Warum politische Prozessführung die Demokratie nicht bedroht – eine Replik auf Rasmus Wittekind
Politische Prozessführung bedroht die Demokratie nicht, sondern sie gehört dazu. Eine Replik von Philipp Gebhardt.
In seinem Artikel „Debatte statt Urteil“ erhebt Rasmus Wittekind Einwände gegen die systematische Erstreitung von Gerichtsurteilen im Bereich des Klimaschutzes. In der sogenannten strategischen Prozessführung werden systematisch Klagen oder Verfassungsbeschwerden eingelegt, die das Gericht mit einem grundsätzlichen Rechtsproblem konfrontieren, das für die Lösung weiterer Fälle von Bedeutung ist. So versucht die Klägerschaft gezielt Gerichtsurteile zu erwirken, die eine übergreifende Rechtsauffassung etablieren, mit der politische Ziele der Klägerschaft durchgesetzt werden sollen.
Wittekind argumentiert, dass diese Vorgehensweise Gerichte zwingt, unzulässigerweise politische Entscheidungen zu treffen. Daraus folgt, dass eigentlich politische Entscheidungen dem demokratischen Diskurs entzogen werden, da die gerichtliche Entscheidungsfindung nicht in einem gesamtgesellschaftlichen Prozess ausgehandelt wird. Schließlich verweist Wittekind auf das Abhängigkeitsverhältnis großer Teile der Bevölkerung von professionalisierten Rechtsgelehrten, ohne die die meisten kaum Zugang zum Rechtssystem haben.
Zur Unterstützung seiner Punkte verweist Wittekind exemplarisch auf eine Reihe zivilrechtlicher Unterlassungsklagen gegen Automobilkonzerne, die sich auf den 2021 erwirkten Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts stützen. In dieser Entscheidung stellte das Gericht seinerzeit eine Grundrechtsverletzung durch den Staat aufgrund unzureichender Maßnahmen im damals geltenden Klimaschutzgesetz fest. Die Kläger beabsichtigten, die Produktion von Verbrennungsmotoren gerichtlich einstellen zu lassen, indem sie auf Basis der im Klimabeschluss festgestellten Grundrechtsverletzung zivilrechtliche Unterlassungsansprüche gegen die Automobilhersteller durchsetzen wollten.
Anders als von Wittekind argumentiert, führen solche politisch motivierten Klagen in Deutschland nicht zu einem problematischen Demokratiedefizit, und zwar aus drei Gründen:
Gerichtsurteile realisieren grundsätzlich den politischen Willen
Zunächst ist das grundlegende Prinzip der Rechtsprechung lediglich die Anwendung des geltenden Rechts. Obwohl die Klägerschaft durchaus das strategische Ziel verfolgen kann, präzedenzartige Grundsatzentscheidungen zu erwirken, ist diese Motivation für das Gericht und seine Entscheidungen irrelevant. Das Gericht prüft in der überwiegenden Mehrheit der Fälle nur, ob der demokratisch legitimierte Gesetzestext der Klägerschaft in einer spezifischen Fallkonstellation einen Rechtsanspruch zuspricht oder nicht. Dabei ist die Evaluation der geltenden Rechtslage völlig unabhängig von der strategischen Gesinnung der Klägerschaft.
Der Appell Wittekinds, auf das Einklagen des eigenen Rechts zu verzichten und stattdessen auf einen bisher untätigen politischen Prozess zu hoffen, ist schlicht realitätsfern.
Während nach diesem Grundprinzip die meisten Gerichtsentscheidungen einem demokratisch legitimierten Willen erst praktische Wirksamkeit verleihen, ergehen in der Tat viele Grundsatzentscheidungen in Bereichen, in denen sich ein gesetzgeberischer Wille noch nicht manifestiert hat. Dies kann einerseits den Grund haben, dass der Gesetzgeber sich willentlich für eine nähere Ausgestaltung bestimmter Normen durch die Gerichte entschieden hat. Während dies grundsätzlich erst einmal eine demokratisch legitimierte Entscheidung darstellt, wird dieses Vorgehen dann problematisch, wenn sich die Politik auf diese Weise vor unbeliebten Entscheidungen zu drücken versucht. Hier liegt das Problem des dadurch entstehenden Demokratiedefizits jedoch nicht darin, dass sich Bürgerinnen und Bürger durch politisch motivierte Klagen rechtliche Abhilfe verschaffen und damit mutmaßlich Gerichte instrumentalisieren. Im Gegenteil müssen Betroffene sich in diesen Fällen solcher Klagen bedienen, da die Politik im Falle gewollter Regelungslücken nur diesen Ausweg zulässt.
Der Appell Wittekinds, auf das Einklagen des eigenen Rechts zu verzichten und stattdessen auf einen bisher untätigen politischen Prozess zu hoffen ist schlicht zu realitätsfern, um der Demokratie zu höherer Legitimation zu verhelfen. Allenfalls sollte sich hier der Appell an politische Entscheidungsträger richten, intensivere Überzeugungsarbeit zu betreiben, um dem Volk den Sinn und Zweck eigener unbeliebter politischer Entscheidungen zu vermitteln.
Rechtsfortsetzung geschieht im Lichte des gesetzgeberischen Willens
Daneben gibt es auch Bereiche, die der Gesetzgeber unwillentlich nicht reguliert hat. Hier erfüllt die Rechtsprechung ihre Funktion, Gesetzeslücken im Lichte der bestehenden Gesetze zu ergänzen. Dabei entsteht in der Tat eine Situation, in der die Gerichte dem Gesetzgeber vorweggreifen müssen.
Anders als Wittekind argumentiert, treffen die Gerichte hier jedoch keine politischen, also von einem inhärenten Gestaltungswillen getragene und auf den ideologischen Werten eigener Überzeugungen basierte Entscheidungen. Im Gegenteil stellen die Gerichte große Anstrengungen an, dort, wo es an gesetzgeberischen Normen mangelt, den mutmaßlichen Willen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zu ergründen. Sie orientieren sich in ihren Entscheidungen an Wertungen und Anschauungen, die sie zuvor im Grundgesetz oder einer Gesamtschau einfachgesetzlicher Regelungen festgestellt haben und bewegen sich so eng am gesetzgeberischen Willen wie eben möglich ohne eine eigene politische Agenda zu verfolgen. Hieraus ergibt sich zwar ein schwächerer, aber dennoch vorhandener Konnex zwischen dem ergangenen Grundsatzurteil und dem demokratisch legitimierten Willen des Gesetzgebers. Eine eigenständige politische Betätigung erfolgt durch die Gerichte gerade nicht, sondern sie erfüllen eine legitime und notwendige Funktion im Rahmen des Rechtsstaats, nämlich die Schaffung von Rechtssicherheit.
So stellte auch das Landesgericht München in der von Wittekind angeführten Unterlassungsklage der Deutschen Umwelthilfe gegen BMW fest, dass der von der Umwelthilfe geforderte Unterlassungsanspruch trotz des „Klimabeschlusses“ gerade nicht aus dem Gesetz hervorgeht. Es führte aus, dass BMW sich in der Produktion an alle bestehenden Gesetze halte und daher nicht die vom Gesetzgeber vorausgesetzte „rechtswidrige Rechtsgutsverletzung“ begeht. Daran zeigt sich, dass der Verantwortungshorizont des Automobilherstellers vom Gericht lediglich auf Grundlage der geltenden Rechtsnormen und ohne den Einfluss einer dem Gericht eigenen politischen Haltung entschieden wurde.
Der Gesetzgeber kann jederzeit das Recht bestimmen
Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass es in der Realität keine Graubereiche gibt. So gibt es Bereiche, in denen die richterliche Rechtsfortbildung durchaus einen stark gestalterischen und politischen Charakter hat und sich aufgrund fehlender Gesetze nur noch sehr abstrakt auf einen demokratisch legitimierten Willen bezieht. Auch gibt es qualitative Unterschiede zwischen dem einfachen und dem Verfassungsrecht. So sind die Normen des Grundgesetzes besonders deutungsoffen, sodass das BVerfG durch die Kombination und Weiterentwicklung bestehender Rechtsnormen neue Rechte formuliert. Doch selbst dort sind gerichtliche Entscheidungen dem politischen Willen nicht entzogen. Der Gesetzgeber kann sich die gegenständliche Materie jederzeit zu eigen machen und legislative Entscheidung auch entgegen den Urteilssprüchen bestehender Gerichtsentscheidungen treffen. Würde ein höchstes Gericht, eine Entscheidung treffen, die dem demokratisch legitimierten Willen entgegenläuft, so wäre der Gesetzgeber jederzeit in der Lage, das Gericht durch eine Gesetzesänderung an seinen tatsächlichen Willen zu binden.
Es gibt somit auch bei Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kein Primat des juristischen Urteils über die politische Entscheidung – im Gegenteil. Dies wird auch nicht dadurch beeinträchtigt, dass Grundgesetznormen vom Bundestag und Bundesrat nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden können. Im Gegenteil fordert der verfassungsgebende Gesetzgeber eine besonders hohe demokratische Legitimierung, um auf die in der Verfassung verankerten Werte zuzugreifen. Insbesondere Grundgesetznormen, die in der jüngeren Vergangenheit verabschiedeten wurden, sind damit umso mehr demokratisch legitimiert. Das gilt auch für den Art. 20a GG, in dem 1994 das Staatsziel des Schutzes natürlicher Lebensgrundlagen auch künftiger Generationen normiert wurde und der als Grundlage des von Wittekind angeführten Beispiel des Klimabeschlusses diente.
Demokratische Legitimität des Verfassungsrechts
Sicherlich kann argumentiert werden, dass die demokratische Legitimation des Grundgesetzes eingeschränkt sei, da seine Schaffung auch von Organen der westlichen Besatzungsmächte abhing, die nicht durch das deutsche Volk demokratisch legitimiert waren. Allerdings wurde die Verfassungsgebung nach wie vor durch einen demokratisch legitimierten parlamentarischen Rat durchgeführt. Auch bestand nach der deutschen Wiedervereinigung unter den demokratisch legitimierten Volksvertretern politische Einigung zur Beibehaltung des Grundgesetzes. So sollte ein demokratisches Defizit der im Grundgesetz verankerten Normen und Werte, auf die sich verfassungsgerichtliche Urteile beziehen, nicht ohne Weiteres angenommen werden.
Schließlich existieren auch in der Verfassung demokratische Graubereiche. So könnte durchaus kritisiert werden, dass das Grundgesetz mit der sog. „Ewigkeitsklausel“ in Art. 1, 20 und 79 Abs. 3 GG unveränderliche Grundsätze festgelegt hat, die dem demokratischen Prozess in der Tat entzogen sind. Dennoch rechtfertigt diese Normenreihe nicht die Annahme einer demokratisch illegitimen Instrumentalisierung deutscher Gerichte durch strategische Klagen im Bereich des Klimaschutzes, insbesondere da gerade diese Normenkette die Unveränderlichkeit der demokratischen Staatsform in Deutschland garantiert.
Naturwissenschaftliche Gutachten sind keine undemokratischen Entscheidungsgrundlagen
Auch die Hinzuziehung naturwissenschaftlicher Gutachten in Gerichtsprozessen begründet, anders als von Wittekind dargelegt, kein grundlegendes Demokratiedefizit. Die Entscheidungsgrundlage des Gerichts ist auch hier im Grundsatz die Anwendung oder Auslegung demokratisch legitimierter Gesetze. Gleichzeitig ist es in vielen Fällen notwendig, wissenschaftliche Erkenntnisse in die gerichtlichen Abwägungen einzubeziehen. So muss z.B. ein naturwissenschaftliches Gutachten beurteilen, ob und in welchem Maße beispielsweise eine Baumaßnahme gesetzlich festgelegte Schutzgüter wie Boden, Wasser oder biologische Vielfalt beeinträchtigt. Trotzdem treffen die Gerichte ihre Urteile auch in diesen Fällen nicht allein aufgrund dieser naturwissenschaftlichen – oder gar einer eigenen – Prognose. Das Gutachten liefert nur die notwendige Entscheidungsgrundlage, auf der das Gericht die Schutzgüter so miteinander abwägt, wie es der Gesetzgeber vorgesehen hat.
So ist die von Wittekind angeführte Klage der Umwelthilfe gegen BMW gerade deswegen gescheitert, weil die Richter feststellten, dass BMW seine Fahrzeuge im Einklang mit den bestehenden Gesetzen produziert, obwohl der Konzern nach naturwissenschaftlicher Beurteilung zum Anstieg der Treibhaugasemissionen beiträgt. Die Gerichtsentscheidung ging damit auf die vom Gesetzgeber vorgesehene Interessenabwägung zurück und nicht auf einen naturwissenschaftlich festgestellten Wert.
Das Demokratiedefizit beginnt noch vor dem Recht
Als letztes Argument wird vorgebracht, dass die juristische Prozessführung und Sprache nur einer geschulten Elite zugänglich ist, womit die breite Allgemeinheit von juristischen Vorgängen ausgeschlossen ist. Einen Zugang findet der Großteil der Bürger nur über eine professionalisierte Repräsentation, was das Prinzip der Gleichheit ausheble.
Die bestehenden Barrieren, sich in juristische Prozesse einzubringen, sind in der Tat ein rechtsstaatliches Defizit. Dieses Problem beginnt jedoch schon früher als erst im Juristischen. Schon die Gesetze, die im politischen demokratischen Prozess entstehen, sind für die wenigsten verständlich. Politische Debatten sowie der Gesetzgebungsprozess an sich sind stellenweise so technisch und opak, dass die demokratische Willensbildung vielen Menschen unzugänglich bleibt. Die umso kompliziertere rechtliche Anwendung der daraus entstehenden Gesetze ist nur eine Fortsetzung desselben Umstands. Während das Problem für viele Menschen selbst im Alltäglichen spürbar ist, sind Lösungen ungleich schwerer zu finden. So liegt es vielleicht in der Natur einer komplexer werdenden Gesellschaft, zunehmend komplexere Sachverhalte mit immer komplizierteren Regulierungen erfassen zu müssen und ist damit letztlich ein Fluch des Fortschritts an sich.
Fazit – Politische Prozessführung gehört dazu!
Weil die Politik mit begrenzten Ressourcen operiert und nicht die Kapazitäten hat, jeder gesellschaftlichen Entwicklung und jedem denkbaren Einzelfall regulatorisch zuvorzukommen, entstehen Räume, in der Entscheidungen aufgrund des rein mutmaßlichen Willens des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ergehen müssen. Es ist Teil des Rechtsstaats, dass auch in nicht durchregulierten Bereichen auf der Grundlage der bisher bestehenden Normen Recht gesprochen wird. Zwar sind diese Entscheidungen demokratisch nicht im selben Maße legitimiert wie dort, wo die Rechtslage eindeutig ist. Allerdings kann aufgrund dessen nicht von einem Demokratiedefizit gesprochen werden, das zu Entpolitisierungs- und Anerkennungsproblemen führt. Vielmehr ist es gerade für eine funktionierende Demokratie notwendig, dass die Rechte, die der Gesetzgeber seinen Bürgern und Bürgerinnen zuspricht, auch praktisch anwendbar sind und gerichtlich durchgesetzt werden können.
Darüber hinaus erfüllen die Gerichte in den Bereichen, in denen sie das Grundgesetz freier und wertender auslegen ebenfalls eine wichtige demokratische Funktion, namentlich die des Minderheitenschutzes vor der demokratischen Mehrheit. Damit sind auch die Teile der Rechtsprechung, die sich weniger auf eindeutig legitimierte Gesetzestexte, sondern mehr auf grundlegende Werte des Grundgesetzes beziehen, eine zentrale Säule des demokratischen Rechtsstaats, die zur Demokratie beiträgt. Diese lediglich aufgrund politischer Motivationen einzelner Klägerschaften per se als Ursache für eine Aushöhlung der Demokratie verantwortlich zu machen delegitimiert die Judikative und hält das Brennglas über ein Problem, das so in Deutschland nicht besteht. Stattdessen lenkt die Debatte von viel realeren Problemen der deutschen Demokratie ab, wie z.B. der Radikalisierung des Diskurses und politischer Positionen auf der einen und einer zunehmenden Politikverdrossenheit des Wahlvolkes auf der anderen Seite. So hat schließlich auch der angeführte Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts noch nicht dazu geführt, dass die darauf basierenden zivilrechtlichen Unterlassungsklagen gegen Automobilhersteller zugunsten der Klägerschaft entschieden wurden. Der Grund hierfür ist simpel: Das Gesetz gab die Rechtsfolge, die die Klägerschaft politisch erstreiten wollte, schlicht nicht her.
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