Die zwei Rätsel der Demokratie
Was meinen wir eigentlich, wenn wir Demokratie sagen? Christian Blum skizziert zwei Rätsel und eine mögliche Antwort.
In der Rangliste jener Begriffe, die durch die politische Rhetorik zur Unkenntlichkeit verschliffen worden sind, nimmt „Demokratie“ einen unrühmlichen Spitzenplatz ein. Der Guardian etwa sieht durch die aktuelle Verwaltungsreform der US-Regierung die Demokratie in Gefahr – und meint den Rechtsstaat. Die SPD zeigt sich stolz darüber, dass ihre Mitglieder demokratisch über den Eintritt in die Regierungskoalition abgestimmt haben – und meint numerisch gleichberechtigt. Und ein NRW-Schulprojekt will „Diamanten der Demokratie“ fördern – und meint den kulturellen Pluralismus.
Wer sich in der Nachbarschaftshilfe engagiert oder gegen Rechts demonstriert, leistet einen Dienst für die Demokratie, dasselbe gilt fürs Mülltrennen, fürs Ehrenamt oder den Journalismus. Man fragt sich, was eigentlich nicht in den semantischen Dunstkreis der Demokratie gehört. Je allgegenwärtiger ein Begriff, desto diffuser wird er. Demokratie ist für uns – für das politisch-intellektuelle Milieu der Spätmoderne – ein abstraktes Amalgamat aus Parteienwettbewerb, politischer Repräsentation, Interessenvermittlung zwischen Unternehmen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Vielfalt, Rechtsstaatlichkeit und vielem mehr. Die Frage ist nur, welches Recht wir haben, dieses Amalgamat Demokratie zu nennen.
Der Begriff der Demokratie ist viel rätselhafter, viel dunkler, als es unsere unbekümmerte Begriffsverwendung ahnen lässt. Das deutsche Lehnwort „Demokratie“ leitet sich aus den altgriechischen Wörtern „demos“ und „kratein“ ab. Ersteres übersetzen wir gemeinhin mit „Volk“ (was, wie wir sehen werden, nicht ohne Tücken ist), letzteres mit „herrschen“. So wird aus Demokratie „Volksherrschaft“ oder, was für unsere Erkundungen hilfreicher, weil klarer ist, „Herrschaft des Volkes“. Es lohnt sich, diese Begriffsbestandteile noch etwas eingehender aufzuschlüsseln. Unter „Volk“ versteht man landläufig die Gesamtheit der Bürger innerhalb eines staatlichen Territoriums. „Herrschaft“ ist wiederum eine ungleiche Machtbeziehung zwischen mindestens zwei Akteuren; der eine herrscht über den anderen, wenn er ihn regelmäßig zu etwas zwingen kann, ohne dass jener andere dem etwas entgegenzusetzen hätte.
Hier tut sich jedoch ein Paradox auf, das wir das erste Rätsel der Demokratie nennen können, nämlich: Über wen herrscht das Volk? Bei Monarchien oder Oligarchien ist die Sache klar. Einer herrscht über alle anderen bzw. einige wenige herrschen über den ganzen Rest. Aber bei Demokratien geht die Sache nicht auf. Wenn das Volk bereits die Gesamtheit aller Bürger ist, dann gibt es schlichtweg keinen, zu dem es in einer asymmetrischen Machtbeziehung stehen könnte. Es existiert kein Außen, kein anderes, das als Bezugspunkt in Frage käme. Aber genau einen solchen Bezugspunkt brauchen wir – rein begrifflich betrachtet –, um uns aus dem Wortbestandteil des Herrschens einen Reim zu machen. Ein Volk, das herrscht, ohne gleichsam – und zwar per definitionem – zu irgendeinem anderen in Bezug stehen zu können (denn „Volk“, das sind wir doch alle), ist ein Ding der Unmöglichkeit. Nicht weil es in der Natur nicht vorkommt, sondern weil seine schiere Existenz aufgrund der logischen Unvereinbarkeit seiner Begriffsbestandteile ausgeschlossen ist.
Die Alten freilich, und dies sind jene Griechen, die das Wort vor weit über zweitausend Jahren geprägt haben, hatten keine solchen Probleme. Wie die Philologin und Politologin Daniela Cammack nachzeichnet, meinte „demos“ bei den Griechen eben nicht die Gesamtheit der Mitglieder eines Staates, sondern die politische Zusammenkunft der einfachen Bürger, die sich bewusst vom Adel abgrenzten; Demokratien waren in der Antike solche Gemeinwesen, in denen der Pöbel im Ringen um innenpolitische Vorherrschaft über die Elite obsiegt hat.
Diese Zweiteilung bietet uns aber keine Lösung für das erste Rätsel der Demokratie. Der griechische demos-Begriff ist für unser Verständnis von „Volk“ nicht anschlussfähig. Zudem würde eine Herrschaft des einfachen Volkes über die Elite sicher nicht viel Ähnlichkeit mit jenem diffusen, aber liebgewonnenen Amalgamat haben, das ich oben in knappen Strichen umrissen habe.
Gibt es eine andere Lösung für das Rätsel? Ja, die gibt es, zumindest dann, wenn wir uns begriffsgeschichtlich bei Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant bedienen. Das Schlüsselwort lautet „Selbstbeherrschung“; die Demokratie ist jene Staatsform, in der das Volk sich selbst beherrscht.
Für Rousseau und Kant lautete eine, wenn nicht die wichtigste praktische Frage, wie Freiheit zu denken sei. Freiheit könne nicht in der bloßen Abwesenheit äußerer Zwänge bestehen, denn der unmündige, unaufgeklärte oder von seinen Impulsen blind wie ein Spielball Hin- und Hergetriebene wäre auch dann nicht Herr seiner selbst; so wenig wie der Alkoholiker frei ist, dem keiner den Zugang zur Kneipe verwehrt.
Stattdessen bestehe Freiheit darin, sich von den eigenen Trieben, Wünschen, Vorurteilen und so fort zu emanzipieren, nicht indem man sie negiert, sondern indem man das eigene Handeln unter selbstgegebene Handlungsnormen stelle. Kurzum: Erst wenn ich mir selbst allgemeine Regeln, mithin Gesetze, vorschreibe und diese dann auch befolge, bin ich frei. Der einzelne Mensch zerfällt demzufolge in zwei Pole: ein Pol, der über das Sinnvolle, Gute, Wahre, Schöne reflektiert und auf Grundlage dieser Einsicht Handlungsmaximen aufstellt – und ein Pol, der der Adressat jener Maximen ist und sie, wohl oder wehe, zu befolgen hat. Diese begrifflich und psychologisch anspruchsvolle Zweiteilung des Menschen in Subjekt und Objekt, alter und ego, Gesetzgeber und Befehlsempfänger in Personalunion ist Grundlage und Voraussetzung des aufklärerischen Freiheitsbegriffs. Der Philosoph Isaiah Berlin hat ihn, durchaus kritisch, positive Freiheit getauft.
Diese Zweiteilung können wir uns zur Lösung des ersten Rätsels der Demokratie zunutze machen: In der Volksherrschaft unterwirft das Volk sich selbst, indem es nach rationaler Reflexion allgemeine Handlungsregeln definiert – und sich dann an sie hält. Es steht insofern in einer asymmetrischen Beziehung zu sich selbst, als es die schiere Anarchie, also die regellose Existenz, durch gemeinschaftlich autorisierte Gesetze ersetzt. Es ist unter der Hinsicht der Gesetzgebung in einer Position der Macht – unter der Hinsicht der Gesetzestreue in einer Position der Ohnmacht. Die Asymmetrie der Herrschaft kommt zum Tragen, indem wir das Volk als Subjekt begreifen, das sich in der Selbstgesetzgebung zum Objekt macht, sich mithin sich selbst unterwirft.
So weit so gut.
Aber an die Lösung dieses ersten Rätsels schließt sich ein zweites Rätsel an, das ungleich schwieriger und dunkler ist: Wie beherrscht sich das Volk selbst? Wir haben festgehalten, es tue dies über Gesetze oder zumindest allgemeine Handlungsnormen. Aber damit steht noch aus, wie diese autorisiert werden sollen.
Es liegt nahe, an das Mehrheitsprinzip zu denken; wir tendieren in der Alltagssprache ohnehin dazu, dieses geradezu äquivalent mit „demokratisch“ zu gebrauchen. Wenn wir dies zugrunde legen, dann beherrscht das Volk sich selbst, indem es nach einfachem Mehrheitsprinzip über allgemeine Regeln abstimmt.
Lassen wir einmal außer Acht, dass dieses Prozedere – wiewohl nach vortheoretischem Begriffsverständnis geradezu idealtypisch demokratisch – in kaum einem Land der Spätmoderne, mit begrenzter Ausnahme der Schweiz, praktiziert wird; die so genannte repräsentative, sprich, über Parlamente vermittelte Demokratie ist das Standardmodell unserer Zeit. Dessen unbesehen ist selbst jene direkte Form majoritärer Abstimmung kein Fall von Selbstbeherrschung – und zwar aus einem einfachen Grund: Bei einer Mehrheitsabstimmung gibt es stets Gewinner und Verlierer, und wenn erstere die kollektiv verbindliche Norm autorisieren, so herrschen sie offenkundig über letztere.
Kurzum: Wenn Demokratie die Selbstbeherrschung der Mitglieder des demos bezeichnet und Selbstbeherrschung darin zum Ausdruck kommt, dass ein jeder (bzw. die Gesamtheit der Bürger) denjenigen Regeln folgt, die er als vernünftig eingesehen bzw. erkannt hat und entsprechend befolgen will – dann beherrscht in der Mehrheitsentscheidung klarerweise die Mehrheit die Minderheit. Denn letztere hat die von der Mehrheit favorisierte Option ja nicht als richtig eingesehen bzw. erkannt und entsprechend auch nicht gewollt.
Es bleibt das Problem, dass demokratische Selbstbeherrschung mit dem Mehrheitsprinzip unvereinbar scheint. Die einzig plausible Option ist, auf den ersten Blick, die der Einstimmigkeit: Wenn tatsächlich alle Mitglieder eine bestimmte Norm ohne Ausnahme anerkennen und entsprechend autorisieren, dann sind sie in der Befolgung derselben frei, sprich, demokratisch selbstbestimmt. Allein, Einstimmigkeit ist in den allermeisten Fällen illusorisch; zu groß sind ideologische, interessengeleitete, persönliche und sonstige Disparitäten. Selbst Anhänger des Konsensus als theoretisches Konstrukt wie Jürgen Habermas haben das Prinzip der Einstimmigkeit in der politischen Praxis längst ad acta gelegt.
Wenn das Mehrheitsprinzip keine Selbstbeherrschung des Volkes garantiert, weil es de facto eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit bedeutet, und die Einstimmigkeit faktisch nicht einlösbar ist, wird der Begriff der Demokratie ins Reich des Unerreichbaren entrückt.
An dieser Stelle schütteln Politikwissenschaftler meist milde lächelnd den Kopf; man habe das mit der Demokratie falsch verstanden und das Prinzip zeitlicher Ausdehnung außer Acht gelassen. Faktisch vollziehe sich die Herrschaft des Volkes natürlich darin, dass mal eine gesellschaftliche Mehrheit die allgemeinverbindlichen Regeln autorisiere und mal eine andere. Auf diese Weise, also durch das Abwechseln der Rolle des „Herrschers“, vollziehe sich Demokratie.
Ich halte diese Lösungsstrategie für menschlich nachvollziehbar, weil sie es uns – scheinbar – erlaubt, zugleich an einem liebgewonnenen Begriff und einer vertrauten Form des politischen Systems festzuhalten. Aber trotzdem ist sie falsch. Zunächst einmal lohnt es sich, festzuhalten, dass die „Übersetzung“ von Demokratie in eine zeitlich ausgedehnte Herrschaftsteilung zwischen Mehrheit und Minderheit einfach nicht logisch folgt; wir mögen letzteres „Demokratie“ nennen wollen, aber es ist schlichtweg nicht begrifflich zwingend, dass aus dem Begriff der gemeinschaftlichen Selbstbeherrschung ein Regime der abwechselnden Machtteilung zwischen Mehrheit und Minderheit folgt. Beides sind, kurz gesagt, zwei verschiedene Paar Schuhe. Und damit haben wir zudem völlig außer Acht gelassen, dass es strukturelle Minderheiten gibt, also Personengruppen, die aufgrund ethnischer, religiöser oder identitärer Merkmale keine Aussicht haben, jemals zur gesellschaftlichen Mehrheit zu zählen.
Diese Denkrichtung führt also in eine Sackgasse. Es lohnt sich, das zweite Rätsel der Demokratie aus einer anderen Perspektive anzugehen. Wir haben das erste Rätsel der Demokratie gelöst, indem wir „kratein“, also Herrschaft neu gedacht haben: als Selbstbeherrschung des Volkes. Nun können wir das zweite Rätsel der Demokratie lösen, indem wir „demos“ neu denken oder besser alt denken: als Volk, nicht als Bevölkerung.
Wir haben es uns angewöhnt, „Volk“ als Sammelbegriff der Summe der mündigen, mit staatsbürgerlichen Rechten versehenen Personen innerhalb eines Territoriums zu verstehen; und ich selbst habe diese Begriffsverwendung zu Beginn ins Spiel gebracht. Von der Antike bis in die Neuzeit, ja, bis zur Zeit von Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau, war dies aber keinesfalls das gängige Begriffsverständnis. Diese sahen ein Volk vielmehr als eine geschichtlich-soziale Wesenheit, die sich zwar aus individuellen Menschen zusammensetzt, aber weder darauf reduzierbar ist noch mit diesem zusammenfällt. So wenig wie das deutsche Volk aufhört zu existieren, wenn sich seine Zusammensetzung ändert – also manche Mitglieder sterben und andere neu geboren werden –, so wenig erlischt seine historische Verantwortung, etwa für die Würde des Menschen, mit dem Tode der Tätergeneration des Nationalsozialismus. Das Volk bleibt über die Generationen hinweg als Substrat historischer Entwicklungs- und Lernprozesse sowie moralischer und völkerrechtlicher Verbindlichkeit erhalten; ihm diese Form eigenständiger Existenz abzusprechen, hieße zugleich einen wesentlichen Teil unseres alltäglichen Redens über Geschichte und Politik zu negieren. Nebenbei erwähnt knüpft dieses Denken an eine ansonsten gängige Praxis der Zuschreibung kollektiver Wesenheit an: Wir sprechen davon, dass die deutsche Nationalelf einen Sieg davongetragen hat und nicht eine Summe von Spielern; und wir würden vermutlich zustimmen, dass auch der VW-Konzern als Ganzes (sprich, als Organisation mit einer bestimmten Kultur, Werten und Rollen) für den Dieselskandal verantwortlich zeichnete und nicht nur ein paar Manager. Aber zurück zum Thema.
Dieses Verständnis von Volk als einer eigenständigen Wesenheit (für das ich an anderer Stelle, hier, hier und hier argumentiert habe) eröffnet eine neue Perspektive auf das zweite Rätsel der Demokratie, in dem es sowohl Subjekt als auch Objekt der Herrschaftsbeziehung in der Demokratie ändert: Wenn es nämlich das Volk und nicht die Bevölkerung ist, die sich selbst beherrscht, also nicht die uneinige Summe der einzelnen Bürger, sondern die geschichtlich-soziale Wesenheit als Gesamtheit, dann spielt der Dissens einzelner Personen für die Verwirklichung der Volksherrschaft zunächst einmal keine Rolle. Entscheidend ist allein, dass das Volk im Singular sich selbst beherrscht, sich selbst also vernünftig reflektierte Regeln gibt und diese einhält. Die Logik individueller Selbstbeherrschung wird auf die Kollektivebene transponiert.
Aber wie ist das zu denken? Ein erster politikwissenschaftlicher Reflex ist, diese Denkfigur als Bindeglied einzusetzen, um den status quo unserer politischen Systeme argumentativ abzusichern. Demnach verwirklicht sich die Selbstbeherrschung des Volkes im Singular durch eine Familie von Systemen, die, je nach politischer Kultur und Präferenz, im unterschiedlichen Maße die Ausübung von Herrschaft an Mechanismen majoritärer Autorisierung (sprich, Wahlen) und/oder majoritärer Abstimmung über politische Sachfragen rückkoppeln.
Allein schon aus Gewohnheit stellt sich eine gewisse Sympathie für diese Lösung ein, weil sie weder revisionär noch revolutionär ist. Doch sie verschenkt das kritische Potenzial des Demokratie-Begriffs. Zu offenkundig ist diese Systemfamilie mit Herrschaftsformen vereinbar, in denen sich kleine und hermetische Eliten bei der Ausübung von Ämtern die Klinke in die Hand geben; und der Nationalökonom Joseph Schumpeter war der Überzeugung, dass wir mehr von Demokratie auch nicht erwarten können. Aber mir scheint das Gegenteil der Fall: Wir können und müssen mehr von der Demokratie verlangen. Der Schlüssel liegt darin, die Transponierung individueller Selbstbeherrschung auf die Kollektivebene ernst zu nehmen, indem wir uns fragen: Was macht eine selbstbeherrschte Person – in Hinblick auf Fähigkeiten, Tugenden, Praktiken, Werte etc. – aus, und inwieweit kann ein Volk als Kollektivperson diese bzw. äquivalente Eigenschaften verkörpern?
Hier ist nicht der Ort für eine umfassend ausgearbeitete Liste, wohl aber für einen Denkanstoß. Ein Volk im Singular beherrscht sich genau dann selbst, wenn es die Lokalisierung von Macht in den Händen einer kleinen Elite ebenso wenig duldet wie ihr Hin- und Herschieben von einem Lager ins andere; wenn es sich als politische Gesamtheit nicht von Propaganda oder spalterischen Narrativen in die Irre führen lässt; wenn es das Gemeinwohl nicht mit der Summe von bloßen Individualwohlen verwechselt; wenn es sich nicht in unbotmäßige Abhängigkeiten von anderen Gemeinwesen begibt; wenn es durch seine anerkannten, geschriebenen und ungeschriebenen, Normen politischer Willensbildung und Diskursführung sichert, dass gute Argumente Gehör finden, egal wer sie vorbringt, und sich über die Zeit hinweg und seiner Identität treu bleibt, ohne gleichsam in seinem Selbstverhältnis zu verknöchern.
Kurzum, ein demokratisches, sprich selbstbeherrschtes Volk, würde auf der Kollektivebene jene Merkmale charakterlicher Reife, Vernünftigkeit, langfristiger Planungsfähigkeit und ethischer Integrität verkörpern, die wir auf die Individualebene einem selbstbeherrschten Menschen zusprächen. Es mag sein, dass die Systemfamilie, die wir demokratisch zu nennen uns angewöhnt haben, den besten Weg zu diesem Ideal – denn ein Ideal ist dieses ohne Frage – aufzeigt. Aber das ist weder empirisch ausgemacht noch begrifflich notwendig.
Die zentrale Einsicht aus diesem konsequenten Durchdenken des Demokratiebegriffs ist also, dass „Demokratie“ nicht sinnvollerweise eine politisch-institutionelle Ordnungsstruktur bzw. eine entsprechende Verfassung bezeichnen kann, sondern vielmehr den kulturellen Reifegrad eines Volkes auf dem Wege der Selbstbeherrschung.
Was bedeutet dies nun für die eingangs erwähnten Beispiele einer unbekümmerten Verwendung des Demokratiebegriffs im alltagssprachlichen Diskurs, so etwa in Hinblick auf einen funktionierenden Rechtsstaat, partizipative Entscheidungsfindung von Parteien oder die schulische Bildung im Geiste des Pluralismus? Alle diese Phänomene können wir als Symptome (und vielleicht auch als kontingente Ermöglichungsbedingungen) von Demokratie einordnen, insoweit ein selbstbeherrschtes Volk – also eines, das sich beispielsweise weder dauerhaft von einer Elite unreflektiert dominieren noch von Propagandisten verführen lässt –, Rechtsstaatlichkeit vermutlich ebenso favorisieren wird wie eine pluralistische Schulausbildung. Aber, und dieser Punkt ist entscheidend, sie bilden nicht den integralen Bedeutungskern von Demokratie selbst.
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