zu führen. Der Kosmos folgt der klaren und ordnenden, aber Freiheit gewährenden Ansage Gottes: „Es werde Licht! – Und es ward Licht.“ (Genesis 1,3)

Gleiches gilt für das historische Ur-Datum der jüdischen Religion sowie seine literarische Deutung, die Exodus-Erzählung vom Auszug der Israeliten aus Ägypten (Exodus 1-15). Die Zerstörung Jerusalems als des kultischen Zentrums der JHWH-Religion und die Verbannung der Oberschicht im sogenannten Babylonischen Exil schließlich spiegelt sich in der Darstellung einer Versklavung der Israeliten in Ägypten. Die Macht scheint jeweils bei den Fremdherrschern zu liegen und ereignet sich final doch durch das kreative, schöpferische Handeln Gottes. Die historische Rückkehr der Israeliten und der Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels wird nicht nur berichtet, sondern auch mithilfe der Folie des Auszugs aus Ägypten gedeutet. Die entsprechenden Passagen finden sich v.a. in den Chronik-Büchern und bei den alttestamentlichen Propheten, dort insbesondere die Berichte über die Rückkehr und den Wiederaufbau des Tempels bei Esra und Nehemia.

In allen drei Fällen – Schöpfung, Exodus und Heimkehr aus dem Exil – dient die Macht, die sich ereignet und die auf die Gottheit hin gedeutet wird, der Befreiung und dem Leben in Freiheit und führt keineswegs zur Unfreiheit – auch wegen des letzten Aspekts, der für das Verhältnis von Macht und Freiheit relevant ist, und der als der offensichtlichste bereits kritisch benannt wurde: Ethische Normen in der Gestalt göttlicher Gebote. Nicht zufällig wird im Kanon der Mose-Bücher das dramaturgische Highlight der Verkündigung des göttlichen Willens für die Menschen, die Gabe der Zehn Gebote auf Steintafeln am Berg Sinai, auf dem Weg aus der ägyptischen Sklaverei hinein in die Freiheit im Gelobten Lande Kanaan erzählt (Exodus 20ff)! Stellvertretend für alle in den folgenden Kapiteln der fünf Mosebücher genannten Gebote sollen sie als verlässliche Grundlage eines Systems von Macht die Freiheit nicht beschränken, sondern gerade erst ermöglichen. Die vorfindliche Situation selbst ist es, die eine Gefährdung des Lebens darstellt. Die durch Gebote vermittelte Macht dagegen schützt dieses Leben.

Das spannendste Kapitel der Bibel ist in dieser Hinsicht Deuteronomium 22, wo einerseits weitsichtige Regelungen benannt werden, die dem Leben dienen („Wenn du ein neues Haus baust, so mache ein Geländer ringsum auf deinem Dache, damit du nicht Blutschuld auf dein Haus lädst, wenn jemand herabfällt.“ V. 8), andererseits auf den ersten Blick unverständliche Anweisungen („Du sollst nicht anziehen ein Kleid, das aus Wolle und Leinen zugleich gemacht ist.“ V. 11) und gleichzeitig drastische Fallbeispiele („Wenn jemand dabei ergriffen wird, dass er bei einer Frau schläft, die einen Ehemann hat, so sollen sie beide sterben“), freilich nicht ohne den Hinweis auf die stabilisierende Funktion des Vorgehens: „So sollst du das Böse aus Israel wegtun.“ (V. 22)

Es wird deutlich, dass auch die krudesten Formen von Geboten als Elemente der Macht auf Freiheit hin angelegt sind – selbst das genannte Verbot von Mischgewebe: Geschrieben in einer Diaspora- und Minderheitensituation ist es eine Chiffre für die Bewahrung der Identität des Volkes Israel und parallel zu lesen zur kritischen Haltung gegenüber Exogamie, d.h. Mischehen (etwa Numeri 12,1; 1. Könige 11,1-13; Josua 23,12-13). Dass es gerade an diesem Punkt auch gegenläufige Tendenzen in den über Jahrhunderte entstandenen biblischen Schriften gibt (so ist Josef mit einer Ägypterin verheiratet und Mose mit einer Midianiterin, ohne dass dies im Bibeltext kritisiert wird), unterstreicht lediglich: Die Gebote als Machtelemente sollen in einer jeweiligen Situation freiheitsdienlich sein und müssen dazu gegebenenfalls immer wieder angepasst werden.

II. Dialektischer Dreischritt

So, wie durch den Schutz der Gebote Leben geordnet und ermöglich werden soll, bietet auch der jüdische Kultus einen Schutzraum, innerhalb dessen Grenzen Freiheit herrscht. Der Verstoß gegen die Gebote als die Grenzen der Freiheit zieht einen Ausschluss aus der religiösen Gemeinschaft nach sich, wobei dem Selbstausschluss durch Übertretung die „Austreibung“ aus der Volksgemeinschaft korrespondiert. Die äußere Form dieses Selbstverständnisses ist der „Bund“, den auf literarischer Ebene Gott mit Abraham geschlossen hat (Genesis 15) und dem sich Menschen jüdischen Glaubens zu allen Zeiten verpflichtet wissen. Die Zirkumzision, also die Beschneidung männlicher Neugeborener und ihre Stellung im jüdischen Leben zeugt davon bis in die Gegenwart. Und wieder wird klar: Was als brutale Erfahrung eines ohnmächtigen Säuglings gedeutet werden kann, ist intendiert als Aufnahme in einen Schutzraum des Lebens, in dessen Grenzen Freiheit möglich ist.

Deutlich wird durch das Genannte ein logischer Dreischritt: Die Dinge selbst, die Situation selbst birgt die Gefährdung des Lebens, es ist gerade die Autonomie, die Selbst-Herrschaft, von der die Welt, von der ein Mensch befreit werden muss. Allerdings keineswegs, wie man vermuten könnte, durch Heteronomie, die Herrschaft eines anderen wie etwa eines Götzen, der den Menschen seine Gebote willkürlich oktroyiert. Die Inanspruchnahme des Menschen durch göttliche Gesetze und Gebote, die scheinbar in der biblischen Tradition und, verlängert, in der Geschichte der Kirche bis hinein in die Gegenwart vorzuliegen scheint: Sie ist, wenn sie als Unterdrückung gedeutet wird, ein Missverständnis. Vielmehr vereinigen sich religiöse und kulturtheoretische Sichtweise darin, dass die in Mythos, Kultus und Ethos gefundenen Formen göttlichen Ursprungs dem Leben in Freiheit dienen (selbst die sogenannten Zehn Gebote begründen sich selbst mit der Formel „…auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird“, Exodus 20,12b!).

So ergibt sich aus These (Autonomie) und Antithese (Heteronomie) die Theonomie als Synthese. Sie lässt sich aus zwei entgegengesetzten Richtungen betrachten, die ihre Anschlussfähigkeit für die Lebensgestaltung deutlich machen: Zum einen erscheint sie als von einer Gottheit vorgegebenes Machtsystem, das durch die Unterstellung, die Gottheit meine es gut mit den Menschen, akzeptiert werden kann. Zum anderen zeigt das probeweise Akzeptieren der angebotenen Normen, dass sie dem freiheitlichen Leben tatsächlich dienen, was es ermöglicht, sie zu verallgemeinern und als Machtsystem auf Gott hin zu deuten. Nicht umsonst beruht auch das durch Gesetze geregelte Miteinander in modernen Staaten in Grundzügen auf den biblischen Fundamenten. Von welcher Seite her man es auch betrachten mag: In der Theonomie treffen sich die Denkrichtungen und zeigen die Theonomie in Gestalt von anschlussfähigen Ge- und Verboten grundsätzlich als ein Machtsystem, das der individuellen und kollektiven Freiheit dient.

III. Theonomie und Wirklichkeit

Kann sich die Vorstellung der Theonomie gegenüber Autonomie und Heteronomie als attraktives Konzept beweisen? Für historische Gesellschaften lässt sich das exemplarisch zeigen. So ist während der Zeitenwende die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, die ihre äußere Gestalt in einem sichtbaren Bund gewinnt, existenziell gewesen. Auf dem Markt der Möglichkeiten gab es allerdings auch damals Bewegung. Die New Perspective on Paul konnte zeigen, dass es auch Paulus als dem sogenannten Apostel der Völker einerseits darum ging, die Frage nach Zugehörigkeit konsequent zu beantworten. Deshalb entwickelte er die Frage weiter, wie man als Mensch, der in den Bund hineingeboren wurde (dessen sachlicher Ausdruck die Beschneidung der männlichen Kinder am 7. Tag nach der Geburt ist), innerhalb der beschriebenen Grenzen der Gemeinschaft bleiben kann. Für ihn stellte sich darüber hinaus die Frage, wie man Teil der Gemeinschaft werden kann, ohne ihr schon immer angehört zu haben. Die Attraktivität der Theonomie konnte im Leben von Menschen und letztlich Völkern sichtbar werden.

Seine Rede von der Liebe Gottes ohne Ansehen der Person (Galater 3,28), die spätere Einsicht der Evangelien-Texte in die universelle Geltung der jesuanischen Botschaft („[Gott] lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“, Matthäus 5,45b) und die literarische Fiktion des Apostelkonzils (Apostelgeschichte 15), die die historische und zugleich sachlich erstaunliche Tatsache der über die Grenzen des Judentums hinausgehenden Heidenmission verarbeitet, verleihen der Öffnung der religiösen Gemeinschaft und der Anziehung neuer Mitglieder Ausdruck. Die Theonomie beweist hier auch historisch ihre hohe Attraktivität. Aber spiegelt sie sich als Verhältnis von Macht und Freiheit auch mit ihrer lebensdienlichen Wirklichkeit in der kirchlichen und gesellschaftlichen Gegenwart?

Zwei Schlaglichter aus den großen Kirchen in Deutschland erwecken einen anderen Eindruck. Der sogenannte Synodale Weg in der römisch-katholischen Kirche in Deutschland vermochte es nicht, sich im September auf eine Öffnung in Fragen der Sexualmoral zu einigen. Betroffene Menschen zeigten ihr Entsetzen offen und fühlen sich in ihrer Lebensweise durch die kirchliche Instanz weiter existenziell eingeschränkt. Die Ermöglichung von Freiheit und Leben sieht anders aus.

Auch auf Seiten der evangelischen Kirchen gibt es dramatische Entwicklungen, existenziell ist auch hier die Frage von Zugehörigkeit nicht mehr für den Einzelnen, sondern für die Institution. Aus diesem Grund sollen in der hessen-nassauischen Kirche EKHN (wie in anderen evangelischen Landeskirchen) Nachbarschaftsräume gebildet werden, in denen mehrere Gemeinden verbindliche Kooperationen eingehen. Noch ehe der legislative Prozess abgeschlossen ist, sollen Haupt- und Ehrenamtliche Entscheidungen treffen ohne zu wissen, was möglich ist und verbindlich möglich bleibt.

Beide Zusammenhänge sind von Abwehr gekennzeichnet, anstatt durch klare und anschlussfähige Grenzmarkierungen Freiheitsräume zu eröffnen, in denen das Leben aufblühen kann. Es verwundert deshalb nicht, dass die Macht der Kirchen nach innen und nach außen schwindet und Attraktivität verloren geht. Nicht anders aber erscheint das Bild in gesellschaftlicher Hinsicht. Wie gehen wir beispielsweise mit der Corona-Pandemie im dritten Jahr um? Viele Handlungsalternativen sind möglich und begründbar. Notwendig ist aber am Ende der fachlichen Diskussion eine klare und verbindliche politische Markierung von anschlussfähigen Grenzen, innerhalb derer Freiheit ermöglicht und bewahrt wird und das Leben geschützt.

Das allzu häufige Verschieben der Grenzen gebiert Unsicherheit über den Möglichkeitsraum. Die mangelnde Nachvollziehbarkeit grundlegender Grenzsetzungen provoziert deren Übertretung. Die allzu kleinteilige Durchregelung des Lebens ohne das große Ganze zu benennen vereitelt das Wagnis, das Gebotene probeweise zu akzeptieren. Wo die Vermutung verloren geht, dass die gebietende Instanz es gut meint mit denen, auf die sich die Gebote als Machtsystem erstrecken, geht zusammen mit der Freiheit auch die Macht selbst verloren, weil sie aufhört sich zu ereignen, wo ihren Weisungen niemand mehr folgt. Autonomes und heteronomes Wirken stehen einander unversöhnlich gegenüber.

Zur Versöhnung der beiden wäre im Sinne der Theonomie ein gesellschaftlich wie kirchenpolitisches Handeln geboten, das die Lebensdienlichkeit der definierten, ausreichend groben und wenig volatilen Grenzen sichtbar und nachvollziehbar macht. Eine situative Anpassung innerhalb der Grenzmarkierungen ist dann trotzdem möglich. Vor allem aber würde so, und nur so, infrage gestellte Macht wieder etabliert, weil Menschen sich dem als attraktiv erlebten Konzept von sich aus – in Freiheit – unterstellen.

Es zeigt sich, dass beides nur einhergehen kann. Wo Macht und Freiheit einander widersprechen, ist das Leben bedroht, in Kirche und Gesellschaft. Politik macht Freiheit? Das ist die zwingende Aufgabe und Herausforderung. Sie wurde und wird in Tradition und Gegenwart unterschiedlich schlecht erfüllt, aber sie ist als Anfrage an das Handeln der Mächtigen lösbar, wie nicht zuletzt der Blick in die biblischen Schriften zeigt. Sollte es der Gottheit und den von ihr berichtenden heiligen Schriften als absoluten Instanzen möglich sein, Macht freiheitsdienlich zu entfalten – wie viel mehr muss es zu den Möglichkeiten menschlichen Handelns gehören, Macht und Freiheit miteinander zu verbinden? Umgekehrt wird deutlich, was geschieht, wenn Macht nicht theonom gedacht wird. Es führt zu dem, was sich revers auch aus dem biblischen Zeugnis des göttlichen Handelns in der Überwindung des Babylonischen Exils, im Exodus aus Ägypten und in der Schöpfung selbst ergibt: Unfreiheit – und Chaos.

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