Zum Hauptinhalt

Demokratie im Modus des Fakes? Politische Kommunikation und Rhetorik im klassischen Athen

Veröffentlicht am
Autor
Christopher Degelmann

Dieser Essay ist Teil des Publikationszyklus Propaganda.

Schlagwort
Demokratie

Christopher Degelmann zeigt, wie schon im klassischen Athen Rhetorik zur Machttechnik wurde – und was wir von antiker politischer Kommunikation über die Gegenwart im Modus des Beharrens, Abstreitens und Verdrehens lernen können.

In den letzten zehn Jahren ist in den westlichen Industrienationen ein Politikstil salonfähig geworden, der vermeintliche Gewissheiten nicht nur herausfordert, sondern gänzlich in Frage stellt. Dabei werden ursprünglich als Fakten und unhintergehbare Wahrheiten gekennzeichnete Wissensbestände durch eine populistisch grundierte Rhetorik desavouiert. Vertreter wie Vertreterinnen kommunizieren dazu eine jener politischen Haltung eigene Perspektive, die nicht selten in etwa dem Gegenteil ebenso bewährter wie gefestigter Denkmuster entspricht. Dieser Horizont ist allerdings selten innovativ-progressiv, sondern meist hochgradig reaktionär, hinterfragt er doch nicht nur vertraute Machtstrukturen, sondern vor allem fundamentale Errungenschaften der westlichen Demokratien wie beispielsweise Menschenrechte, Gleichstellung oder Gewaltenteilung. Paradox mutet an, dass diese überholten Weltanschauungen in einer neuen Form der politischen Kommunikation über uns zu kommen scheinen.

Ein Blick in die Geschichte jedoch erlaubt es, jene Populisten als Wiedergänger zu entlarven. Der Begriff der „Propaganda“ wird dabei zugunsten von „politischer Kommunikation“ vermieden, da er eine antike Provenienz suggeriert, die tatsächlich nicht gegeben ist. Vielmehr entstammt er der jesuitischen Gegenreformation des 17. Jahrhundert; freilich heißt das nicht, das Phänomen sei nicht bereits im griechisch-römischen Altertum aufgetreten. Ein Beispiel dieser Strategien lässt sich schon in der weltweit ersten Volksherrschaft finden, die sich wesentlich von ihren modernen Schwestern westlicher Prägung unterschied, und eher mit den Vorstellungen einer illiberalen Demokratie harmoniert. So gab es weder Frauenwahlrecht und Minderheitenschutz noch eine unabhängige Justiz und politische Repräsentanz im heutigen Sinne.

Ab dem frühen 5. Jahrhundert v. Chr. begann sich in Attika eine politische Ordnung auszuformen, die die Geschicke des Globus bis heute beeinflusst. Denn die Bürger jenes antiken Gemeinwesens meinten, dass die politische Verantwortung auf allen Schultern ihrer Mitglieder – nur persönlich freien, mündigen Söhnen eines Atheners mit einer Athenerin – gleich schwer verteilt sein solle. Für die traditionell aristokratische Oberschicht, die an ihre zahlreichen politischen, juristischen und sozio-ökonomischen Privilegien gewöhnt war, gestaltete sich dieser Vorgang als etwas Unerhörtes, doch viele Angehörige dieser alteingesessenen Elite arrangierten sich rasch mit der Demokratie und versuchten zu ihren Repräsentanten gewählt zu werden. Dazu traten sie regelmäßig als Redner in der Volksversammlung auf und versuchten den Demos von der Richtigkeit ihrer jeweiligen Position zu überzeugen. Um dieses Ziel zu erreichen, war eine gehörige Portion oratorischer Kompetenz von Nöten, die sie im Rahmen ihrer Sozialisation und vor allem durch neuartige Rhetoriklehrer erwarben.

Die Kunst der Überredung in der attischen Demokratie

Schon ab der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zog es immer mehr Gelehrte wie Protagoras oder Gorgias in das kulturell und wirtschaftlich florierende Athen. Mit brachten sie eine große Bandbreite von Expertenwissen. Dazu zählte zumal die Kunst der Überzeugung, die zusehends in den Fokus zeitgenössischer Kontroversen geriet, da man befürchtete, sogenannte Sophisten lehrten die Jugend, „das schlechtere zum besseren Argument“ zu wenden und somit die Wahrheit zu verwässern. Durch verschiedene Polemiken verkam sophistes zum evaluativen Kampf- und Sammelbegriff, der allerlei unliebsame Lehren zu diskreditieren trachtete, weil auch traditionelle Wahrheitsinstanzen wie konkurrierende Philosophenschulen oder die Religion sich durch den Zuzug von Denkern ganz neuen Schlages unter Druck gesetzt fühlten; zu dem Arsenal an Beschuldigungen zählte folglich neben der Verführung der Jugend auch der Vorwurf, die alten Götter zu beleidigen. Besonders Sokrates, der gar nicht zum (engeren) Kreis der Sophisten gehörte, traf diese Unterstellung hart, sodass er 399 v. Chr. in einen sog. Asebie-Prozess wegen mangelnder Frömmigkeit verwickelt und in den Suizid getrieben wurde.

Es herrschte also damals schon eine vage Vorstellung davon, dass eine objektivierbare Wahrheit existiere, und nicht rednerisch zurechtgebogen werden dürfe, sodass etwa Zweifel am verbindlichen Pantheon strafrechtliche Konsequenzen zeitigte. Allerdings muss diese Kritik ihrerseits als ausgeklügelte Rhetorik gelten. In der Tat bezweifelten einige Gelehrte den Anspruch, es gäbe eine unhintergehbare Wirklichkeit der Dinge, und dürfen vielleicht als Vorläufer des Konstruktivismus gelten. Jedoch sorgten sich vor allem alteingesessene Eliten um ihre sozio-politischen Vorrechte, wenn man oratorische Kenntnis nun auch durch bezahlten Unterricht und nicht allein qua distinkter Erziehung erwerben konnte. Das hinderte einflussreiche Angehörige der Oberschicht wie Alkibiades oder Kallikles nicht daran, sich dieses neuen Wissens zu bedienen (und ebenfalls geschmäht zu werden). Und es galt nicht minder für den bis heute prominentesten Akteur der athenischen Demokratie.

Zur Komplexität des politischen Disputs

In dieser politischen Kultur bewegte sich nämlich auch der große Staatsmann Perikles (ca. 490–429 v. Chr.), über den der kaiserzeitliche Biograph Plutarch (45–125 n. Chr.) etwa fünf Jahrhunderte später eine Episode bietet, die heute weithin bekannte Dynamiken der politischen Kommunikation enthält:

Über Periklesʼ Redegewalt erinnert man ein fieses Gerücht (lógos eìs tḕn deinótēta), das Thukydides, der Sohn des Melesias, erzählte. Thukydides gehörte nämlich zur Partei der Aristokraten und war ein ausgesprochener Gegner der perikleischen Politik. Eines Tages fragte ihn der Spartanerkönig Archidamos, wer der bessere Ringer sei, er oder Perikles. Da gab er zur Antwort: „Wenn ich ihn im Ringkampf zu Boden werfe, streitet er ab, gefallen zu sein, und zwar so lange, bis selbst jene ihm glauben, die ihn mit eigenen Augen haben fallen sehen.“ (Plutarch, Leben des Perikles 8,3–4; mod. Übers. K. Ziegler)

Gefallenenrede des Perikles, Phillipp von Foltz
Philipp von Foltz, „Gefallenenrede des Perikles“

Demnach beklagt Thukydides – nicht zu verwechseln mit dem berühmten Historiker –, Perikles sei derart redegewandt, dass er, Thukydides selbst, sagen könne, was er wolle, sein politischer Gegenspieler manövriere ihn doch aufgrund seiner rhetorischen Finesse und – nicht zu vergessen – auch wegen seiner Beharrlichkeit immer wieder aus.

Ein solcher Befund dürfte gegenwärtigen Beobachtern und Beobachterinnen des politischen Tagesgeschäfts nicht fremd erscheinen. Doch im Unterschied zum klassischen Athen stößt man dabei nur gelegentlich auf eine raffinierte Rhetorik – etwa die Rede von „alternativen Fakten“. Vielmehr spielen Szenen des Abstreitens, Beharrens und Bagatellisierens bei gleichzeitiger Eindeutigkeit von Fehlverhalten eine größere Rolle als im Fall des Perikles. Allerdings sind diese rhetorischen Mittel nicht zu unterschätzen. Eine Nuance dieser Strategie findet sich im whataboutism, bei dem man versucht, Monita und Defizite durch den Verweis auf andere Missstände zu relativieren – etwa wenn die Kritik an der immer weiter zunehmenden Gewalt der extremistischen Rechte gegen andersdenkende und/oder andersaussehende Menschen durch den Vergleich mit der Zerstörung von Pkws bei linken Protesten relativiert wird.

Umgekehrt kann aber der Einwand, dass jemand whataboutism betreibe, ebenso ein oratorischer Kniff sein, wie man gerade in unserem Beispiel gut beobachten kann: Ist denn das von Thukydides angebrachte Argument nicht ebenso unwiderstehlich wie die rhetorische Beschlagenheit und Entschlossenheit des Perikles? Der Sohn des Melesias zieht sich darauf zurück, dass sein Gegner gar nicht argumentativ zu bezwingen sei. Damit kappt er jeden Ansatz des politischen Austauschs. Er begibt sich in eine Opferrolle der eigentlich, „unter normalen Umständen“ siegreichen Partei – und das gilt natürlich auch moralisch, da der Ringkampf letztlich nur ein Sinnbild für die persönliche Integrität der Akteure darstellt.

Eine Perspektivumkehr

So betrachtet stellt sich die Frage, wer hier eigentlich der begabtere und vielleicht auch gefährlichere Redner war noch einmal ganz neu: Perikles oder vielleicht doch Thukydides? Von letzterem wissen wir jedenfalls, dass er der traditionellen Elite zuneigte und deren Interessen in der politischen Debatte gegen die Ausweitung politischer Privilegien auf alle Bürger Athens vertreten haben dürfte. Dadurch steht zu vermuten, dass er an einem Wettstreit der besseren Argumente gar nicht interessiert gewesen sein könnte, sondern eher Politik mit Positionen betrieb.

Für einfache Bürger aus dem Volk hingegen barg die Ausweitung rhetorischer Kompetenzen die Möglichkeit, sich direkt in den politischen Diskurs einzubringen, häufiger das Wort zu ergreifen und nicht nur per Handzeichen an der Demokratie zu partizipieren. Wissen um rednerische Fähigkeiten verdichtete die politische Kommunikation, indem immer mehr Athener in den politischen Dialog traten, und bedeutete zugleich einen Zugewinn an Kontrolle der Elite durch den Demos, um oligarchischen Bestrebungen Einhalt zu gebieten. Dadurch wurde die Volksherrschaft nicht nur gestärkt, sondern zu dem, was sie in ihrer eigentlichen Blüte während des 4. Jahrhunderts v. Chr. ausmachen sollte, als der Einfluss der vormals bestimmenden Oberschicht weitgehend zurückgedrängt blieb. Jene Zeit ist dann auch deutlich besser überliefert, sodass man weniger auf einen chronologisch deutlich später schreibenden Autoren wie Plutarch angewiesen ist, der die oben zitierte Begebenheit einen lógos – hier eigentlich nur ein „Gerede“ – nennt. Auch damit ist etwas über die politische Kultur des klassischen Athens gesagt, denn politische Kommunikation fand in Ermangelung moderner Massenmedien unweigerlich im Modus des Hörensagens statt, was der Verleumdung politischer Rivalen Tür und Tor öffnete. Allerdings oblag es den Bürgern Athens darüber zu richten, wer sich wann und wo welchen Fehlverhaltens schuldig gemacht hatte. Daher entwickelten sie ein ausgesprochen feines Gespür für die Einordung übler Nachrede und die Prüfung von Gerüchten, die man den heutigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ebenfalls gern abverlangen würde.

Schlagwort
Demokratie

Dieser Essay ist Teil des Publikationszyklus Propaganda.

Kontakt

Wollen Sie mit uns in Kontakt treten?

Weitere Information zu uns und wie Sie Ihren Beitrag bei FMP veröffentlichen können, finden Sie hier.